Nachrichtenparadies oder Langweiler

EU-Themen in den Medien: „Nur mit Gottes Hilfe oder durch ein Wunder“

„Brüssel“ gilt in vielen Ländern als Inbegriff der Bürokratie. Doch Brüssel ist auch die Stadt, in der die meisten ausländischen Korrespondentinnen und Korrespondenten akkreditiert sind. Fast 1.150 aus 62 Ländern waren im vergangenen Juni bei den EU-Institutionen angemeldet. Wie die Journalisten in Brüssel die Nachrichtenthemen auswählen und verarbeiten und auf welche Resonanz sie dabei in ihren Heimatredaktionen stoßen, erforschte von 2004 bis 2007 eine Gruppe von Hochschulinstituten aus ganz Europa unter der Leitung des Erich-Brost-­Instituts in Dortmund. Erschienen sind die Bände in der Reihe „Adequate Information Management in Europe AIM“. Das Projekt endete Anfang März mit einer Brüsseler Tagung zur Diskussion der Ergebnisse. 


Die Einstellung der Journalisten zum Arbeitsort Brüssel ist ebenso zwiespältig wie die Haltung vieler Menschen zur EU selbst: Den einen gilt die belgische Hauptstadt als Nachrichtenparadies, den anderen schlicht als langweilig. Manche Journalisten, die zusätzlich zur EU auch für die NATO wie für große Teile Europas zuständig sind, freuen sich darüber, ab und zu die Stadt für spannendere Themen wie die italienischen Wahlen verlassen zu können. Eines aber beklagen alle Korrespon­dentinnen und Redakteure in den Heimatmedien: den riesigen Ausstoß an Pressemitteilungen, mit dem die EU und ihre verschiedenen Institutionen die Journa­listen überschwemmen, deren bürokratische Sprache und Unbrauchbarkeit.

Geringes Feedback und Apathie

Um zu sehen, wie die Journalisten mit diesem Nachrichtenfluss umgehen, wurden im Frühjahr 2005 in Deutschland, Belgien, Frankreich, Finnland, Estland, Litauen, Irland, Italien, Großbritannien, dem Beitrittskandidaten Rumänien und dem Nicht-Mitglied Norwegen ausführ­liche Interviews mit 166 für die EU-Berichterstattung Zuständigen in den Redaktionen von Zeitungen, öffentlich-rechtlichen sowie privaten Radio- und Fernsehsendern geführt, darunter mit Journalisten von FAZ, SZ, WAZ, Rheinischer Post, Bild, ARD, ZDF, RTL, Sat.1, dpa und Spiegel online. Abgerundet wurde dieser Eindruck durch eine Analyse der Medien über einige Wochen.
Im Jahr darauf waren die EU-Korres­pondenten an der Reihe. 147 von ihnen beantworteten die Fragen der Forscher, darunter 47 Korrespondenten und Korres­pondentinnen aus Deutschland. Zusätzlich zu diesen Interviews führten die Medienforscher auch Gespräche mit mehr als der Hälfte der Pressesprecher der 24 EU-Kommissare, mit Presseverantwortlichen bei den EU-Gesandtschaften in den Mitgliedsländern und deren Pendants bei den Gesandschaften der Länder bei der EU. Resümee all dieser Befragungen: EU-Themen haben es schwer in die Medien zu kommen, wie der Stoßseufzer eines belgischen Journalisten belegt: „Nur mit Gottes Hilfe oder durch ein Wunder“ könne er in seinem Sender eine EU-Nachricht gut platzieren.
