Sinkende Perspektiven

Trotz besserer Hilfsmittel weniger Arbeitsmöglichkeiten für blinde Kollegen

Trotz häufig attestierter hervorragender Leistungen und hart erkämpfter Rechte wie zum Beispiel das Benachteiligungsverbot in Artikel 3 des Grundgesetzes und der Konkretisierung dieses Verbotes im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz haben Menschen mit schwersten Behinderungen es immer schwerer qualifizierte Arbeitsmöglichkeiten zu bekommen.

„Darf ich Sie etwas fragen?“ „Ja, bitte.“ „Wie können Sie, ohne zu sehen, als Journalist arbeiten?“ So beginnt sehr oft das Gespräch mit den wenigen blinden Frauen und Männern, die den Journalistenberuf ausüben. Nicht anders ergeht es blinden EDV-Fachleuten, Programmiererinnen oder Programmierern. Die Frage ist verständlich, weil trotz ständiger Öffentlichkeitsarbeit der Selbsthilfeverbände nicht viele über die Bildungs-, Berufs- und Arbeitsmöglichkeiten nichtsehender Menschen Bescheid wissen.
Blinde können seit der Erfindung der aus sechs tastbaren Punkten bestehenden Schrift des erblindeten Franzosen Louis Braille im Jahr 1825 selbstständig schreiben und lesen. Bis der Computer die Schreibmaschine ablöste, schrieben sie darauf mit zehn Fingern Berichte, Briefe, etc. in Normalschrift. Zum Korrigieren brauchten sie freilich die Hilfe Sehender. Software, die den Bildschirm-Inhalt mit einer künstlichen Stimme gut verständlich vorliest oder auf einer nach Louis Braille benannten Zeile unterhalb der PC-Tastatur in Blindenschrift wiedergibt, ermöglicht den Menschen ohne Augenlicht die Benutzung des Computers.
Also können wir blinde Journalistinnen und Journalisten unsere Meldungen, Berichte, Reportagen und Kommentare ohne fremde Hilfe produzieren und auch im Rundfunk ansprechend präsentieren. Kleine Kassettenrecorder machten bis vor wenigen Jahren auch blinden Journalisten Tonaufnahmen möglich. Damit konnten wir Veranstaltungen mitschneiden, Interviews führen und Reportagen machen. Wie die sehenden Kolleginnen und Kollegen überspielten wir mit Unterstützung der Technikerinnen und Techniker in Funkhäusern die Originaltöne, sprachen die Zwischentexte und machten sie fertig zur Sendung. Über Veranstaltungen bis in den späten Abend berichtete ich über das Telefon in die Stenoaufnahmen der Zeitungen und der Nachrichtenagentur dpa. In den aktuellen Informationsprogrammen am frühen Morgen trug ich die Fakten und Ergebnisse im Gespräch vor.
Internet und digitale Technologien haben in den letzten Jahren die journalistische Arbeit grundlegend verändert. Nachrichtenaufnahmen gibt es kaum noch. Technikerinnen und Techniker werden immer mehr eingespart. So muss man Meldungen und Berichte per E-Mail direkt in die Redaktionen schicken. Die Rundfunkanstalten erwarten für die Sendungen auch in den frühesten Morgenstunden fertige Beiträge über die Ereignisse am späten Vorabend und in der Nacht. Das bedeutet, die Reporterinnen und Reporter müssen zu der Veranstaltung fahren, dort Originaltöne einfangen, sie in der Nacht zuhause oder im Büro zurechtschneiden, die Zwischentexte schreiben, den Beitrag am PC produzieren und ihn sendefähig ins Studio mailen.

Für Beschäftigungspflicht

Diese Leistung können blinde oder stark sehbehinderte Menschen – wenn überhaut – nur mit Hilfe einer Assistenz-Kraft erbringen. Zudem müssen ihre Computer-Programme rasch an die rasant fortschreitende Veränderung der Technologien in den Medien angepasst werden.
Der Zwang zum Sparen und Rationalisieren bestimmt auch in Funk- und Zeitungshäusern seit Jahren das Geschehen. Deshalb stellen die Verantwortlichen, Menschen mit schweren Behinderungen wie blinde Journalistinnen und Journalisten, die bei ihrer Arbeit Assistenz brauchen, trotz hoher beruflicher Qualifikation nicht ein. Und dies obwohl das SozialgesetzbuchIX, in das das frühere Schwerbehindertengesetz aufgegangen ist, die Bezahlung der Hilfskräfte am Arbeitsplatz aus dem Topf der Ausgleichsabgabe vorschreibt. Darin müssen Betriebe und Verwaltungen mit 20 und mehr Arbeitsplätzen monatlich einen Betrag zwischen 103 und 260 Euro einzahlen, wenn sie nicht mindestens 5 Prozent ihrer Jobs mit schwerbehinderten Menschen besetzen. Bei einem Prozent Beschäftigung beträgt die Abgabe je nicht besetzte Stelle 260 und bei 4 Prozent Beschäftigung 103 Euro. Die meisten Hilfen und Hilfsmittel für schwerbehinderte Beschäftigte werden zur Entlastung der Arbeitgeber nur aus der Ausgleichsabgabe, die die Integrationsämter und die Bundesagentur für Arbeit verwalten, bestritten. Aber auch diese ist nicht unendlich. Mit Recht verlangen daher die Gewerkschaften, Selbsthilfe- und Sozialverbände die Rückkehr zur früheren Beschäftigungspflicht der Betriebe und Verwaltungen von mindestens 6 Prozent und die jährliche Dynamisierung der Ausgleichsabgabe. Die freiberuflich tätigen Journalistinnen und Journalisten müssen etliche Abnehmer haben, um ein ausreichendes Gehalt einer Hilfskraft vom Integrationsamt überwiesen zu bekommen. Aber Aufträge sind für alle Freien knapp. Für jene mit einem Handicap erst recht.
Trotz der beschriebenen Grenzen, die das Fehlen der Sehkraft unserer journalistischen Tätigkeit setzt, gibt es genug Felder, die wir beackern können. Wir können den Inhalt einer Diskussion, deren Nuancen wir herausgehört haben, treffend wiedergeben und kommentieren. Mit feinem Gehör können wir bei Interviews neben den Antworten aus der Stimme auch viel über die augenblickliche Befindlichkeit des Interviewten erfahren und – mit der gebotenen Sensibilität – durch Anmerkungen zum Ausdruck bringen. Von unseren Arbeit- oder Auftraggeberinnen können und dürfen wir kein Mitleid verlangen! Aber wenn sie auf unsere Situation Rücksicht nehmen und die erforderlichen Hilfen für uns ermöglichen, kann das für alle ein Gewinn sein.

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