Seit Monaten ist es das beherrschende innenpolitische Thema in den Medien. Die Flüchtlingsdebatte dominiert Schlagzeilen, Nachrichten und Talkshows. Dabei folgt die Berichterstattung der sich verändernden Stimmung im Land und verstärkt sie. Nicht immer wird die notwendige Balance zwischen unreflektierter „Willkommenskultur” und vorurteilsgeladenem Alarmismus gefunden.
Anfangs überwogen Berichte über Angriffe auf geflüchtete Menschen und die Angriffe rechtsradikaler und fremdenfeindlicher Gruppen auf ihre Unterkünfte. Es folgte die Phase, in der viele Medien vor allem beeindruckende Manifestationen der „Willkommenskultur” publizierten. Spätestens mit der Abbildung des toten Aylan Kurdi am Strand von Bodrum verwandelte sich der größte Teil bundesdeutscher Medien-Berichterstattung in eine Art „Sommermärchen revisited”: Plötzlich wetteiferten Redaktionen darum, auf möglichst empathische Weise Flüchtlingsschicksale in Wort und Bild zu übermitteln. Deutsche Medien berauschten sich an der geradezu weltmeisterlichen Hilfsbereitschaft der Deutschen. Der berühmte Merkel-Satz „Wir schaffen das” markierte scheinbar eine Wende. Selbst Bild suchte sich als Anwalt der Flüchtlingsbewegung zu profilieren. Das Boulevardblatt brachte eine Doppelseite mit hasserfüllten und menschenverachtenden Facebook-Einträgen samt Gesichtern und Namen der Verfasser. „Bild stellt die Facebook-Hetzer an den Pranger!” schrieb der mittlerweile abgetretene Chefredakteur Kai Diekmann dazu auf Twitter. Ausgerechnet Bild – das Blatt, das vor kurzem noch mit massivem Bashing der „Pleite-Griechen” voll ausgelastet schien. Inzwischen gibt es wieder „einen ganz anderen Spin hin zu so einer Phase, die gekennzeichnet wird durch Berichterstattung über Überforderung, Hilflosigkeit, ein Stück weit auch Eskalation, die mir zumindest Sorge macht”, beobachtet Alice Lanzke von der Amadeu Antonio Stiftung. Für den Umschlag verantwortlich macht sie die Beschleunigung des Medienprozesses. Die Berichterstattung drehe sich immer schneller und die Medien folgten thematisch den Vorgaben der Politik. „Die Politik hat jetzt die Themen geändert und dementsprechend ändert sich jetzt auch die Berichterstattung”, vermutet sie.
Stimmungsumschwung.
Ähnliche Beobachtungen macht auch Fabio Ghelli, der für den „Mediendienst Integration” die bisherige Berichterstattung ausgewertet hat. Noch während des so genannten neuen „Sommermärchens” hätten die Medien sich stark für die Schicksale der betroffenen Menschen interessiert. Und per Faktencheck seien die stark variierenden Zahlen regelmäßig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft worden. Inzwischen hätten sich Bilder verfestigt, die die Flüchtlingsbewegung vor allem mit einer Naturkatastrophe assoziierten. Und somit die Ängste der „besorgten Bürger” bedienten. Jetzt wird mehr und mehr über derartige Stimmungen und über die Auswirkung der so genannten „Flüchtlingswelle” auf die Bevölkerung diskutiert. Mit der Headline „1,5 Millionen Flüchtlinge erwartet – mit Familien könnten es 7 Mio. werden” schaffte auch Bild zeitig wieder die Rückkehr zum gewohnt schreckenverbreitenden Alarmismus. Aber auch die Macher seriöserer Blätter ruderten zurück. Wie etwa Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorzenzo, der Anfang November auf dem Kongress des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger „mehr Ausgewogenheit” in der Berichterstattung anmahnte. Journalisten könnten sehr viel Glaubwürdigkeit einbüßen, wenn sie die Fragen und Sorgen der Bevölkerung nicht ansprächen. Gerade dies sollten sie „nicht Populisten und Hetzern überlassen”, so di Lorenzo.
