Risse im Schwarz-Weiß-Bild

Unser Autor, der Journalist Alfred Hackensberger, und der Fotograf Olaf Wyludda waren in Syrien unterwegs auf beiden Seiten

Der Flug der Kugel klingt beinahe wie Vogelgezwitscher, das allerdings viel zu schnell vorbeirauscht. Dann der untrügliche trockene Knall des Abschusses, der durch den Schall erst nach Sekundenbruchteilen zu hören ist. Ein Scharfschütze ist mit einem russischen Dragonov-Gewehr am Werk und nützt das Licht der Abenddämmerung. Danach folgen mehrere Kalaschnikowschüsse. An eine Weiterfahrt durch Bab Spa, einem von den Rebellen gehaltenen Stadtteil von Homs, ist nicht mehr zu denken. „Mit den Scharfschützen ist es besser geworden“, erklärt uns Schazine, eine junge Armenierin, die im Büro des Gouverneurs arbeitet. „Früher gab es etwa fünf Tote oder Verwundete, heute sind es nur einer oder zwei pro Tag.“

Homs: Im Hintergrund, angestrahlt von der untergehenden Sonne, das von Rebellen eingerichtete Medienzentrum, in dem zwei Journalisten von Granaten getötet wurden

Die Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) kontrollieren bis heute die Altstadt von Homs und einige daran angrenzende Viertel. Aber sie sind von der syrischen Armee eingeschlossen, abgeschnitten von Nachschub, medizinischer Versorgung, ohne fließend Wasser und Elektrizität, die die Behörden abstellten. Im Rest der drittgrößten syrischen Stadt herrscht Normalität, als gäbe es keinen Krieg. Abends sind die Plätze voll von Menschen, die Geschäfte geöffnet und auf den Straßen ist dichter Verkehr.
Homs wurde von Februar bis April von Regierungstruppen belagert, nachdem die Rebellen die Stadt befreit und zur „Hauptstadt der Revolution“ deklariert hatten. Hunderte von Zivilisten starben in diesen Monaten durch den Beschuss der Syrischen Armee. In den Fokus der Weltöffentlichkeit geriet damals der Stadtteil Baba Amr, eine Hochburg der FSA. Das syrische Aktivistennetzwerk Avaaz hatte einige internationale Journalisten eingeschmuggelt. Über Wochen berichteten sie ausführlich über das „widerliche Abschlachten der eigenen Bevölkerung“ durch Regierungstruppen, wie es die US-Journalistin Marie Colvin in einem ihrer Artikel bezeichnete. Die 56-Jährige konnte ihre couragierte wie gefährliche Arbeit jedoch nicht lange weiter führen. Am 22. Februar schlugen mehrere Granaten in das von den Rebellen eingerichtete Medienzentrum ein. Colvin und der französische Fotograf Remi Ochlik kamen dabei ums Leben, zwei weitere Kollegen wurden verletzt. Bis heute ist unklar, ob der Standort der Journalisten, wie behauptet wurde, tatsächlich gezielt beschossen worden war.
Die tragischen Ereignisse in Homs haben den Blickwinkel entscheidend geprägt, wie man den Bürgerkrieg in Syrien bewertet. Baba Amr galt als letzter untrüglicher Beweis für die Rücksichtslosigkeit und Inhumanität des Regimes in Damaskus. Täter und Opferrollen waren ab dem Februar 2012 endgültig verteilt. Auf der einen Seite der mörderische syrische Staatsterror, auf der anderen Seite die freiheitsliebenden Rebellen, die für Demokratie kämpften. Erst neun Monate später bekam dieses vorherrschende Schwarz-Weiß-Bild durch ein Video ernsthafte Risse und eröffnete den Weg für eine breitere, differenziertere Berichterstattung. Zu sehen ist die Exekution von rund zehn Regierungssoldaten durch Rebellen. Die am Boden liegenden Männer werden brutal getreten und als „Hunde von Assad“ beschimpft, bevor man sie mit einigen Salven hinrichtet. Weltweit wurde ausführlich und entrüstet darüber berichtet. Auch die UN-Menschenrechtskommission meldete sich kurz nach Veröffentlichung des Videos zu Wort und sprach von einem „möglichen Kriegsverbrechen.“ Dabei hätten Medien wie UNO längst Gelegenheit gehabt, mit dem Bild der „guten“ Rebellen aufzuräumen. Bereits im Juli kursierte ein Handyvideo im Internet, das die Ermordung des Shabiha-Chefs, Ali Zeineddine Berri, sowie eines Dutzend seiner Gefolgsleute dokumentiert. Eine Minute lang durchsiebten Kalaschnikowkugeln die Körper der Gefangenen im Hof des Rebellen-Hauptquartiers in Aleppo. „Ja, Berri ist hier getötet worden“, gab FSA-Kommandeur Major Mohammed Hamadi unumwunden in seinem Büro zu. „Schließlich hat er elf unserer Männer getötet.“ Draußen im Hof der ehemaligen Grundschule konnten wir neben der Eingangstreppe noch die Einschusslöcher neben einer fußballspielenden Mickey Mouse an der Wand sehen.
Der Fall Berri und seiner Gefolgsleute ist kein Einzelfall. Im Rebellengebiet im Norden von Aleppo bekamen gefangene Soldaten der syrischen Armee seit Monaten bereits einen „schnellen Flug nach Zypern“. Eine zynische, wie geschmacklose Umschreibung für die Hinrichtung von Menschen. In Aleppo wurde der Leiter einer Polizeistation von FSA-Kämpfern auf offener Strasse exekutiert. Zuerst sprachen die Rebellen im islamischen Schnellverfahren das Urteil: Schuldig. Dann wurde geschossen. In den von der FSA befreiten Gebieten machte man systematisch Jagd auf Unterstützer des Assad-Regimes oder diejenigen, die man dafür hielt. Bei den Verhören wurden sie geschlagen und gefoltert. Im Hauptquartier der Rebellen in Aleppo ertönten jede Nacht die Schmerzensschreie der Gefangenen. Bei Berichten über den syrischen Bürgerkrieg wurden diese Fälle oft ganz ausgelassen oder nur am Rande erwähnt, obwohl einige Journalisten direkt neben dem „Verhörraum“ übernachtet hatten. Wollte man nicht als Miesmacher dastehen, der die arme Opposition diskreditiert, die ums blanke Überleben kämpft? Ließen sich derartige Geschichten, die die vorherrschende Gut-Böse-Dichotomie in Frage stellten, einfach schlecht verkaufen? Oder wollte man die Dinge einfach nicht so sehen, wie sie sind, um seine eigenen Vorstellungen von Revolution und dem Kampf von David gegen Goliath nicht zu zerstören?

