Wie der Nachwuchs für digitalen Journalismus ausgebildet wird
Studierende müssen „verstehen, in welchem digitalen Ökosystem sie veröffentlichen.“ Christina Elmer, Deutschlands erste Professorin für Datenjournalismus, bringt auf den Punkt, was der journalistische Nachwuchs für die Arbeitswelt der Zukunft braucht – bei Recherche, Produktion und Verbreitung. Dabei geht es nicht nur um neue technische Kompetenzen, sondern auch um Reflexion. Mittlerweile gibt es hierzulande vielfältige Ausbildungen für digitalen Journalismus.
Der Datenjournalismus, „anfangs eine Art bunte Spielwiese“, habe sich seit 2010 in den Redaktionen deutlich institutionalisiert, schrieb Mario Haim 2019, damals Juniorprofessor für Datenjournalismus am Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Da die Nachfrage nach datenjournalistisch versiertem Personal gestiegen sei, hätten mehrere Ausbildungsstätten ihre Curricula verändert. So seien in Dortmund und Leipzig eigene Studiengänge mit datenjournalistischen Schwerpunkten und an anderen Standorten wie Hamburg, Mainz oder München regelmäßig entsprechende Seminare angeboten worden.
Pionierin ist das Institut für Journalistik an der TU Dortmund. Holger Wormer, Inhaber der Professur für Wissenschaftsjournalismus, verankerte Datenjournalismus bereits 2007 mit dem Seminar „Computer-Assisted Reporting (CAR)“ in der Lehre. Seit dem Wintersemester 2014 ist „data-driven journalism“ ein Schwerpunkt, der Kompetenzen aus Journalistik, Statistik und Informatik bündelt.
Datenjournalistisches Grundwissen
Christina Elmer, die zum Wintersemester 2021/22 auf die neu geschaffene Professur für Digitalen Journalismus/Datenjournalismus am Dortmunder Journalistik-Institut berufen wurde, berichtet im Gespräch mit M, dass sie Seminare für alle Journalistik-Studierenden anbietet. „Ich würde mir wünschen, dass datenjournalistisches Grundwissen fest im Curriculum verankert ist“, so Elmer. Datenanalyse gehöre zwar in allen Studiengängen zum Lehrplan, aber datenjournalistische Lehrinhalte seien bislang nicht für alle Studierenden verpflichtend. Nicht jede/r müsse programmieren können, aber wissen, wie mit den Informationsquellen umzugehen ist und sie hinterfragen. Weltweit produzierte Inhalte seien einerseits „großartig“, andererseits aber auch häufig „gezielt strategisch eingesetzt“, sodass man schnell „in falsches Fahrwasser geraten“ und gefälschten Videos, Audios sowie Desinformationen aufsitzen könne.
„Recherche im digitalen Raum“ gehöre zur Praxisausbildung in den Lehrredaktionen, die alle Dortmunder Studierenden durchlaufen. Fact Checking auf social media sei abseits von Spezialist*innenteams, wie es sie bei dpa, correctiv, Spiegel oder BR gibt, wichtig für den normalen Redaktionsalltag. Deshalb müssten Rechercheseminare auch immer auf den aktuellen Stand gebracht werden – bezüglich neuer Techniken und Tools, aber auch der Reflexion darüber.
Die Produktion für social media ist inzwischen neben Magazinformaten, Radio, TV und Online ein eigener Schwerpunkt in den Lehrredaktionen der Dortmunder Journalistik. In ihrem Projektseminar „Digitale Formatentwicklung“ wurden mit Blick auf Bedürfnisse unterschiedlicher Zielgruppen ein Newsletter, ein Podcast, ein Videoformat, ein Nachrichtenformat entwickelt, berichtet Elmer. Eine Projektgruppe habe sich mit Blick auf politisch interessierte Studierende in der WG-Küche für einen Stream auf Twitch entschieden. Sie entwickelte eine Diskussionsrunde für junge Leute, die gemeinsam kochen. Um mehr über ihre Zielgruppe zu erfahren und im Dialog mit Nutzer*innen einen Prototyp zu erstellen, waren die Seminarteilnehmenden auf dem Campus, aber auch auf der Kirmes, unterwegs.
Für Studierende als „digital natives“ sei der Umgang mit Internettechnologien eine Selbstverständlichkeit, die oftmals nicht mehr hinterfragt wird. Deshalb liege ihr die Reflexion darüber „besonders am Herzen“, sagt Elmer und berichtet von guten Erfahrungen mit einem digital-philosophischen Kolloquium, in dem „Öffentlichkeit im digitalen Raum“ oder Fragen nach den dortigen „Realitäten“ thematisiert wurden. Es habe rege Diskussionen etwa zu Datenquellen gegeben: Auf welche Infos kann ich mich stützen und welche Daten brauche ich, um meine Recherchefrage zu beantworten? Will man beispielsweise klären, wie sich die regionalen Impfquoten in Deutschland derzeit unterscheiden, sei das mit den Zahlen der Behörden nicht möglich, weil zunächst nur der Ort der Impfung erhoben werde und erst später auch der Wohnort der geimpften Person in die Statistik einfließe.
