Snowden und die große Datenmisshandlung

Edward Snowden ist auf einer Video-Leinwand in der Urania zu sehen, während er bei einer Liveübertragung (2019) über sein Buch "Permanent Record: Meine Geschichte" spricht. Er beantwortete auch Fragen aus dem Publikum.
Foto: picture alliance/dpa/Jörg Carstensen

Zehn Jahre nach Beginn der bedeutenden Enthüllungen über die globale Überwachung durch Geheimdienste ist die journalistische Auswertung der von Edward Snowden bereitgestellten Dateien unbefriedigend. Große Medien haben sich dem Druck der betroffenen Regierungen gebeugt und die Auswertung der Dokumente abgebrochen oder sogar behindert.

Die Jahre 2010 bis 2015 nennt John Goetz „eine Art Prager Frühling in der Medienwelt“. Zuerst wegen der Enthüllungen unter anderem von Kriegsverbrechen der US-Armee durch Wikileaks, ab 2013 auch wegen der von Edward Snowden an Medien durchgestochenen Beweise für die umfassende Online-Überwachung durch Geheimdienste. Von da an kritisierten große Medien Regierungsaktivitäten auf eine neue Weise, meint der preisgekrönte Investigativjournalist des NDR: „Es wurden Fragen gestellt, die vorher nicht gestellt worden waren.“

Doch damit ist es lange vorbei. „Es gab eine Ermüdung beim Thema Snowden“, lautet Goetz‘ Fazit. Dabei seien in den vielen Dokumenten, die der ehemalige Dienstleister des Geheimdiensts NSA gesammelt hat, noch wichtige Aspekte enthalten. Goetz arbeitete 2010 und 2011 beim „Spiegel“ mit Wikileaks zusammen. 2013 wertete er für einen Enthüllungsartikel in der „Süddeutschen Zeitung“ Snowden-Dateien aus. Beim NDR, wo er mittlerweile angestellt ist, hat er zu diesen Themen wichtige Dokumentarfilme gemacht.

Brachliegendes Rohmaterial

„Es wurde bei weitem nicht alles veröffentlicht, was ich selbst gesehen habe“, sagt auch Jacob Appelbaum. Der Computerwissenschaftler, Journalist und Aktivist half zusammen mit der Filmemacherin Laura Poitras, die von Snowden das brisante Material erhalten hatte, dem „Spiegel“ bei der Auswertung. Appelbaum weist auf ein grundsätzliches Problem hin: „Nur ein sehr, sehr kleiner Teil der Snowden-Dateien ist öffentlich verfügbar.“ 2018 sagte der ranghohe US-Geheimdienstler Bill Evanina gegenüber der Nachrichtenagentur AP, nur ein Prozent der Snowden-Dateien sei bis dahin veröffentlicht worden.

Seitdem ist kaum noch etwas dazugekommen. Ein Beispiel eines unbekannten Aspekts: 2022 erschien Appelbaums Doktorarbeit an der TU Eindhoven, wo er mittlerweile auch wissenschaftlicher Mitarbeiter ist. Darin stellt er mögliche Maßnahmen gegen aktuelle und potenzielle zukünftige Internetüberwachungsmethoden durch Geheimdienste dar. Auf Seite 77 berichtet er als vermeintlich erster darüber, dass im Rahmen des Überwachungsprogramms PRISM nicht nur große Online-Plattformen wie YouTube, Facebook und Skype ausspioniert wurden, sondern dass auch etliche einfache Internetauftritte wie der der tibetischen Exilregierung, als Angriffsziele galten.

Neben Poitras gab Snowden auch Glenn Greenwald vom US-amerikanischen Büro der britischen Zeitung „The Guardian“ Dateien. Die Beiden gründeten 2014 das Online-Magazin „The Intercept“, das sich der Arbeit am Snowden-Material widmen sollte. Mit anderen Medien arbeiteten sie sowohl vor als auch nach der Intercept-Gründung zusammen, aber keines erhielt das ganze Material. So hielt Greenwald im Mai 2016 fest, dass „über zwei Dutzend“ Medien in „zahlreichen Ländern“ im Rahmen konkreter Recherchen Dateien aus dem Snowden-Schatz erhalten hätten. Darüber hinaus hätten andere Medien „seit langem große Teile des Snowden-Archivs“ zur Verfügung. Er zählt auf: „Washington Post“, „New York Times“, „The Guardian“, „ProPublica (ein US-amerikanisches stiftungsfinanziertes Online-Magazin für investigativen Journalismus). Doch an einigen dieser Medien gibt es Kritik in Sachen Snowden-Dateien – gerade auch an „The Intercept“.

Im März 2019 kündigte „The Intercept“ in internen E-Mails an, die Arbeit an dem brisanten Material einzustellen, und wünschte Greenwald und Poitras, andere Partner dafür zu finden. „The Intercept“ hat sich schnell in eine andere Richtung entwickelt“, bedauert John Goetz. „Greenwald und Poitras waren bald nicht mehr am Tagesgeschäft beteiligt, und ihrer Meinung nach wollte die Chefin Betsy Reed nicht so regierungskritisch berichten.“ Appelbaums Kritik fällt noch härter aus: „The Intercept hat seine Kopie des Snowden-Archivs zerstört. Das hat mir ein Insider gesagt. Die für das Archiv Verantwortlichen sind ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie haben viele Dinge zurückgehalten, die im öffentlichen Interesse sind.“ „The Intercept“ lehnt eine Stellungnahme zur Existenz des Archivs ab, da es ein vertrauliches Thema sei.

