Mr. Internet beim „Tagesspiegel“

Die Online-Redaktion einer Tageszeitung

Ich schalt mal meinen Kalender ein“, sagt Georg Kainz, als ich mit ihm einen Interviewtermin verarbreden will. „Okay“, denke ich während ich in meinem Ringbuch blättere, „das unterscheidet einen Online-Redakteur von mir.“ Doch elektronische Diaries scheinen gut organisiert zu sein, schon am nächsten Tag treffen wir uns beim Berliner „Tagesspiegel“ im Hinterhof. Die Online-Redaktion ist nicht so leicht zu finden. Durch die Toreinfahrt, über den Hof, um ein anderes Gebäude herum und dann hoch in die dritte Etage – schon räumlich sind die Redaktionen der gedruckten Zeitung und ihrer kleinen elektronischen Schwester ein beträchtliches Stück voneinander entfernt. Kommuniziert wird überwiegend übers Netz – per Telefon und Tastatur.

Eigenständige Einheit im Verlag

Georg Kainz, der Leiter der Online-Abteilung, ist darüber nicht unglücklich: „Wir sind eine eigenständige, unabhängige Einheit im Verlag“, sagt er selbstbewußt. Obschon der „Tagesspiegel“-online bislang nur Geld kostet und noch kaum etwas einbringt, wird diese Selbständigkeit gewährt. Längerfristig muß das online-Produkt sich eigenständig finanzieren (und Gewinne abwerfen), es soll keine Werbemaßnahme für die gedruckte Ausgabe sein. Doch bis dahin dauert es noch ein wenig. Georg Kainz‘ Arbeitstag beginnt mit der Durchsicht der Postmappe – der elektronischen selbstverständlich. Etwa 15 Emails findet er in der Regel morgens in seinem Postfach, nachdem er abends zwischen 20 und 21 Uhr die Redaktion verlassen hat. Überwiegend sind darunter Reaktionen von Lesern und Leserinnen auf die aktuelle Ausgabe. Auch tags-über läuft der größte Teil der internen und externen Kommunikation über die elektronische Post. Nur der Chefredakteur bekommt das Wichtigste per Fax geschickt. „Der hat noch keinen Email-Anschluß“, heißt es verständnisvoll.

Nur ein Journalist im Team

Der „Tagesspiegel“ ist seit dem 23. Juli 1995 im Internet – als erste regionale Tageszeitung, wie der Verlag stolz vermerkt. Georg Kainz macht seinen Job in Berlin seit dem 1. Oktober. Vorher war er in Konstanz für die unterschiedlichen elektronischen Arbeiten mehrerer Regionalzeitungen in der Holtzbrinck-Gruppe zuständig. Als Journalist sieht er sich selbst nicht. Er nennt sich „Medienmacher“. Und tatsächlich hat der studierte Informatiker und Betriebswirtschaftler mit Journalismus eigentlich nichts zu tun. Die „Zeitungsdenke“, wie er es nennt, hat Kainz durch ein Verlagsvolontariat erworben. Die Schwerpunkte seiner Arbeit heute beschreibt er als Mischung aus Produktentwicklung, Marktbeobachtung und Ideenpool. Das hört sich mehr nach Ökonomie und Technik als nach Journalismus an. Entsprechend findet sich in dem gesamten – kleinen – Team der Online-Redaktion nur ein einziger Journalist. Neben einem Marketingfachmann und einem Producer ist Christian Böhme der einzige, der das Recherchieren, Redigieren und Schreiben gelernt hat. Nach dem Studium volontierte er beim „Tagesspiegel“. Die journalistischen Fähigkeiten, die er dabei gelernt hat, spielen bei seiner Arbeit heute kaum mehr eine Rolle. Und über Netze Online-Dienste, Computer und Programme hat er im Volontariat kaum etwas erfahren.

Bisher nur online-Textversion des Printprodukts

Online-Redakteur heißt er jetzt offiziell laut Arbeitsvertrag, auch wenn sich hinter diesem Begriff kein konkretes Berufsbild verbirgt. Mr. Internet nennen ihn die meisten Kollegen, erzählt Böhme, denn vom Internet hat man irgendwie doch schon mal gehört. Auf die Frage, ob er sich heute als Journalist verstehen würde, antwortet er mit einem lang gezogenen „Jjjeiiin“. Eigene Geschichten schreibt er nicht, eher verwaltet er die Texte der anderen. Das Entscheidende für ihn ist es aber, über Konzepte nachzudenken und dem neuen Medium angemessene Angebote für den Nutzer zu entwickeln.

Beim „Tagesspiegel“ spielen dabei die tatsächlich multimedialen Möglichkeiten im Netz keine wesentliche Rolle. Die online-Ausgabe enthält weder Filmsequenzen noch Originaltöne – noch zumindest nicht. Wegen der vergleichsweise langsamen Übertragungsgeschwindigkeit des Internet wäre für die Lektüre am Bildschirm mit solchen Zusatzangeboten übermäßige Geduld erforderlich. Außerdem setzt der „Tagesspiegel“ nicht auf technische Spielereien: „Wir wollen ein Informationsmedium im Internet sein“, betont Georg Kainz. Entsprechend bietet die Homepage der Zeitung Verweise (Links) zu den Ressorts: Leitartikel, Politik, Wirtschaft oder Kultur.

