Nicht hinterfragte Wahrheiten

Debattenbeitrag zum Thema „Journalist und Aktivist“ in M 1/2014

Kann ein Journalist auch Aktivist sein? Diese Frage wird seit einiger Zeit sehr kontrovers diskutiert. Auch M griff sie auf. Entzündet hat sich die Diskussion an den Veröffentlichungen des NSA-Materials durch Glenn Greenwald. Hierzulande stößt sie auf breitere Aufmerksamkeit, seit Kai Biermann und Patrick Beuth in Frage stellten, ob Greenwald nach einem Videoauftritt vor dem Chaos Computer Club noch als Journalist bezeichnet werden könnte.


„Greenwald hat“, so Biermann und Beuth in Zeit Online, „in seiner Rede eine Grenze überschritten, als er wir´ sagte statt ´ihr. Er hat sich mit den anwesenden Hackern gemein gemacht, mit den Aktivisten und Bürgerrechtlern. Er sieht sich als einer von ihnen.“ Der Chefredakteur von Zeit Online Jochen Wegner sekundierte etwas pathetisch, aber deutlich: „Journalisten streben wie Wissenschaftler nach Erkenntnis, ja nach Wahrheit.“
Auch wenn dieser große Anspruch nicht immer einzulösen ist, ist er nicht von vorneherein von der Hand zu weisen. Warum ein Medium wie die Zeit mit einer großen liberalen Tradition ausgerechnet anhand der Person Glenn Greenwald die Frage nach dem Verhältnis von Journalismus und Aktivismus aufwirft, ist jedoch verwunderlich. Warum interessiert man sich bei Zeit Online dafür, vor welchem Auditorium ein Journalist als Aktivist auftritt, aber nicht viel mehr dafür, welche Art von Aktivismus dem tagtäglich in vielen unterschiedlichen Medien Gedruckten und Gesendeten zugrunde liegt? Wo ist zum Beispiel das von Jochen Wegner angemahnte Streben nach Wahrheit, wenn im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung vom 16. März zu lesen ist, dass „der Steuer- und Abgabenstaat … immer maßloser [wird]“, obwohl die Einkommensteuersätze, die Steuern auf Zinserträge und die Aufwendungen zur Sozialversicherung im Verhältnis zu den 90er Jahren deutlich zurückgegangen sind? Der Beitragssatz zur Rentenversicherung beispielsweise ist zwei Jahre in Folge gesunken und liegt heute nur minimal höher als in den Jahren vor der Wiedervereinigung. Dennoch ist es inzwischen zu einer so gut wie nicht mehr hinterfragten „Wahrheit“ geworden, dass die Rente immer teurer wird – obwohl sie wesentlich billiger ist als noch vor zehn Jahren. Das lässt sich aus den Statistiken des Statistischen Bundesamtes und der Deutschen Rentenversicherung Bund relativ leicht herauslesen.
Die „Wahrheit“, die in vielen Medien verbreitet wird, ist jedoch eine andere. Diesen und anderen „Erkenntnissen“ über unseren angeblich unbezahlbaren Sozialstaat liegt ebenfalls ein Aktivismus zugrunde, der mit dem Streben nach Erkenntnis und Wahrheit nicht viel zu tun hat. Dieser Aktivismus ist jedoch nicht auf den ersten Blick als ein solcher zu erkennen, da er sich nicht direkt einer Institution, wie im Falle Greenwalds dem Chaos Computer Club, zuordnen lässt. Nicht nur deswegen ist er viel gefährlicher. Denn während Greenwald mit seinen Texten und seinem aktivistischem Einsatz mit offenem Visier für die Erhaltung von Grundrechten kämpft, legen die in vielen Zeitungsredaktionen tätigen Kryptoaktivisten heimlich, still und leise die geistige Grundlage für den Abbau von Grundrechten. Dieser Form von Aktivismus, der seine ideologischen Auftraggeber nicht benennt, sollte viel eher unsere Aufmerksamkeit gelten als einem mutigen Enthüller massenhafter Grundrechtsverletzungen, der hin und wieder über das Ziel hinausschießt und „wir“ statt „ihr“ sagt.

Weitere aktuelle Beiträge

Die unendliche Krise des RBB

Der Schock sitzt nach wie vor tief. „2025 wird ein Schicksalsjahr für den RBB“, so die unfrohe Botschaft von Intendantin Ulrike Demmer Ende Januar auf einer Informationsveranstaltung vor der fassungslosen Belegschaft. Was folgte, war ein radikales Sanierungsprogramm für den Sender. Insgesamt 22 Millionen Euro will die Geschäftsleitung am Personal- und Honoraretat einsparen. Das entspricht 10,2 Prozent der bisherigen Aufwendungen und ziemlich genau 254 Vollzeitstellen.
mehr »

Gleichstellung im Journalismus

Lag vor 10 Jahren der Frauenanteil im Journalismus noch bei knapp über 40 Prozent, sind mittlerweile 44 Prozent der Journalist*innen weiblich. Das hat das Leibniz-Institut für Medienforschung ermittelt. In wenigen Jahren kann man möglicherweise von einem Gleichstand sprechen, was die Anzahl der Journalistinnen betrifft. Doch Frauen verdienen auch in den Medien noch immer weniger als Männer. Politischer und gewerkschaftlicher Druck sind noch immer notwendig.
mehr »

Gute Chance für Technikfans

Welche Fähigkeiten müssen junge Journalist*innen für eine gute Berufszukunft mitbringen? Und was raten Ausbilder*innen, Berufserfahrene und Wissenschaftler*innen zur Vorbereitung auf Berufseinstieg und Volontariat? Das waren die Fragen, die das Online-Forum der Initiative Qualität im Journalismus am 31. März, zu beantworten versuchte. Mit Impulsvorträgen, Barcamps und einer Schlussrunde war es ein Tag mit einer breiten Themenpalette und viel Austausch zwischen Jung und Älter.
mehr »

Danica Bensmail: „Widerstände spornen an“

Danica Bensmail hat am ersten März das Amt der dju-Bundesgeschäftsführung übernommen. Ein Gespräch mit „der Neuen“ über kaltes Wasser, die Bedeutung von Paarhufern für Diversity in den Medien und Treppengeländer. Danica Bensmail ist erst wenige Wochen im Amt – eine kleine Ewigkeit und ein Wimpernschlag zugleich. „Die ersten 48 Stunden waren ein wenig wie der sprichwörtliche Wurf ins kalte Wasser“, sagt Danica und lacht. Aber alles halb so wild, so eine Abkühlung belebe schließlich die Sinne.
mehr »