Festplatten mit verschlüsselten Dateien zerstört

In der britischen „Guardian“-Zentrale trug sich am 20. Juli 2013 eines der wohl bizarrsten Ereignisse der jüngeren Zeitungsgeschichte zu: Unter der Aufsicht von Agenten des britischen Geheimdienstes GCHQ wurden Computer zerstört, die Snowdens Material enthielten. „The Guardian“ war sofort nach seinem ersten Artikel am 6. Juni aus Regierungskreisen kontaktiert worden, um weitere Veröffentlichungen von geheimem Material zu unterlassen. Chefredakteur Alan Rusbridger berichtete von den kontinuierlichen Einschüchterungen und Forderungen in einem Artikel vom 19. August 2013. Darin schrieb er aber auch, den Beamten erklärt zu haben, dass es im digitalen Zeitalter keinen Sinn ergebe, einen Computer zu zerstören, wenn genügend Zeit gewesen war, Dateien zu kopieren. Ein Medium könne zudem missliebige Dinge von einem anderen Land aus im Internet veröffentlichen. „Schon jetzt sind die meisten NSA-Geschichten von New York aus veröffentlicht worden“, schrieb Rusbridger über seine US-Dependance. Er fügte hinzu: „Wir werden weiterhin geduldige und gewissenhafte Berichterstattung über die Snowden-Dokumente liefern, aber halt nicht von London aus.“ Im Dezember 2013 äußerte Rusbridger sich ähnlich, als er in einem Ausschuss des britischen Parlaments von der erlittenen Repression berichtete.

Am 20. Juli 2013 mussten Redakteur*innen des „Guardian“ im Keller des Zeitungsbüros in Kings Cross, London, unter den Augen von zwei GCHQ-Technikern Festplatten und Speicherkarten gewaltsam zerstören. Auf den Datenträgern waren verschlüsselte Dateien gespeichert, die von Edward Snowden durchgesickert waren. screenshot aus dem Video

https://cdn.theguardian.tv/mainwebsite/2014/01/28/140130BasementDIY-16×9.mp4

Doch mit der Enthüllungsarbeit war es dann ziemlich bald vorbei. Auf der Plattform für kollaborative Software-Entwicklung Github hat jemand eine angeblich komplette Liste aller Veröffentlichungen auf Basis der Snowden-Dokumente zusammengestellt. „The Guardian“ brachte es demzufolge 2013 auf 18 Artikel (die übrigens mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurden), 2014 aber nur noch auf drei. Der letzte ist von Februar 2014. Andere Medien, darunter „Der Spiegel“, lieferten noch jahrelang Veröffentlichungen, „The Intercept“ bis 2019. „The Guardian“ bietet nach wie vor eine Unterseite seines Internetauftritts namens „The Snowden files“, die ein „Handbuch“ für die Snowden-Dokumente sein soll, aber seit 2013 nicht mehr entsprechend bestückt wird. Mittlerweile gibt es eine Reihe bedenklicher Entwicklungen bei der Zeitung in Richtung Regierungs- und sogar Geheimdienstnähe. So erschienen Exklusivinterviews mit Geheimdienstchefs und ein leitender Redakteur erhielt einen Sitz im ständigen Regierungskomitee, das Medien bisweilen auffordert,auf bestimmte Berichterstattungen zum Wohl des Staatsapparats zu verzichten.

Appelbaum nennt die Festplattenzerstörung „einen Wendepunkt für die englischsprachige Presselandschaft, denn nun ist es Geheimagenten erlaubt, in einer Redaktion Quellenmaterial zu zerstören“. Das sei Betrug am Informanten Snowden, der mindestens lebenslange Haft riskierte, indem er die Dokumente zur Verfügung stellte. Der damals in Berlin lebende Appelbaum kritisiert auch, dass der „Guardian“ die Aktion, zu der er sich im Vorfeld bereit erklärt hatte, nicht ihm und Poitras angekündigt hatte: „Was, wenn es länderübergreifend koordinierte Razzien bei allen Leute gegeben hätte, die an dem Material arbeiteten?“

Der Überwachungsexperte betrachtet das Vorgehen der „Guardian“-Verantwortlichen als „Akt der Unterwerfung“. Sie hätten ihr Quellenmaterial stattdessen bis zum höchsten Gericht verteidigen und währenddessen mehr davon veröffentlichen müssen. „Deutsche Medien haben dann eine wichtige Rolle bei der weiteren Veröffentlichung von Snowden-Dokumenten gespielt, denn sie konnten außerhalb des direkten Einflussbereichs der britischen und US-amerikanischen Geheimdienste arbeiten“, hält er fest.