So gesehen ist die online-Ausgabe des „Tagesspiegel“, die abends um 19.30 Uhr „ins Netz gestellt wird“, lediglich eine abgespeckte Version des Printprodukts. Der Online-Redakteur wählt in Absprache mit den Einzelressorts die wichtigsten Artikel aus und plaziert sie auf den vorbereiteten Seiten im HTML-Format1. Die Autorinnen erhalten dafür übrigens keine zusätzliche Honorierung. Schließlich sei das Projekt noch in der Entwicklungsphase, meint Georg Kainz.

Doch für die User bietet die Online-Version noch mehr: Zu einem Bericht über die aktuelle Theaterpremiere lassen sich per Mouseklick Kritiken früherer Inszenierungen hinzuholen. Auf der Suche nach dem Jazzkonzert am Wochenende muß ich nicht endlose Veranstaltungshinweise durchblättern, um schließlich frustriert aufzugeben. Statt dessen führt mich eine Menue-gesteuerte Suche direkt zu meinem Wunschkonzert. Solche Wege möglichst benutzerfreundlich zu gestalten, die Nachfrage der verschiedenen Angebote genau zu beobachten und Entwicklungen anderer Anbieter im Auge zu behalten, das sind Aufgaben der Online-Redaktion. Vom Journalismus scheint das alles weit entfernt.

Stichwort Interaktivität

Aber es gibt auch andere Aspekte: Interaktivität ist das entscheidende Wort, das die beiden Redakteure immer wieder bemühen. Als Beispiel führen sie stolz das „Fusions-Barometer“ vor. Userinnen des „Tagesspiegel“-online können hier per Computer ihre Stimme für oder gegen die Länderfu-sion abgeben. Zwei Tage vor der offiziellen Abstimmung waren 52% für und 48% gegen die Länderehe. In einem vorgefertigten Feedback-Formular können sie zusätzlich ihre Meinung an die Redaktion schicken. Im Prinzip nichts anderes als ein Leserbrief. Aber da der Weg sehr viel einfacher und schneller ist, kommen die Reaktionen spontaner, weniger kunstvoll formuliert und mit geringeren Hemmungen. Eine unmittelbare Rückkopplung, durch die sich mehr über Leserwünsche erfahren läßt. Über dieses Fusions-Barometer wird wiederum im Printprodukt berichtet. Und auch die Rubrik „Interaktiv“, die ursprünglich in der Online-Zeitung eingeführt wurde, ist mittlerweile als regelmäßige Seite ins Blatt übernommen worden. Deutlich wird daran jedoch auch der inflationäre Gebrauch dieses Begriffs, denn natürlich ist diese Seite genauso wenig interaktiv wie jede andere der gedruckten Zeitung.

In dem kleinen Team der Online-Redaktion sind die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Professionen nicht mehr scharf wahrnehmbar. Redaktion, Verlag und Anzeigenverwaltung – diese Funktionen gehen fließend ineinander über. Bei der Entwicklung neuer Angebote denkt Markus Kainz immer mit daran, welche potentiellen Inserenten es dafür geben könnte. Kein Zufall also, daß der „Auto-Spiegel“ zu einem ausgebauten Ressort geworden ist. Und auch Redakteur Christian Böhme hat mit dieser Nähe keine Probleme. Dennoch glaubt er, daß die redaktionelle Unabhängigkeit gewahrt bleibt: „Niemals würden wir wegen eines Anzeigenkunden bestimmte Informationen außen vor lassen.“

Geplant sind virtuelle Diskussionsrunden, chat-groups, bei denen die User in der Redaktionskonferenz „mitreden“ können. Zur Zeit nutzen Böhme und Kainz das Internet für Recherchen über den US-amerikanischen Wahlkampf. Das Netz bietet eine Vielzahl an aktuellen Informationen, die auch der Printredaktion zugute kommen. Um solche Entwicklungen aufzuspüren und Trends wahrzunehmen, tummeln sich die Redakteure täglich mehrere Stunden im Netz. „Das ist wirklich learning by doing“, meint Christian Böhme. Gelernt hat er das alles nämlich nirgendwo. Während seines Volontariats beim „Tagesspiegel“ kam das Wort Internet nicht einmal vor. Anschließend war es eine „Mischung aus Glück, Zufall und Neugierde“, die ihn zum Online-Redakteur werden ließ.


1 HTML: HyperText Markup Language bezeichnet das Format, in dem World Wide Web-Seiten im Internet gestaltet werden.

Die Adresse des „Tagesspiegel“ im Internet: http://www.tagesspiegel-berlin.de/

 

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