Dabei gilt generell, dass es die EU-Berichterstatterinnen und -Berichterstatter in den elektronischen Medien schwerer haben als in den Printmedien, in den privaten Sendern noch schwerer als in den öffentlich-rechtlichen. Alle Korrespondenten beklagen ein sehr geringes Feedback aus den Heimatredaktionen sowie eher vage Vorstellungen, was berichtenswert sein könnte. Das gibt den in Brüssel arbeitenden Journalistinnen und Journalisten zwar eine relativ große Freiheit bei der Themenwahl, bedeutet aber oft auch langwieriges Feilschen um Zeilen oder Sendeminuten. Apathie werfen nicht wenige Korrespondenten ihren Heimatredaktionen in Bezug auf die EU vor. Viele Medien zu Hause hätten offenbar noch nicht begriffen, wie sehr der Alltag der Menschen in den Mitgliedsländern bereits heute von den Entscheidungen in Brüssel geprägt wird. Und dies gilt sogar für Norwegen, das zwar schon zweimal in Referenden trotz einer überwiegend befürwortenden Presse und Wirtschaft den Beitritt abgelehnt hat, das aber zur European Economic Area gehört, in der viele Brüsseler Richtlinien ohne große Diskussion übernommen werden.
Diesen Vorwurf, die inzwischen real gewordenen Machtverhältnisse in der europäischen Politik zu verkennen, macht den deutschen Redaktionen auch Wirtschaftsredakteur Wolfgang Mayer, der die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union dju im Leitungsgremium der Europäischen Journalisten Föderation (EJF) vertritt. Mayer ist in Brüssel nicht als Korrespondent, sondern als Lobbyist für journalistische Interessen unterwegs, ­beobachtet aber die Entwicklung genau. „Allgemein haben die Kolleginnen und Kollegen die Bedeutung des Themas in den Redaktionen wohl noch nicht erkannt. Das ergibt sich aus einer Umfrage der EJF, die im Dezember 2006 abgeschlossen wurde. Auf die offene Frage, welche Themen sie bei der Ausbildung für den Beruf für wichtig hielten, nannten nur zwei von 121 europaweit teilnehmenden Journalistinnen und Journalisten das „Wissen über Europa-Angelegenheiten“.
Bei vielen Redakteuren und Korres­pondentinnen sind die EU-Nachrichten eher unbeliebt, da sie als schwierig und komplex, als trocken und langweilig eingestuft werden. Erfahrene Brüsseler sprechen von einer Einarbeitungszeit von gut einem halben Jahr, bis sie sich nicht mehr von der Masse der Pressemitteilungen ­erschlagen fühlten und den Eindruck hatten, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können. Dabei wird die Korrespondenten­tätigkeit auch dadurch ge­gen­über den Heimatre­dak­tionen erschwert, weil sich die Gesetzgebungs­prozesse, die von der EU angestoßen werden, über Jahre hinziehen, bis ihre Auswirkungen in den Mitgliedsländern spürbar sind. „Diese Prozesse in Brüssel zu beschreiben ist wie Farbe beim Trockenwerden zu schildern“, klagt ein Norweger im Interview.