Journalisten im Gespräch mit Soldaten der Regierungstruppen in Homs Foto: Olaf Wyludda
Journalisten im Gespräch mit Soldaten der Regierungstruppen in Homs
Foto: Olaf Wyludda

Eine spanische Journalistin reiste wochenlang mit den Rebellen in Syrien. Sie beobachtete das Verhör eines Kollaborateurs, der brutal zusammengeschlagen wurde. Als sie den Ort verlässt, äußert sie selbst Zweifel, dass er überleben wird. Trotzdem bleiben die Rebellen für sie wie Helden, die für die Freiheit kämpfen. Selbst eine salafistische Brigade ist „ganz anders“ als normale Salafisten und „verständnisvoll, freundlich.“ Die Journalistin trägt freiwillig Kopftuch, um das lokale Sentiment nicht zu verletzen. Übrigens, Kopftuchpflicht für Frauen herrscht in Aleppo im Hauptquartier der Rebellen. Im Syrien der Vergangenheit ein unvorstellbarer Vorgang.
Ein anderer Kollege aus Großbritannien, der ebenfalls mit der FSA unterwegs war, stellte nach seiner Rückkehr fest: „Sie haben exekutiert, aber sonst sind sie wirklich sehr nett gewesen.“ Ein Fotograf aus den USA, der zwei Monate in Aleppo verbrachte, hält es nicht für möglich, dass auf Regierungsseite wirklich Menschen stehen könnten. „Das sind doch alles Schlächter.“ Unnötig zu erwähnen, dass man in den Gesichtern der jungen Soldaten der syrischen Armee in Homs oder Aleppo keine Schlächtermentalität entdeckt. Viele wurden vor dem Bürgerkrieg zum Militärdienst eingezogen, haben ihre Familien seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, sind ausgemergelt, haben im Grunde genommen keine Lust auf Krieg und Angst vor dem Tod. Nur sehr wenigen geht der Propagandaruf über die Lippen: „Gott, Syrien, Assad und sonst nichts!“ Aber selbst das nimmt man nur den wenigsten ab.
Austin Tice ist ein besonderer, ein tragischer Fall. Der ehemalige US-Marine fand in Syrien offensichtlich seine persönliche Bestimmung. Zuvor hatte er noch nie einen Artikel geschrieben. Aus dem Bürgerkrieg veröffentlichte er plötzlich für den Mc Clatchy Nachrichtendienst und die Washington Post. „Ich lebe an einem Ort mit Leuten, an dem Leben mehr bedeutet, als an allen anderen Plätzen, an denen ich je gewesen bin“, hatte Tice geschrieben. Mit professionellem Journalismus hat das wenig zu tun. Im August verschwand er in der Nähe von Damaskus von der Bildfläche. Man nimmt an, dass er von den syrischen Behörden verhaftet worden ist. Sein letztes Lebenszeichen war ein Video, das ihn in Händen von Islamisten zeigen soll, aber offensichtlich eine Fälschung ist.
Wie soll man es nennen? Ist es eine Art Stockholm-Syndrom, dem Journalisten unterliegen, die zu lange „embedded“ waren? Angesichts der Umstände wäre es eine plausible Konsequenz. Die Reise mit den Rebellen ist eine Reise der Entbehrungen. Wenig Schlaf, schlechtes Essen, oft kein Strom und Wasser. Unterwegs kann man jederzeit in eine Straßensperre der syrischen Armee geraten und verhaftet werden. Nicht zu vergessen die Lebensgefahr, denn die Begleiter sind ein militärischen Ziel und das nicht nur an der Front. Jederzeit kann ein Unterschlupf für eine Nacht angegriffen werden. Es ist Stress pur und das eigene Leben liegt völlig in der Hand der Rebellen, die einen vorbei an den Checkpoints der syrischen Armee lotsen und noch viel wichtiger – am Ende wieder aus Syrien über die Grenze bringen. Sie sind die besten Freunde eben.
