Deutsch-polnische Journalistinnen auf Recherchetour
Je eine deutsche und eine polnische Journalistin haben beim Tandemprojekt „Blicke über die Oder – Rzut oka za Odre“ des Journalistinnenbundes gemeinsam recherchiert und publiziert. Entstanden ist ein grenzüberschreitendes Netzwerk.
„Ulrike Meitzner hat gepackt wie der Deutsche bei Thomas Mann: Unter dem Schein der Ordnung eines marineblauen Rucksacks verbirgt sich das Chaos, der logistische Reinfall. Der untere Teil des Rucksacks hängt schlaff herunter, während sich der mittlere Teil ausbeult vor Dutzenden von Kleidchen (von den gerade hippen Designerinnen aus Berlins Mini-Schneidereien), er fließt über vor Unterhosen, Socken und flachen Schühchen, die sie Ballerinas nennt.“ So beginnt das Tagebuch der polnischen Journalistin Natalia Ga´nko über die gemeinsame Reise mit Ulrike Meitzner nach Polen. Ulrike ist 33 Jahre alt und noch nie zuvor in der Heimat ihrer Oma, Tanten und Mutter gewesen. 1945 mussten die Frauen der Familie das Gut bei Bromberg, heute Bydgoszcz verlassen und kamen in das Lager von Potulice, ein ehemaliges KZ, in dem zuvor Polinnen und Polen interniert waren.
Ulrike und Natalia kannten sich bis dahin nicht. Als Stipendiatinnen des deutsch-polnischen Journalistinnen-Projekts „Blicke über die Oder – Rzut oka za Odre“ wurden sie ein Tandem, das zunächst nur eins verband: Das Interesse für die Vertreibungen und Schicksale von Deutschen und Polen in der Nachkriegszeit. Sie stürzten sich in ihre Themen unter der Auflage, gemeinsam zu recherchieren und zu publizieren – und zwar zu einer frei gewählten Fragestellung und unter Wahrung einer geschlechtergerechten Perspektive. Außerdem sollten die Tandempartnerinnen ihre Zusammenarbeit dokumentieren.
Die Recherche nach innen und nach außen war für alle Beteiligten neu: „Ich habe zum ersten Mal eine Deutsche von nahem gesehen und gemerkt, dass ich durch Filme und Literatur voller Stereotypen über Deutsche bin“, erzählt Natalia Ga´nko. Leicht amüsiert stellte die 32-Jährige fest, dass sie viel besser als ihre deutsche Kollegin für die Reise gepackt hatte. Mit der gleichen Spannung beobachtete Ulrike Meitzner die Polin: „Wird es uns gelingen, eine universal-menschliche Perspektive einzunehmen?“ Schließlich ist die deutsch-polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts eine nach wie vor unverheilte Wunde. Beispiel dafür ist der deutsch-polnische Verein für Versöhnung in der ehemaligen Lagerstadt Potulice. Er brach in diesem Jahr auseinander, weil jede Gruppe das alleinige Recht auf Leiden für sich beanspruchte.
Schüsse in den Hinterkopf, ertränkte Kinder und Vergewaltigungen – um die Erzählungen ihrer Gesprächspartner und -partnerinnen zu verarbeiten, entwickelten die Journalistinnen ihre eigene Sprache: sie schützten sich selbst mit sarkastischen, nur für sie verständlichen Sprüchen auf Englisch. Aus dem Zufallspaar ist ein Rechercheteam geworden. Ulrike hilft Natalia, die Briefe von deutschen Vertriebenen zu entschlüsseln, die eine Nachbarin auf ihrem Dachboden gefunden hat. Natalia hat Ulrike, die kein Wort Polnisch kann, auf ihrer Reise nach Potulice unterstützt und deren Besuch zu einer Reportage verarbeitet. Noch in diesem Jahr wollen sie das Thema Vertreibung um ein Land erweitern und in die Ukraine reisen.
Nicht immer war die Zusammenarbeit der fünf deutsch-polnischen Tandempaare so inspirierend wie bei Ulrike Meitzner und Natalia Ga´nko. Missverständnisse waren an der Tagesordnung – trotz guter Sprachkenntnisse. Erschwert wurde die inhaltliche Arbeit auch durch unterschiedliche Arbeitsmethoden und mitunter ein anderes journalistisches Selbstverständnis.
Was alle deutsch-polnischen Tandems gelernt haben, ist ein differenzierterer Blick auf das Nachbarland. „Es gibt Menschen, die wirklich keine Perspektive haben“, ist Nicola Schuldt-Baumgardt klar geworden, als sie sich mit Agnieszka Hreczuk auf die Suche nach Unternehmerinnen in im ländlichen Raum machte. Beata Bielecka wiederum hat Erkenntnisse über ihr eigenes Land gewonnen. Sie hat sich mit Margarete Wohlan mit der Frage beschäftigt, ob Geburtsprämien, Mutterschaftsurlaub und Erziehungsgeld tatsächlich eine Auswirkung auf den Kinderwunsch haben. Nicht nur die materielle Situation entscheidet über den Kinderwunsch: Die neuen Reisemöglichkeiten und ein größeres Verantwortungsgefühl seien ebenso wichtige Faktoren geworden, meinen beide Journalistinnen.
Wie sinnvoll eine enge Zusammenarbeit zwischen Kollegen und Kolleginnen angrenzender Länder sein kann, zeigt das Abschlussseminar des Tandem-Projekts im September. Auf Vorschlag einer Stipendiatin fand es im niederschlesischen Wle´n statt. Die Unterkunft war ein Herrenhaus mit Schlossruine, das ein Flame gekauft und renoviert hatte. Er steht beispielhaft für das erwachende Interesse an einer Kulturlandschaft, die wie keine andere in Europa vor Schlössern und Herrenhäusern nur so strotzt. Vor der berauschenden Kulisse des Riesengebirges wurden die entstandenen Filme, Hörfunk- und Printbeiträge lebhaft diskutiert und Ideen für weitere Projekte und Publikationen entwickelt.
Und noch eines haben die Stipendiatinnen aus der Tandemarbeit mitgenommen: Sie fühlen sich sicherer in der Sprache der Kollegin oder haben sich fest vorgenommen, Deutsch oder Polnisch zu lernen.
„Blicke über die Oder“
Das Projekt wurde vom Journalistinnenbund durchgeführt und von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit gefördert, Kooperationspartnerin war die Friedrich-Ebert-Stiftung.
Informationen: www.journalistinnen.de