Mit Bloggern auf Augenhöhe

Die Interview-Serie der Süddeutschen Zeitung zur „Zukunft der Medien“ fiel kürzlich auf mit kampagnenhaften Titelparolen wie „Google News ist unser Feind“, „Wir werden von Blogs und Gelaber überflutet“, „Der Blogger-Schreck“ oder „Blogger gehen nach dem Copy-and-Paste-Prinzip vor“. Dabei zeichnete sich die Serie durch profunde Interviewpartner, eine breite Perspektive, kluge Interviewer und intelligente Antworten aus. Die Titel drücken daher vor allem redaktionelle Skepsis gegenüber der Bloggerwelt aus, verraten jedoch wenig von der Komplexität der sich sehr dynamisch entwickelnden Blogosphäre. Dabei könnten Journalisten von Bloggern gleich in mehrfacher Hinsicht lernen.


„Diskursivität ist ein Merkmal für guten neuen Journalismus“, sagt Lorenz Lorenz-Meyer, Leiter des Studiengangs „Online-Journalismus“ an der Hochschule Darmstadt. Journalisten entscheiden, welche Debatten öffentlich geführt werden sollen, indem sie Argumente recherchieren und darlegen. Dafür prüfen sie Fakten und recherchieren den Hintergrund von Personen und Organisationen – so gut wie möglich. Das Einhalten bestimmter Verhaltenskodizes gegenüber allen Beteiligten gehört dabei zu den Spielregeln. Das anzustrebende Ergebnis ist eine glaubwürdige, möglichst authentische Berichterstattung.
Erfolgreiche Blogs wie die von Don Alphonso oder Stephan Niggemeier zeichnen sich dadurch aus, dass die Autoren klare Standpunkte einnehmen, Meinung zeigen und Diskussionen anstoßen – und auch das Hinterfragen der eigenen Beiträge zulassen. Die Diskursivität ist somit eine herausragende Eigenschaft dieser Blogs.
Sie wird von entsprechenden Benchmarks aufgegriffen, in dem diese den Vernetzungsgrad abbilden. So bezieht sich etwa die so genannte Technorati-Authority darauf, wie oft Blogs ein anderes Blog verlinken. Weitere Dienste berücksichtigen, wie oft Blog-Beiträge kommentiert werden oder wie oft Leser die Beiträge in Social-Bookmark-Diensten wie Del.icio.us speichern. Verlinkungen und Kommentierungen werden als Ausdruck von Diskursen gewertet.

Ideal auch für Journalisten

Blogs können außerdem regelmäßig und kontinuierlich über Themen berichten, indem sie auch kleine, unspektaku-läre Erkenntnisse und Entwicklungen aufgreifen. Vor allem politische Blogs im angelsächsischen Raum zeichnen sich oftmals dadurch aus, dass sie immer wieder Facetten ein und derselben Geschichte aufgreifen. Diese Blogs bieten damit Raum für eine Art „Reporting Track“, der etwa auch für investigativ arbeitende Journalisten ideal wäre. Ein solcher Platz steht jedoch in den etablierten Zeitungsformaten meistens nicht zur Verfügung. In einem „Reporting Track“ könnten sie kleine Zwischenschritte einer großen Geschichte dokumentieren und über die Veröffentlichung einzelner Details auch die Recherche selbst vorantreiben. Denn oftmals ergeben sich weitere Hinweise erst über Leser bzw. über die Reaktionen von beteiligten Personen und Organisationen.
Wie erfolgreich diese Strategie sein kann, zeigt die Geschichte von Blogger Joshua Marshall. Er verfolgte auf seinem Polit-Blog „Talking Points Memo“ die undurchsichtige Entlassung von 8 der 93 Bundesstaatsanwälten im Jahr 2006. Marshall entdeckte dabei Gemeinsamkeiten zwischen den Absetzungsverfahren in Arkansas und Kalifornien. Für seine hartnäckige Berichterstattung erhielt er kürzlich den „George Polk Award“ für journalistische Beiträge im Justizbereich. Damit befindet der Blogger sich in bester Gesellschaft: Unter anderem hatte bereits kein Geringerer als Reporterlegende Seymour M. Hersh den Preis erhalten. Das Preiskomitee begründete seine Entscheidung damit, dass Marshalls Recherche erst dazu geführt hatte, dass traditionelle Medien den Fall ebenfalls aufgriffen.