Wohl wahr. Aber wie könnte Ausgewogenheit bei einem emotional so aufgeladenen Thema wie der Flüchtlingsfrage aussehen? Denn noch etwas prägt den Mediendiskurs über die dramatischen Vorgänge auf den Routen zwischen Afghanistan, Syrien und dem Balkan. Vielen Berichterstattern gelang es nicht mehr, sich als gleichsam unbeteiligte Person kühl-sachlich zu verhalten. Alice Lanzke: „Zum ersten Mal erleben wir in dieser ausgeprägten Art und Weise, dass Journalistinnen und Journalisten über die eigene Haltung zu einem Thema nachdenken, dass reflektiert wird, wie stehe ich eigentlich zu Flüchtlingen? Das Mitleid, das ich vielleicht empfinde, beeinflusst das, wie ich berichterstatte, wie ich schreibe, wie ich spreche?”
„Tagesschau”-Chefredakteur Kai Gniffke sprach sich in seinem Blog für einen sachlichen und unemotionalen Umgang mit dem Thema aus. Es bestehe sonst die Gefahr, dass die „Tagesschau” sich selbst als Beschützer der Flüchtlinge inszeniere. Dies aber wäre „unjournalistisch”. Es sei vielmehr wichtig, alle Aspekte zu beleuchten. „Dazu gehören Demonstrationen, Bürgerwut, rassistische Ausschreitungen. Dazu gehören Konflikte unter den Flüchtlingen. Dazu gehören Polizisten, die in Konfliktsituationen ihre Gesundheit riskieren. Und: Dazu gehört auch das Thema Abschiebung.” Gniffke verteidigte die Abbildung einer Landkarte auf „tagesschau.de”, auf der Projekte präsentiert wurden, die auf die Integration von Flüchtlingen abzielten. Dies sei keine Parteinahme oder ein Verstoß gegen die gebotene Neutralität, sondern gehöre selbstverständlich zum Programmauftrag der ARD. Dabei zeigte sich auch das Erste gelegentlich nicht vor polemischer Zuspitzung gefeit. Als der „Bericht aus Berlin” am 4. Oktober mit einer Bildmontage von Angela Merkel im Tschador aufwartete, war das vermutlich Wasser auf die Mühlen der vielen, die wenige Tage zuvor im ARD-DeutschlandTrend ihre zunehmende Skepsis gegenüber dem Zuzug Hunderttausender Flüchtlinge ausgedrückt hatten. Die verantwortliche Redaktion hielt diese Darstellungsform für „legitim”. Es sei schließlich das Ziel gewesen, „mit dieser Grafik Aufmerksamkeit zu schaffen und zu polarisieren”. Ob es bei dieser Problematik noch künstlicher Anheizung bedarf?
Zwischenbilanz.
Ein gelungenes Beispiel für eine ausgewogene, erkenntnisfördernde Berichterstattung ist die Dokumentation ZDFzeit vom 11. November „Wie viele Flüchtlinge verträgt das Land?” Eine Art Zwischenbilanz zur besten Sendezeit, jenseits des unablässig auf die ZuschauerInnen einprasselnden Feuerwerks von Meinungen, Wertungen und unbelegten Schätzungen täglicher Neuankömmlinge. Einerseits: die gemischten Gefühle der Bewohner eines idyllischen Schwarzwälder Luftkurortes, als plötzlich Busladungen von Flüchtlingen vor einer umfunktionierten ehemaligen Nobelherberge abgeladen werden. Oder Schlägereien unter den auf engstem Raum zusammengelegten Flüchtlingsgruppen in Kassel und Hamburg-Bergedorf. Andererseits: Harte Fakten, mit denen gängige Vorurteile widerlegt werden. Bekommen Flüchtlinge mehr Geld als „Hartzer”? Nein, an die zehn Prozent weniger. Sind die Deutschen schutzlos Kriminellen unter den Einwanderern ausgeliefert? Nein, die Behörden verfügen über ausgefeilte Techniken, um etwa Passfälscher zu entlarven.