Ein Fall von Selbstzensur

Appelbaum hat nach eigener Aussage sogar einen Fall von Selbstzensur erlebt. Ihm zufolge versuchte die „New York Times“ 2014, einen Artikel von „ProPublica“ zu entschärfen. Darin wurden Indizien zusammengetragen, wonach beim GCHQ und bei Geheimdiensten in den USA und in Indien Informationen über die Pläne für die Anschlagsserie im indischen Mumbai im November 2008 vorgelegen haben könnten. Eine Gruppe religiös-fanatischer Terroristen tötete damals 166 Menschen vor allem im öffentlichen Raum und in Hotels.

„Ich konnte das Originalmaterial sehen, und meine Schlussfolgerung ist, dass die NSA Daten von den Telefonen der Terroristen hatte, bevor die Anschläge stattfanden“, berichtet Appelbaum. „Jeff Larson, der Autor des „ProPublica“-Artikels, sagte mir, seine Partner, die ihm die Snowden-Dateien unter bestimmten Bedingungen überließen, wollten die Darstellung so steuern, dass wichtige Teile der Geschichte nicht erschienen wären.“ Sowohl die „Times“ als auch „The Guardian“ und „The Intercept“ hatten Veröffentlichungen von Geheimdienstmaterial vorab mit staatlichen Stellen besprochen, um deren Bedenken zu hören und eventuell Teile zu schwärzen, damit vermeintlich gute Aktivitäten nicht gefährdet würden. Larson habe dann von Poitras und Appelbaum, die damals zusammenarbeiteten, das nötige Originalmaterial bekommen. Damit sei er nicht mehr an die Veröffentlichungsbedingungen der „Times“ gebunden gewesen und konnte frei berichten, erzählt Appelbaum. Und merkt noch an: „Ich habe aber immer noch den Eindruck, dass die Geschichte verwässert wurde und wichtige Erkenntnisse zu den Hintergründen unter den Teppich gekehrt wurden.“ Jeff Larson hat auf eine Anfrage vom 30. Mai an die Kontaktadresse, die er im Online-Netzwerk Mastodon angibt, trotz Nachfragen von zwei verschiedenen Adressen aus nicht geantwortet, obwohl er seitdem auf Mastodon aktiv war.

Fazit: Die Snowden-Dokumente stehen zum allergrößten Teil so gut wie niemandem zur Verfügung, und große Medien sind bei der Veröffentlichungsarbeit früher oder später eingeknickt. „Zu Beginn der Enthüllungen gab es die Idee, das Material einer Stiftung zu geben“, erinnert sich John Goetz. „Das ist aber leider nicht passiert.“

 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Gemeinsame Standards für Medienfreiheit

In Brüssel wird der European Media Freedom Act (EMFA) bereits als "Beginn einer neuen Ära" zelebriert. Ziel der Verordnung ist es, die Unabhängigkeit und Vielfalt journalistischer Medien in der EU in vielfacher Hinsicht zu stärken. Doch wie er von den Mitgliedsstaaten  - vor allem dort, wo etwa die Pressefreiheit gefährdet ist wie Ungarn und der Slowakei - umgesetzt wird, zeigt sich erst im kommenden Sommer.
mehr »

Filmtipp: Die Saat des Heiligen Feigenbaums

Die Alten hüten die Asche, die Jungen schüren das Feuer. Konflikte zwischen den Generationen sind vermutlich so alt wie die Geschichte der Menschheit. Zumindest im Westen haben die im Rückblick als „68er-Bewegung“ zusammengefassten Proteste für tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen gesorgt. Angesichts des Klimawandels könnte sich das Phänomen wiederholen. Mohammad Rasoulofs Familiendrama, deutscher „Oscar“-Kandidat, beschreibt anhand der Demonstrationen im Iran, wie sich die Alten wehren.
mehr »

Die Zukunft der Filmförderung

In der morgigen Plenarsitzung des Bundestages wird über die Zukunft der deutschen Filmwirtschaft entschieden, der vom Bundestagsausschuss für Kultur und Medien beschlossene Gesetzentwurf zum Filmfördergesetz (FFG) steht zur Abstimmung auf der Tagesordnung. ver.di begrüßt eine Reform der Filmförderung, denn in Zukunft müssen Filmproduktionen Tarif- und Urheber-Vergütungen verbindlich einhalten.
mehr »

KI-Lösungen: Heise macht es selbst

Das Medienhaus „Heise Medien“ hat kürzlich das auf generative Künstliche Intelligenz (KI) spezialisierte Medienhaus „Deep Content“ (digitale Magazine „Mixed“ und „The Decoder“) aus Leipzig gekauft. Damit will Heise die Zukunft generativer KI mitgestalten. „Deep Content“ entwickelte mit „DC I/O“ ein professionelles KI-gestütztes Workflow-Framework für Content-Teams und Redaktionen. Bereits seit Juni dieses Jahres kooperiert Heise mit „Deep Content“ bei der Produktion des Podcasts „KI-Update“. Hinter der Übernahme steckt die Idee, den neuen Markt weiter zu erschließen und hohe Gewinne einzufahren.
mehr »