Offene Ohren für Skandale

Auf offene Ohren in den Redaktionen stoßen die Korrespondenten eher, wenn sie Skandale und vor allem den Verdacht der Geldverschwendung zu bieten haben, dann sind sogar eng­lische Medien be­geistert vom EU-Thema. Die innere Weiterentwicklung der EU findet sehr viel weniger Gegenliebe bei den Blattmachern als Verbraucherthemen oder Berichte zur Agrarpolitik, je nach der wirtschaftlichen Struktur des Heimatlands. Insgesamt gilt die EU als ein Thema, das bei Leserinnen und Zuschauern auf wenig Aufmerksamkeit zählen kann. Nicht nur in Großbritannien, dessen Bevölkerung es sogar zu mehr als einem Viertel laut der ständigen Umfrage des Eurobarometers ablehnt, über die EU informiert zu werden, und dessen elektronische Medien und große Zeitungen die Teilnahme an der AIM-Studie verweigert haben. Dafür revanchierte sich AIM mit dem Ausdruck „britisches Kirchturmdenken“.
„Jüngste Leserbefragungen bei deutschen Tageszeitungen haben ergeben, dass das Thema EU auf wenig Interesse stößt. Die Erwähnung der EU in der Überschrift hält viele Leserinnen und Leser offenbar sogar davon ab, den folgenden Artikel zu lesen“, erklärt Wolfgang Mayer. „Dabei hat sich die Berichterstattung aus Brüssel in den letzten Jahren deutlich gewandelt: Es sind nicht mehr nur die vorfahrenden Limousinen mit Ministern darin, auf die sich Beiträge konzentrieren, sondern es ist das Hickhack über Entscheidungen, die Konsequenzen für die Verbraucher haben.“
Im Nachrichtenort Brüssel haben sich im Lauf der Jahre feste Rituale und Hierarchien herausgebildet. Die tägliche Mittags-Pressekonferenz der Europäischen Kommission „bestimmt den Herzschlag der Stadt“, beschreibt es ein französischer Journalist. Zumindest rund um das Palais Berlaymont, dem Sitz der Kommission. Die meisten Berichterstatter sind in der ­direkten Umgebung des Berlaymont angesiedelt. Hier bilden die EU-Mitarbeiter und die EU-Berichterstatter eine eigene Stadt in der Stadt. Die tägliche Konferenz, die vor allem für informelle Kontakte genutzt wird, verstärkt diese Nähe noch. Mancher englische Korrespondent fühlt sich gar an die Atmosphäre eines Internats erinnert.
Gleichzeitig hat dieser Mittagstreff ­gerade für Einzelkämpfer und Neulinge eine wichtige soziale Funktion. Hier müssen sie sich bekannt machen, für ihr Medium präsent sein und sich mit anderen Kollegen zusammenschließen, um eine entsprechende Bedeutung zu erlangen. Denn im Pressekorps an der EU gilt eine doppelte Hierarchie: nach der Größe des Landes und nach der Bedeutung des Mediums. Deshalb arbeiten gerade Vertreter kleiner Länder und Medien in internationalen Netzwerken zusammen und tauschen Informationen mit den Kolleginnen und Kollegen aus, die nicht zur heimatlichen Konkurrenz gehören. Für viele Korrespondentinnen und Korrespondenten zeigt sich hier noch am ehesten der ­Beginn eines europäischen Journalismus, den die meisten aber auf Grund der nationalen Medienstruktur und der verschiedenen Sprachen für eher illusorisch und teilweise auch nicht wünschenswert halten. „Wir Journalisten sind nicht dazu da um die Leute zu europäischen Bürgern zu erziehen“, kommentiert ein belgischer Redakteur trocken.
Als einflussreiches Leitmedium der EU wird einmütig die Financial Times bezeichnet. Nicht wenige Korrespondenten glauben, dass die Kollegen der Financial Times gezielt mit internen Nachrichten gefüttert werden. „Größtes Leck“ und „Lautsprecher der Kommission“ sind nur einige der Ausdrücke, welche die Konkurrenz für den Vorsprung der Financial Times findet. Das bestreiten die Pressesprecher der Kommissare natürlich energisch. Sie betonen, dass sich die Financial Times sechs gut eingearbeitete und spezialisierte Korrespondenten leiste und der Vorsprung daher rühre, dass diese eben die richtigen Fragen stellten. Andererseits geben die Pressesprecher zu, dass es keinen geeigneteren Ort gibt, damit eine Nachricht von allen Korrespondenten und vielen Redaktionen weltweit beachtet wird.

Weißbuch zur Kommunikation

Die Arbeitsbedingungen der vielen überlasteten Einzelkämpfer sind nach ­Ansicht der EU-Presseleute, die häufig aus der Verwaltung kommen, eine Ursache für manche schiefe Berichterstattung: Die Korrespondenten hätten keine Zeit zur Einarbeitung, zur Recherche, seien wenig spezialisiert und verstünden daher die EU-Pressemitteilungen nicht. Allerdings geben die Pressesprecher auch zu, dass ihre Texte in einem permanenten Kampf mit den EU-Juristen entstehen, die zumeist auf ihrem „Eurokratisch“ als einziger Ausdrucksmöglichkeit bestehen.
Nach dem Desaster ihrer Kommunikationspolitik bei den Volksbefragungen zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden will die Europäische Kommission das Ansehen der EU jetzt durch ein Weißbuch zur Kommunikation stärken. Dabei sollen vor allem die EU-Gesandtschaften in den Mitgliedsländern vergrößert werden, um die Beziehungen zu regionalen Medien sowie die direkte ­Information der Bevölkerung auszubauen. Denn die EU beklagt sicher nicht zu Unrecht, dass die nationalen Regierungen sich alle Erfolge selbst ans Revers heften und bei unerfreulichen Angelegenheiten alle Schuld nach Brüssel schieben. Zusätzlich sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pressestellen besser geschult werden, mehr Einblick in die Medienwelt erhalten oder entsprechend einer solchen Vorbildung eingestellt werden. Die Empfänger der vielen Pressemeldungen werden‘s ihnen danken.

Weitere Infos: www.aim-project.net

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