Nach Winnenden

Mediale Grenzverletzungen und die eigene Verwundbarkeit

Noch als Tim K. auf der Flucht war, waren die Medien schon vor Ort. Über 200 Kamerateams, in- und ausländische, haben noch Tage und Wochen danach die Kleinstadt Winnenden und die Albertville-Realschule belagert. Auf der Suche nach Tränen, nach Opfern, nach Geschichten. Und vor allem nach dem angeblichen Warum. Dass dabei erst einmal der Täter mehr Aufmerksamkeit bekam als die Opfer, war die erste massive Grenzverletzung. Auf einmal war Tim K., der Außenseiter, wieder ganz im Mittelpunkt – egal ob bei der Bild-Zeitung oder dem Spiegel. Medienkritiker, Psychologen und Kriminologen warnen – die Nachahmungsgefahr sei groß, wenn Täter mit einer derartigen Darstellung auch noch heroisiert werden.
Keine Frage, die Berichterstattung über Winnenden erzürnt immer noch die Gemüter. Es wurden viele schlechte Beispiele publik. Der Presserat hat bislang über 70 Beschwerden vorliegen. Egal, ob Boulevardmedien, aber auch öffentlichrechtliche Sender – auch auf der Opferseite war offenbar vielen vieles recht. Da wurde Jugendlichen Geld zugesteckt, damit sie ihre Betroffenheit noch mal kameragerecht präsentierten, Absperrungen der Polizei wurden missachtet, Bewohner auf Schritt und Tritt penetrant verfolgt, und trotz Verbot auf Begräbnisfeiern gefilmt und fotografiert. In einem Fernsehbeitrag des NDR-Medienmagazins Zapp wird das eindrücklich gezeigt. Und den Fotografen wird unwohl dabei, von den eigenen Kollegen gefilmt zu werden. „Wir machen hier nur unseren Job, wie jeder andere auch“, heißt es da aggressiv. Und man möge doch nicht auch noch dabei gefilmt werden.

Eigenverantwortung hinterfragt

Aber was hat wirklich Nachrichtenwert, was ist Voyeurismus? Ist es journalistische Pflicht, so zu berichten und welche Alternativen kann es dazu geben? Einerseits haben wir Journalisten natürlich die Aufgabe, zu informieren, nah dran zu sein am Geschehen, Wissenswertes zu vermitteln. Doch wenn es um ein plötzliches Ereignis von so großer Tragik und solchen Ausmaßes geht, was sich vor der „eigenen Haustür“ abspielt, dann befällt nicht nur Lokalreporter eine schleichende Ohnmacht. Sie leben wie die Familien der Opfer in diesen Gemeinden, kennen sogar manchmal Opfer oder Täter, sind „plötzlich mittendrin“ und müssen doch ganz professionell den Blick von außen auf das Ereignis richten. Sie sind betroffen und Hilflosigkeit tut sich auf, ob man auch wirklich alles richtig gemacht hat. Und wie man künftig mit so etwas umgehen könnte.
Obwohl vieles bei Winnenden in mediale Schieflage geriet, wurden zuvor selten die eigenen Unzulänglichkeiten so massiv diskutiert. Und reflektiert: Uschi Götz, SWR-Hörfunkkorrespondentin in Stuttgart beispielsweise, stellte sich die viel zu seltene Frage nach der Eigenverantwortung. Was kann man zeigen und vermitteln und was nicht? Sie entschied sich dafür, das Mikrofon nicht auszupacken, sich zurückzuhalten im Umgang mit Betroffenen. „Wir haben die Eltern zunächst außen vorgelassen und uns um Objektivität bemüht.“ Ein Reporter hat auch das Recht zu bestimmen, wie weit er geht, was er sich selbst zumutet und vor allem den Betroffenen. Jenseits jeglichen Redaktionsdrucks.
Tränen sind in Interviews leicht zu provozieren, eine allseits beliebte Frage: „Wie fühlen Sie sich jetzt?“ Oft unbeabsichtigt brechen dann Menschen, die gerade etwas Schlimmes und Lebensbedrohliches erlebt bzw. überlebt haben, zusammen, weil sie unter Traumafolgestörungen leiden. Das emotionale und rationale Gehirn funktioniert dann anders. Journalisten haben zwar gelernt, wie man Prominente und Politiker befragt, nicht aber, wie man mit Menschen umgehen soll, die gerade etwas Schreckliches erlebt haben. Dabei ist die Verantwortung enorm groß. Sich selbst und anderen gegenüber. Schließlich dreht sich ein Großteil der Berichterstattung um traumatische Ereignisse.
Und: Man kann sich auf einen möglichst sensiblen Umgang damit professionell vorbereiten. Der WDR und die ARD.ZDF Medienakademie haben solche Kurse mit speziellen Experten des Dart Centers für Trauma und Journalismus bereits angeboten. Der SWR machte seinen Mitarbeitern, die über Winnenden berichteten, spontan ein Angebot, weil man offen damit umgehen wollte und sich in der Pflicht sah. Auch Winnenden hat dieses Umdenken hervorgerufen. Doch ein systematischer, adäquater Umgang oder regelmäßige Fortbildungen fehlen noch. Und: Journalisten sind auch Menschen. Besonders Tragödien, in denen Kinder betroffen sind, bringen den oder die noch so stets sachlich betonten und nüchternen Krisen- und Auslandsreporter/in an persönliche Grenzen. Für viele Reporter war beispielsweise die Berichterstattung über Beslan vor genau fünf Jahren, bei der bei einem Terrorattentat auf eine Schule hunderte Kinder starben, eine Gratwanderung. Sie waren auf das, was sich dort grausam abspielte, in keinster Weise vorbereitet. Hilflos standen sie bei ihren Live- Berichten neben den Angehörigen vor der Schule. Gregor Sonderegger zum Beispiel, seinerzeit Russlandkorrespondent des Schweizer Fernsehens, hat oft darüber reflektiert. „Das Schlimmste war dabei, meine Rolle zu finden. Sollte ich das Mikrofon halten oder mich um die verletzten Kinder kümmern?“ Bis heute hegt Sonderegger gemischte Gefühle darüber, ob er als Journalist damals richtig gehandelt oder nicht doch noch einiges schlimmer gemacht hatte. Aber der Familienvater weiß auch: Es war seine Pflicht, vor Ort zu sein und zu berichten. Es half ihm, dass viele Menschen in Beslan wollten, dass der Welt dieses Elend gezeigt wird. Und er kehrte später auch zurück, um zu berichten, was aus Beslan geworden ist.

Von Schlagzeilen gezeichnet

Viele Menschen in Winnenden wollen das nicht. Sie werden durch die Art der Berichterstattung, durch das, was die Medien hinterließen, noch mehr verletzt und stigmatisiert. Der Ort, an dem „nichts wieder normal sein wird“ oder „aus dem Tim K stammt“. Winnenden wird von der Tat gezeichnet sein, aber auch von den Schlagzeilen. Dabei wollen Menschen ihr Leben lang nicht immer nur als Opfer wahr genommen werden. Das Leben wird weitergehen. Und auch der Medientross zieht weiter.

Petra Tabeling

ist freie Journalistin in Köln und Koordinatorin des deutschen Dart Centers für Trauma und Journalismus (petra.tabeling@ dartcenter.org)
Das Dart Center fördert die professionelle Weiterbildung für eine sensiblere Berichterstattung über Gewalt und seine Folgen: http://dartcenter.org/german

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