Die Informationen, die man auf Seiten der Rebellen bekommt, sind limitiert. Sie legen darauf Wert, dass man möglichst nur das sieht, was man sehen soll. Nur durch Zufall bekommt man andere Dinge mit, die eigentlich nicht für einen bestimmt sind. Dazu passt die Aussage von Omar Shakir, einem der Hauptorganisatoren des Rebellen-Medienzentrums in Homs, in dem die zwei Journalisten starben. Er gab unumwunden zu, man habe Informationen bewusst „ausgewählt“: So viel Material wie möglich vom Elend der Zivilbevölkerung und so wenig wie möglich von den Kampfaktivitäten der Rebellen an die Medien. „Manchmal muss man einige Nachrichten zurückhalten.“ Eine Haltung, die sich bis heute durchzieht. In Aleppo und am syrischen Grenzübergang Bab al-Salam gibt es mittlerweile eine schwarze Liste für unliebsame Journalisten, denen der Eintritt verwehrt wird. Mehrere Kollegen wurden aus dem Rebellengebiet ausgewiesen. Den libanesischen Fernsehreporter von LBCI, Fidaa Itani, hat man eine Woche lang unter Hausarrest in der Stadt Azaz gestellt. „Weil seine Arbeit nicht passend für den Kurs der syrischen Revolution ist.“ Die Luft wird rauer für Journalisten, nachdem die Rebellen gemerkt haben, die Präsenz der Medien bedeutet nicht mehr wie früher ausnahmslos positive Publicity. Besonders unerwünscht sind Berichte über islamistische Kämpfer auf Seiten der FSA, die in den letzten Monaten vermehrt veröffentlicht wurden.
Die Kontrolle der Presse ist etwas, die das syrische Regime ausübt und man normalerweise nicht mit der Opposition verbindet. Schließlich ist sie für mehr Meinungsfreiheit und Mitspracherecht auf die Straße gegangen. „Sehen sie“, sagte Edmond Dahwash vom Nationalen Koordinationskomitee für demokratischen Wandel in Syrien (NCC), ein Oppositionsbündnis aus über 15 Parteien und unabhängigen Aktivisten. „Wir sind weder für die eine, noch die andere Seite. Beide verhalten sich so, dass man sie ablehnen muss.“ Klar sei: „Die Rebellen sind zwar schlecht, aber das Regime ist schlimmer.“ Nur mit einer Schwarz-Weiß-Schablone, hier die böse Regierung und dort die guten Revolutionäre, werde man dem Bürgerkrieg nicht gerecht. Syrien könnte nur eines retten: „Wir brauchen eine friedliche Lösung.“


Autor und Fotograf

Der freie Journalist Alfred Hackensberger berichtet seit vielen Jahren aus der arabischen Welt für verschiedene Printmedien wie Die Zeit und taz sowie für den Nachrichtensender „Sky News“. Er lebt auf Lanzarote.

Olaf Wyludda fotografierte im Jugoslawien-Krieg, arbeitete 3 Jahre mit Hackensberger zusammen in Beirut, war mit ihm in Libyen und in Syrien unterwegs.

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