Austausch mit Profis aus der Praxis
Die Lehrpläne fürs Studium würden im professionellen Austausch zwischen Lehrpersonal und Medienpartner*innen entwickelt, bei denen Volontariate absolviert werden. So bleibe man „am Bedarf des Marktes“ und wisse, „was im Redaktionsalltag gebraucht wird“, erläutert Elmer. Weitere Anregungen gebe es durch Innovationsforschung. Nachdem Datenjournalismus vor 15 Jahren eine solche Neuerung gewesen sei, müsse man das Thema jetzt „mehrdimensional weiterentwickeln“. Es gehe nicht nur um journalistisches Publizieren, sondern auch um Nutzer*innen-zentriertes Arbeiten, Inhalte, Ausspielwege und Monetarisierung.
Fit machen für den Redaktionsalltag, aber mit Blick auf zukünftige Entwicklungen in Medien und Gesellschaft auch Neues erproben – das spiegelt sich vor allem in Lehrplänen von praxisorientierten Journalismus-Studiengängen wie in Dortmund und Leipzig. So wurde 2018 am Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft ein dreijähriger Master-Studiengang Journalismus mit einem interdisziplinären Ausbildungskonzept entwickelt. Die Studierenden erhalten eine grundständige journalistische Ausbildung und erlernen informatikwissenschaftliche Kompetenzen sowie Methoden empirischer Sozialforschung. Im Innovationsprojekt „Journalismus im Digitalen“ sollen sie dann Angebote, Produkte und Formate kreativ ausgestalten. In das Studium ist – wie in Dortmund – ein Volontariat integriert.
Wichtiger Bestandteil des Leipziger Studiengangs ist die „Karl-Bücher-Gastprofessur für die Zukunft des Journalismus“, die alle drei Jahre an zwei Profis aus der Praxis vergeben wird. Im Januar dieses Jahres wurden Alina Fichter (Deutsche Welle) und Lorenz Matzat (AlgorithmWatch) berufen. Fichter freut sich darauf, den Studierenden „einschlägige Methoden zur Entwicklung digitaler Formate“ zu vermitteln und Matzat betont, junge Journalist*innen müssten in „Zeiten der Vielfachkrise“ den Einfluss von Algorithmen auf die öffentliche Debatte und Daten zum Klimawandel verstehen und zeitgemäße Formate einsetzen können.
Noch näher an der Berufspraxis sind die Journalistenschulen in Deutschland, die ihr Curriculum schneller an neue Anforderungen anpassen können. Nach Auskunft der Wilhelmshavener Journalismus-Professorin Eva Nowak war eine Lehrredaktion das Markenzeichen der ältesten Journalistenschule, die bereits 1949 in München ins Leben gerufen wurde. Schulgründer Werner Friedmann hatte das damals neue Ausbildungskonzept aus den USA mitgebracht. Seit 1957 ist das Münchener Institut als „Deutsche Journalistenschule“ bekannt. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Journalistenschulen in unterschiedlicher Trägerschaft, die alle auf die Vermittlung journalistischen Handwerks fokussieren. Elf von ihnen unterzeichneten 2016 die „Charta Journalistenschulen für Qualitätsjournalismus“ und verpflichteten sich zu einer „qualitativ hohen und zeitgemäßen Ausbildung“ mit Standards wie multimedialen Ausbildungskonzepten.
Die Henri-Nannen-Schule in Hamburg gehört dazu. Sie versteht sich als „Old School im Gewand der neuesten Technologien und Entwicklungen“. In der siebenmonatigen Kernphase wird handwerkliches Grundwissen vermittelt, in der anschließenden 17monatigen Vertiefungsphase dominieren Praktika bei verschiedenen Medien. Lehrende sind rund 120 Profis aus der Praxis, die für Zeitungen, Magazine, Rundfunk und Online-Medien arbeiten. Da die Vermittlung neuer Kompetenzen Zeit kostet, wurde die Ausbildung 2019 von 18 auf 24 Monate verlängert.
Innovationsforschung: Newsreel
Für Innovationen in der Journalismusausbildung engagiert sich das Dortmunder Erich-Brost-Institut gemeinsam mit europäischen Partnern im Newsreel-Projekt. Bei der Analyse von Curricula wurden 2018 vier Kompetenzfelder für den Medien-Nachwuchs identifiziert, darunter Datenjournalismus. In Deutschland boten alle sechs analysierten Journalismus-Studiengänge Kurse dazu an.
Im zweiten Newsreel-Projekt, das bis 2024 läuft, geht es um die Vermittlung von Skills in neun Innovationsfeldern. Neben der Sensibilisierung für Demokratie und Berichterstattung über globale Zusammenhänge gehören dazu handwerkliche digitale Techniken. Das sind Storytelling in social media, grafischer Journalismus, Einsatz von Sprachassistenten und Künstlicher Intelligenz, kritischer Umgang mit Roboterjournalismus und Algorithmen sowie Fact Checking, Verifizierung von Informationen und Entlarven von Fake News. Eine große Herausforderung sei der schnelle Wandel in der journalistischen Praxis, auf den Journalismus-Lehrpläne flexibler reagieren müssten.
Unterstützung dafür bietet nun das Newsreel-II-Projekt, das Curricula und E-Learning-Materialien zu den neun Innovationsthemen sowohl für die hochschulgebundene als auch für die außeruniversitäre Journalistenausbildung entwickelt. Pilotkurse starten im Herbst in grundständigen Journalismus-Studiengängen.