Jochen Wegner, Chefredakteur bei „Focus online“, sieht den kompletten Auftritt von „Focus online“ „auf dem Weg zum Blog“ – gemessen an den Features. Was heißt das konkret? Bei „Focus online“ ist das die Möglichkeit, einzelne Artikel zu kommentieren und zu bewerten. Außerdem können sich Leser etwa im Service-Bereich des Ressorts „Finanzen“ mit eigenen Erfahrungen zu Wort melden. Einzelne Fälle werden von der Redaktion aufgegriffen, nachrecherchiert und in einem Artikel präsentiert. Zu jedem Artikel gibt es einen Kasten mit Links zu Quellen im Netz sowie zu eigenen Artikeln.
Über Leserbeiträge in redaktionseigenen Diskussionsforen und Artikelkommentaren wird derzeit heftig unter dem Vorzeichen der Zensur debattiert. Nicht debattiert wird jedoch, wie diese Räume für die journalistische Berichterstattung fruchtbar gemacht werden können. Hier könnten Journalisten von Bloggern lernen. Ein wesentliches Element der Blogosphäre besteht nämlich in der gegenseitigen Verlinkung. Der Link ist so etwas wie die Währung der Netzwerke, da über ihn Aufmerksamkeit generiert wird. Der Wert eines Inhalts entspricht also dem Grad seiner Vernetzung. Was bedeutet dies aber für die Beziehung zwischen Redaktion und Leser? Auf welche Weise kann eine Redaktion die Aufmerksamkeit, die ein Leser ihren Inhalten widmet, zurückzahlen? Und wie kann dies in Form produktiver Feedbackschleifen geschehen?
Die Grundidee des User Generated Content klingt zunächst einfach: Leser stellen ihre eigenen Inhalte auf einer Plattform bereit und erlauben dafür dem Inhaber der Plattform, ihre Inhalte zu verwerten. Dies kann auf verschiedene Weise stattfinden – vom Leserforum, das wie bei „Spiegel online“ oder „ZEIT online“ in das redaktionelle Angebot eingebettet ist, bis zu einem vollautomatisierten Angebot wie „Tausendreporter“, das Themen und Leserinhalte über Bewertungs- und Kategoriensysteme erschließt.
Eine rein technische Betrachtung greift zu kurz: Es genügt nicht, den Lesern Features wie Bewertungsleisten und Kommentarkästchen zu geben. Leser wollen sich, auch abseits der sporadisch auftretenden „Trolle“, nicht nur artikulieren, sondern auch Aufmerksamkeit und Beachtung. Und dies nicht nur von Seiten weiterer Leser wie etwa in Chaträumen oder Foren, sondern auch seitens der Redaktion.

