Viele Dokumentarfilmprojekte brechen zunehmend mit der Vorstellung, dass sie nur mit der Fertigstellung des Filmes erfolgreich beendet sein können. Damit haben sie es in den gängigen Förderstrukturen besonders schwer. Beim diesjährigen Symposium der Dokumentarfilminitiative (dfi) Ende Januar ging es deshalb genau um solche Projekte, die verstärkt die dokumentarische Arbeit selbst in den Blick nehmen, um ihre Produktionsbedingungen und ihre Resonanz.
„Wir müssen mehr über die konkreten Entstehungsräume dokumentarischer Arbeit sprechen“, eröffnete Bettina Braun das dfi-Symposium im Filmhaus Köln. Unter dem Titel „Producing Spaces. Wirkungsräume dokumentarischer Arbeit“ kamen dort am 27. und 28. Januar 2022 Filmemacher*innen, Kurator*innen, Studierende und Dozierende zusammen, um genau das zu tun: Ins Gespräch kommen. Zwei Tage lang ging es darum, die Wirkungsräume dokumentarischer Arbeit aufzuspüren, zu befragen und gemeinsam zu überlegen, welche Räume es noch zu besetzen gilt.
Dokumentarische Arbeit
Aber was ist eigentlich mit „dokumentarischer Arbeit“ gemeint? Mit Blick auf die unterschiedlichen Konferenzbeiträge wohl so einiges. Alle vorgestellten Projekte einte jedoch, dass nicht ein fertiges Produkt – der Film – im Vordergrund steht, sondern die sozialen und politischen Kontexte, in denen das Projekt stattfindet. Konkret wurde das zum Beispiel im Beitrag der Kunstpädagogin und Filmregisseurin Lina Zacher, deren preisgekrönter Dokumentarfilm „Fonja“ (2019) zunächst nicht als Film geplant war. Das Videomaterial aus einem madagassischen Jugendgefängnis ist im Kontext eines Filmworkshops entstanden, für den Workshopleiterin Zacher ein halbes Jahr lang täglich vor Ort war, um den Jugendlichen den Umgang mit der Kamera näherzubringen. Erst später habe sie sich dazu entschieden, aus dem Material einen Film zu montieren, erzählt sie. Auch war sie sich zunächst unsicher, ob der Film überhaupt für die Öffentlichkeit gedacht sei. Schließlich habe sie sich aber – in Absprache mit den Jugendlichen – dazu entschlossen, ihn zu veröffentlichen. Der Film sei insofern besonders, als dass er nicht nur die Welt der Jugendlichen hinter den Gefängnismauern sichtbar macht, sondern die Jugendlichen ihre Geschichte selbst erzählen lässt.
Die Frage danach, wessen Perspektive sichtbar werden soll, hat im Dokumentarfilm eine lange Geschichte. Dass dabei nicht immer der Film selbst im Mittelpunkt stand, ebenfalls. Zumindest wurde das im Beitrag von Gernot Steinweg deutlich. Selbst ehemaliges Mitglied des Filmkollektivs „Cinema Action“ und später Gründer von „Arbeit und Film“, nimmt er das Publikum mit in eine 30-minütige Oral History des politischen Arbeiter*innenfilms. Entstanden in den frühen 1970er Jahren, produzierte „Arbeit und Film“ Dokumentarfilme für und über die Arbeitskämpfe in Betrieben. Die Gruppe verstand ihre Aufgabe darin, „ihre Arbeitskraft in den Dienst der Arbeiter“ zu stellen, so Steinweg: „Es ging darum, das Medium Film zu verstehen und zum Zwecke des Arbeitskampfes einzusetzen. Die Kamera war dabei Teil der Bewegung.“ Tatsächlich spielten die Arbeiter*innenfilme eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Informationen, die Mobilisierung und den Aufbau solidarischer Allianzen innerhalb der Arbeiter*innenschaft. „Arbeit und Film“ tourte mit den Filmen zu Demonstrationen und Kundgebungen und trug mitunter dazu bei, dass Werkschließungen verhindert werden konnten.
Wirkungsraum Archiv
Dass Wirkungsräume dokumentarischer Arbeit auch da zu finden sind, wo mit bereits bestehendem Material gearbeitet wird, stand am zweiten Konferenztag mit einem Schwerpunkt auf Archivarbeit im Fokus. Damit war sowohl die Arbeit mit Archivmaterial in Dokumentarfilmen als auch eine kuratorische Praxis gemeint, die in Archiven nach Filmen forscht und sie der Öffentlichkeit präsentiert. „Producing Spaces“ – wie es der Titel des Symposiums vorschlägt – heißt in diesem Zusammenhang auch, den Blick auf die Lücken und Leerstellen der Filmgeschichte zu richten und danach zu fragen, wer diese Geschichte wie und wo erzählt.
Im Beitrag von Malve Lippmann und Can Sungu wurde besonders deutlich, wie so etwas aussehen kann: Sie stellten ihre Plattform bi’bak (Türkisch: Schau mal) vor, die im September 2020 mit einem „Kino-Experiment“ begonnen hat. Das „Sinema Transtopia“ im Berliner Haus der Statistik widmet sich transnationaler Filmkultur und versteht Kino als sozialen Diskursraum, in dem das gemeinsame Diskutieren ebenso wichtig ist wie die Filme selbst. Lippmann und Sungu plädieren nicht nur für ein transnationales Verständnis von Filmkultur, sondern auch für eine transnationale Archivarbeit und machen es mit „Sinema Transtopia“ vor: Zu sehen gibt es dort kuratierte Film- und Diskursreihen. Darunter „The forgotten Revolution – Iranian Cinema before 1979“ oder „Die fünfte Wand“ mit Archivsichtungen von Fernsehbeiträgen der indisch-deutschen Fernsehjournalistin Navina Sundaram, die zwischen 1973 bis 1983 entstanden sind und sich mit Dekolonisierung, Rassismus und Migrationgeschichte beschäftigen.
„Banden bilden“
Um Zukunft und Gegenwart der dokumentarischen Arbeit drehte sich die große Gesprächsrunde, die den Abschluss der Konferenz bildete. Im Vordergrund stand dabei der Dialog zwischen den anwesenden Lehrenden und Studierenden verschiedener Film- und Kunsthochschulen. Diskutiert wurde u.a. darüber, welches Verständnis von dokumentarischer Arbeit die Filmhochschullandschaft gegenwärtig prägt oder inwiefern die Lehrenden dafür verantwortlich sind, die Studierenden vor dem Markt zu schützen und sie gleichzeitig darauf vorzubereiten. Dem eigenen Anspruch von „Producing Spaces“ verpflichtet, sollte die Abschlussrunde einen sicheren Gesprächsraum bieten und ist also nicht zitierfähig. Verraten lässt sich: So disparat die Konferenzbeiträge, so unterschiedlich auch hier die vertretenen Meinungen. Einigkeit bestand darin, dass die Hochschulen als Orte verstanden werden müssen, an denen sich Netzwerke und Kollektive etablieren – „Banden bilden“ – können entgegen der Vereinzelung in einem Produktionssystem, in dem es insbesondere dokumentarische Arbeiten, die nicht produktorientiert sind, weiterhin besonders schwer haben.