Mattscheibe – das Ende der Fernsehkultur

Inneneinsicht gestern und heute

Bevor uns Jürgen Bertram nostalgisch ins Schlaraffenland eines aufgeklärten Nachkriegs-Journalismus unter Anleitung britischer Befreier entführt – Inneneinsicht in Betriebsklima und Presse-Ethos beim NDR nach der sogenannten Stunde Null, Mai 1945, gibt – begründet er, warum er in seinem Buch „Mattscheibe – Ende der Fernsehkultur“ derzeit als Kritiker agiert. Erklärt, wieso er sich berufen fühlt, ausgerechnet jenem Sender, der ihn als Journalisten und Asien-Korrespondenten gefördert hat, die Leviten zu lesen. Und zwar trotz – oder vielmehr sogar gerade wegen – ­seiner großen Dankbarkeit gegenüber dem zunächst sehr demokratisch geprägten Stil der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt, der radikal mit der unseligen Propaganda-Tradition der Nationalsozialisten gebrochen habe. Weil das von ihm als erhaltenswert erlebte öffentlich-rechtliche Rundfunksystem nicht vor die Hunde gehen soll.

Dann werden wir geneigten Leserinnen und Leser vom Fach, die wir uns meist alltäglich in den Redaktionen wegen alberner Formalien, Absurditäten und Profilierungseifer streiten, konfrontiert mit jener wunderbaren Historie, als Journalisten sich offenbar noch täglich über wesentliche Grundsätze der Pressefreiheit austauschten. Mit Zeiten, als Vorgesetzte sogar „Widerworte“ gegen sich selbst noch als Courage und Charakterstärke werteten – nicht etwa wie heutzutage zumeist üblich als mangelnde Kooperativität eines Mitarbeiters. Als es en Vogue gewesen sein soll, Partei „für den Bürger“ und damit auch Risiken auf sich zu nehmen – nicht etwa möglichst mit vielen Entscheidern an den Schaltstellen der Politik und Wirtschaft per Du zu sein. Zeiten, in denen es als Ehre galt, sich als Kritiker und als „links“ beschimpfen zu lassen – und nicht mal eben nebenbei noch für Gut Wetter bei Werbetreibenden zu sorgen. Ob diese Zeiten nun wirklich durchgängig so glorreich gewesen sind oder nur in Bertrams Erinnerung – und einzig im Vergleich zum heutigen Verfall journalistischer Moral – derart erglänzen, sei einmal dahingestellt.
In jedem Fall gibt Bertram interessante Beispiele journalistischer Wehrhaftigkeit zum Besten. Etwa die legendäre Geschichte des NDR-Reporters Jürgen Roland: Dieser stellte fest, dass vor einer Hamburger Behörde lange Schlangen frierender Bürger warten mussten. Als es ihm nicht gelang, zum Amtsvorsteher vorzudringen, und nach dem Grund zu fragen, rief der Reporter die Feuerwehr. Mit der Feuerwehrleiter habe er sich vor das Fenster des verantwortlichen Beamten befördern lassen. Im folgenden habe er diesen mit eingeschaltetem Tonbandgerät interviewt, warum Bittsteller so arrogant behandelt werden. Nun wäre derartiges Vorgehen heute kaum denkbar. Schon allein deshalb ist die His­torie der einstmals vom Kadavergehorsam zur demokratischen Respektlosigkeit erzogenen Journalisten lehrreich und lesenswert. Dass ein ebenso bitterer wie berechtigter Verriss des modernen Fernsehjournalismus nach solchen Wertmaßstäben in dieser spannenden Lektüre folgt, ist nur logisch.

„Mattscheibe – Das Ende der Fernsehkultur“

von Jürgen Bertram
S. Fischer Verlag GmbH Frankfurt am Main
Januar 2006, 240 Seiten
8.95 Euro

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Nicaraguas bedrohte Medien

Die Diktatur des nicaraguanischen Präsidentenpaars Daniel Ortega und Rocio Murillo hat in den letzten Jahren immer mehr Journalist*innen ins Exil getrieben. Unter erschwerten Bedingungen berichten Menschen wie Lucía Pineda vom Nachrichtenkanal "100% Noticias" oder Wendy Quintero nun aus dem Ausland. Für diese Arbeit nehmen sie stellvertretend für viele andere am 26. November 2024 den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung entgegen.
mehr »

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »

Buchtipp: Fotografieren, was ist

Einfacher und präziser, als mit den Worten „Fotografieren, was ist“, lässt sich das Grundprinzip bildjournalistischen Arbeit wohl kaum erfassen. Ebenso treffend ist die Entscheidung des Göttinger Steidl-Verlags, einem Fotobuch über das Werk des deutschen Reportagefotografen und Bildjournalisten Dirk Reinartz den selben Titel zu geben. Für den Band wurden Einzelbilder und Bildstrecken zum Teil neu zusammengestellt. Ein eindrucksvolles bildjournalistisches Dokument ist entstanden.
mehr »

Öffentlichkeit ohne Journalismus

Schwindende Titel, schrumpfende Redaktionen, immer geringere Abonnentenzahlen – dass gerade der Lokaljournalismus vielerorts unter Druck steht, ist nicht neu. Doch was bedeutet das für die lokale Öffentlichkeit, die inzwischen von vielen selbstbewussten Medien-Akteuren mitgestaltet wird? Eine aktuelle Studie der Otto-Brenner-Stiftung beschäftigt sich mit genau dieser Frage.
mehr »