Einbindung der Leser

Einzelne Redaktionen versuchen bereits unter der Rubrik „Leserreporter“ oder „Bürgerjournalismus“ Leser gezielt in die eigenen Produktionsprozesse einzubinden: Die Foto- und Videoplattform „Focus Live“ etwa über Produktionsaufträge wie dem „schönsten Foto vom Oktoberfest“ oder dem „schönsten Fanerlebnis“, „Focus Online“ mit dem Einfordern von Erfahrungsberichten nach dem Motto „Erzählen Sie, welche Erfahrungen Sie mit XY gemacht haben“, das „May-Blog“ von N24 mit dem Einholen von Meinungen zu Themen wie „Ist ein Boykott von Olympia sinnvoll?“ oder Rechercheaufträgen: „Wo und wann gab es Probleme mit YZ?“.
Auch bloggende Journalisten können am Wissen ihrer Leser teilhaben. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier etwa fragte im Rahmen einer Artikelrecherche seine Leser nach Beispielen für gute oder schlechte Forumsdiskussionen und erhielt unter rund 100 Antworten auch einige wertvolle Hinweise für seinen Beitrag. Handelsblatt-Reporter Thomas Knüwer bat seine Twitterfeed-Leser vor einem Interview, ihm Fragen zu schicken – und fühlte sich so für das Gespräch gut präpariert.
Die Leserakzeptanz für die Einbindung ihrer eigenen Inhalte in den redaktionellen Kontext dürfte davon abhängen, wie die Redaktion die Ergebnisse aufgreift und welche Art von Gratifikation sie dem Leser für sein Engagement anbietet. Im Falle von Fotos, die etwa ihren Abdruck in einer Print-Publikation finden, bietet sich neben der Namensnennung ein Preis oder Honorar an. Außerdem könnte man den Fotografen selbst kurz vorstellen. Im Falle von Erfahrungsberichten und Rechercheaufträgen müsste man den Leser namentlich erwähnen, falls er dies wünscht. Auch ist die Art, wie das Thema aufgegriffen wird wichtig: Welche Kritikpunkte, welche Lösungsmöglichkeiten werden thematisiert?
Die Äußerungen der Leser in Diskussionsräumen und Kommentarleisten könnten nicht nur Anlass für Arbeit und Ärger, sondern auch Ausgangspunkt für weitere Recherchen oder Beiträge sein. Die Kommentare könnten auch direkt in die entsprechenden Beiträge eingebunden werden. Würden die Leser aber nicht entsprechend gewürdigt, würden sie sich ausgenutzt fühlen. Ihnen käme eine solche Verwertung unter Umständen sogar parasitär vor.

Link als Aufmerksamkeitswährung

Eine Lösung besteht jedoch nicht unbedingt darin, den Leser monetär zu honorieren. Passender wäre eine Methode, die in der Blogosphäre seit langem üblich und anerkannt ist: Der Link. Die schreibenden Leser sollten in dem Beitrag genannt und möglichst verlinkt werden. Ein solcher leserbezogener „Backlink“ wäre im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie die richtige Währung und sollte nicht nur in einem Beikasten, sondern in den Haupttext integriert werden. Konsequent angewandt und weiterentwickelt könnte hier ein neues journalistisches Format entstehen.
Der Link als Aufmerksamkeitswährung wird auch von Karmasystemen verwendet, die ihn in ein komplexes soziales Regelungssystem einbetten. Sie belohnen Leser nicht nur mit einem Link, sondern auch mit Teilnahmerechten. Der Klassiker ist der News-Aggregationsdienst Slashdot, der bereits 1997 von Geeks für das Sammeln und Bewerten von IT-Nachrichten gegründet wurde.
Slashdot setzt ausschließlich auf Leserhinweise, die Nutzer kommentieren können. Zusätzlich steuert ein Moderationssystem, das die Kommentare bewertet, das Diskussionsklima. Das so genannte Karmasystem berücksichtigt das Nutzerverhalten bei der Vergabe von Beteiligungsrechten – es erteilt gut bewerteten Nutzern mit gutem Karma mehr Rechte als schlecht bewerteten mit schlechtem Karma. Leserkommentare, die von anderen Lesern gut bewertet wurden, sind auf den ersten Blick im Volltext zu sehen. Schlecht bewerteten Kommentaren wird die Aufmerksamkeit entzogen: Sie sind entweder nur gekürzt, oder gar nicht sichtbar und müssen per Link erst „erklickt“ werden. Leser, die mehrfach gut bewertet wurden,können beispielsweise zu Moderatoren aufsteigen oder gar ins Redaktionsteam aufgenommen werden. Ein solches System, das soziales Verhalten über Aufmerksamkeit und Rechtevergabe regelt, haben deutsche Medien in keinem einzigen ihrer Foren implementiert.