Solche und andere Beiträge erfüllen zumindest teilweise die Forderungen, die die Journalistin und Medienwissenschaftlerin Bärbel Röben an eine „inklusive Berichterstattung” stellt. Gemeint ist ein Journalismus, der beiträgt zu einer „inklusiven Gesellschaft mit gleichberechtigter Teilhabe für alle”, einschließlich der „Anerkennung von Vielfalt” und „Abbau von Diskriminierung”. Im Kontext der Flüchtlingsfrage analysiert sie, dass deutsche Politiker und Medien geflüchtete Menschen entlang spezieller Grenzziehungen in „willkommen” und „nicht willkommen” sortieren. Sattsam bekannt ist das Muster der Abgrenzung nach Herkunftsländern: hier die politisch Verfolgten aus Syrien oder Afghanistan, dort die „nur” vor Armut und Diskriminierung Flüchtenden aus den so genannten „sicheren Herkunftsländern”. Erstere sind die Guten, dürfen folgerichtig Asyl beantragen, letzteren gebührt die schnelle Abschiebung. Wobei unter der Wucht der anhaltenden Flüchtlingszahlen für einige Akteure selbst Afghanistan sukzessive zum sicheren Herkunftsland mutiert. Auch Geschlecht und Religion erscheinen als willkommener Exklusionsgrund: Besonders perfide ein journalistischer Beitrag aus dem Philologenverband Sachsen-Anhalt („Eine Immigranteninvasion überschwappt Deutschland…”), in dem scheinheilig die Frage gestellt wurde: „Wie können wir unsere Mädchen im Alter ab 12 Jahren so aufklären, dass sie sich nicht auf ein oberflächliches sexuelles Abenteuer mit sicher oft attraktiven muslimischen Männern einlassen?” Nicht weniger übel das Facebook-Posting des Welt-Kolumnisten Matthias Matussek, der unmittelbar nach den Attentaten von Paris islamistischen Terror und Flüchtlingsbewegung flugs in zwei Seiten derselben Medaille umzumünzen versuchte. Inzwischen ist der „Rechtskatholik” seinen Job los.
Vereinzelt sind Redaktionen dazu übergegangen, sich publizistische Leitlinien für den Umgang mit den Themen Flucht, Migration und Integration zu geben und diese auch an ihr Publikum zu kommunizieren. Aus gutem Grund. So schrieb Christoph Pepper, Chefredakteur des Mindener Tageblatts im MT-Redaktionsblog: „In Zeiten, in denen wir bereits Kündigungen erhalten, weil wir angeblich zu wenig oder zu einseitig über die Folgen der Flüchtlingskrise berichten”, sei auch das ein „Gebot der Transparenz, der wir uns verpflichtet fühlen”. Einen Katalog von 15 Geboten verordneten sich die Zeitungen der Verlagsgruppe Rhein Main VRM (dokumentiert im Magazin Medium 11/15). Darin heißt es: „Stimmungsmache verbietet sich ebenso wie Schönfärberei.” Zu den Geboten zählen unter anderem die Ablehnung jeder Form von Rassismus und Rechtsextremismus, die kontroverse Einordnung und Kommentierung des Themas, die Verpflichtung, Sorgen und Nöte eines großen Teils der Bürger in der Region ernst zu nehmen, der Einsatz für die gesellschaftliche Integration der Zuwanderer.
Alice Lanzke von der Amadeu Antonio Stiftung plädiert dafür, „dass die Betroffenen, also die geflohenen Menschen ins Zentrum gerückt werden und nicht zum Beispiel Täter, wenn es darum geht, dass eine Unterkunft angezündet wurde”. Für eine differenzierte Berichterstattung sei es wichtig, gerade diese Menschen genauer vorzustellen, „mit ihren Sorgen, mit ihren Wünschen und Zielen”. Einige Medien schlagen inzwischen genau diesen Weg ein. Etwa die Rheinische Post in Düsseldorf, die zusammen mit der katholischen Kirche zu einer Diskussionsrunde mit Flüchtlingen und Experten einlud. Unter dem Motto „meet the refugees” berichteten eine Frau aus Sierra Leone und ein Mann aus Syrien über ihre Geschichte. Nach dem erfolgreichen Auftakt sollen weitere Veranstaltungen folgen.