Transparenz und Selbstkontrolle

Transparenz ist schließlich angesichts der dauerhaften Versuche von Lobbyisten und „Optimierern“ aller Art, ihren Spin durchzusetzen, nötig. So soll es in den USA üblich sein, scheinbare Whistleblower-Geschichten zunächst in Blogs zu veröffentlichen, um über diesen Umweg die Geschichte in den traditionellen Medien zu lancieren. Dokumentiert wurde das erstmals 2004 anlässlich der Senatswahlen. Aber auch in Deutschland sind aus dem Bereich „Public Relations“ ähnlich gelagerte Fälle von bezahlten Werbebeiträgen in Blogs bekannt.
US-Blogger wie Michael Arrington, der das höchst erfolgreiche Technologie-Blog „Techcrunch“ gegründet hat, versuchen über persönliche „Disclaimer“ bestmögliche Transparenz herzustellen. Sie geben Auskunft über mögliche Interessenskonflikte, indem sie auf ihren Lebenslauf, ihre persönlichen Interessen, ihre geschäftlichen Verbindungen, Public-Relation-Aufträge und Verpflichtungen hinweisen. Es gehört ebenfalls zum guten Ton, die jeweiligen Sponsoren vorzustellen.
In Deutschland hingegen gibt es etliche Startups, die zu Verlagskonzernen gehören, in deren Impressum kein Hinweis darauf zu finden ist, ob sie Bestandteil einer Unternehmensgruppe sind. Auch in Autorenporträts ist es unüblich, auf mögliche Interessenskonflikte hinzuweisen.
Eine weitere Form von transparenter Selbstkontrolle ermöglichen Korrekturblogs. Hier lassen sich redaktionelle Fehler dokumentieren und Richtigstellungen vornehmen. Ein Korrekturblog kann auf Leserkommentare zu redaktionellen Beiträgen reagieren, aber auch von sich aus Errata aufgreifen. Stellen die Leser fest, dass ihre Kritik als berechtigt aufgenommen wird und dass sich die Redaktion sichtbar für bessere Inhalte einsetzt, kann dies reputationsstärkend wirken.
Das Korrekturblog kann aufgrund seiner technischen Eigenheiten wie Trackbacks und Verlinkungen auch als Schnittstelle zur Blogosphäre dienen. Voraussetzung hierfür ist ein tägliches, konsequentes Blog-Monitoring. Die Einrichtung eines zentralen Feedback-Knotens wird angesichts der Diskurse, die sich über mehrere Blogs hinweg entwickeln können, notwendig.
Ein genauer Blick auf die Blogger lohnt sich also auch für Journalisten. Dafür müssen sie nicht unbedingt selbst bloggen, aber bloggen hilft, einige Funktions- und Arbeitsweisen schneller zu erkennen, die für die journalistische Arbeit hilfreich sein können.


Medienblogs

Medienblogger beschäftigen sich meist mit klassischer Medienkritik. Einige wenige aber auch damit, wie sich die Medien durch das Internet verändern. Hier eine Auswahl solcher Blogs in alphabetischer Reihenfolge:

Buzzmachine, das häufig aktualisierte Blog des amerikanischen Journalistikprofessors Jeff Jarvis, der das „Lernen von Google“ propagiert,

Editors Weblog, Gruppenblog des „World Editor Forum“ mit Analysen und Interviews zu Entwicklungen in den Neuen Medien,

Media Shift, Blog von Mark Glaser beim US-Sender PBS mit angeschlossenem Ideenlabor,

Howard Owens, amerikanischer Journalist, der sich intensiv mit der Entwicklung eines „Neuen Journalismus“ auseinandersetzt,

JepBlog, das Blog der Axel-Springer-Akademie greift in Gastbeiträgen neue Entwicklungen auf,

Onlinejournalismus.de, Gruppenblog mit Autoren wie Thomas Mrazek, Fiete Stegers und Fabian Mohr,

Online Journalism Blog, Gruppenblog des englischen Journalistenprofessors Paul Bradshaw,

Online Journalism Review, Blog der Annenberg School for Communication at USC,

Publishing 2.0, das Blog des US-amerikanischen Medienberaters Scott Karp, der einen Social-Bookmark-Dienst für Redaktionen entwickelt hat,

Redaktionelles Wissensmanagement, das Blog von Anton Simons, der als Redakteur bei der Koblenzer Rhein-Zeitung ein redaktionelles Wiki entwickelt hat,

Teaching Online Journalism, Blog der amerikanischen Hochschullehrerin Mindy McAdams mit zahlreichen Fallbeispielen.

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