ARD erreicht mit Interaktionen in sozialen Medien mehr junge Leute
Nicht erst seit dem durchschlagenden Erfolg von Rezos „Zerstörung der CDU“ basteln die meisten Medien an journalistischen Formaten auf den Social-Media-Plattformen. Auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten versuchen, den Generationenabriss durch Dialogformate und originelles Bespielen von Facebook, Twitter und Instagram zu stoppen. Teilweise mit beachtlichem Erfolg.
Kaum zu glauben: Die vermeintlich alte Tante „Tagesschau“ erreichte im Oktober 2019 Platz 1 in den sozia-len Medien. „Vor allem aufgrund seiner starken Performance auf Instagram“ habe sich das Erste an die Spitze des sozialen Rankings setzen können, noch vor Bild und dem ZDF, bilanzierten die Medienforscher von Storyclash. Insgesamt erzielte demnach das Erste mit seinen Postings rund 9,7 Millionen Interaktionen, also Likes, Shares und Kommentare, davon allein 6,9 Millionen auf Instagram.
Demnächst könnten es noch mehr werden. Dann, wenn zu Facebook, Instagram, Twitter und YouTube auch noch die Interaktionen auf Tik Tok gerechnet werden. Tik Tok ist eine Kurzvideo-App, mit der die „Tagesschau“ nicht nur humoristische Filmchen, sondern „auch journalistische Inhalte für eine junge Zielgruppe“ verbreiten will, wie Marcus Bornheim, Erster Chefredakteur von ARD-aktuell, zum Start am 20. November per Pressemitteilung verkündete. „Gemeinsam mit der Community“ wolle man herausfinden, wie solche Inhalte am besten aufbereitet werden könnten. Was der ARD-Mann dabei schamhaft verschwieg: Bei Tik Tok handelt es sich um eine chinesische Plattform, die seit geraumer Zeit im Ruf steht, Inhalte zu zensieren. Laut Guardian sind Themen wie Homosexualität, Alkohol und Nacktheit tabu. Und beim Stichwort „Hongkong“ wirft Tik Tok Videos über Kulinarisches und Musik aus, nicht dagegen Infos über die massiven Proteste gegen das Pekinger Regime. Die Tagesschau stehe „für unabhängigen Journalismus“, verteidigte sich Bornheim gegenüber Bild. Und: „Sollten wir hier Beeinträchtigungen feststellen, werden wir reagieren.“
Um die „Generation Z“ zu adressieren, haben die ARD-Oberen Juliane Leopold mit an Bord genommen. Die 36jährige ist seit Anfang Oktober Chefredakteurin Digitales bei ARD-aktuell und wie bisher Leiterin des Online-Angebots „tagesschau.de“. Die frühere Redakteurin von BuzzFeed hält die Präsenz des Ersten auf allen digitalen Ausspielkanälen für zwingend erforderlich.
Dabei sei tagesschau.de nicht so abhängig von Klicks wie ihr früheres Medium, erläuterte sie unlängst auf dem Berliner Forum der Initiative Qualität im Journalismus, in der sich auch die dju in ver.di engagiert. Themen könnten also nicht nach Klickverdacht, sondern nach journalistischer Relevanz ausgewählt werden. Das Publikum von „Tagesschau“ und tagesschau.de sei „völlig verschieden“, die Nutzer*innen des Online-Auftritts seien im Schnitt 20 Jahre jünger als die des linearen Programms.
Derbe Sprüche und Kraftausdrücke
Unabhängig vom Alter der Zuschauer*innen sind allerdings die Shitstorms, die sich regelmäßig bei politischen Reizthemen über das journalistische Personal der ARD ergießen. Speziell wenn es um Migration oder die AfD geht, schwillt dem Wutbürger gern der Kamm. Dann werden schon mal derbe Sprüche gepostet wie „Wenn dein Vater ein Gummi benutzt hätte, gäb’s jetzt ein Arschloch weniger“. Andere Zeitgenossen begnügen sich mit Kraftausdrücken wie „arrogante Fresse“, „Volksverräter“, „Verbrecher“. Gerade profilierte meinungsstarke Journalist*innen wie „Monitor“-Moderator Georg Restle – er bekam sogar Mord-drohungen – Anja Reschke oder Dunya Hayali werden regelmäßig auf unflätige Weise im Netz beschimpft.
Mit der Aktion „Sag’s mir ins Gesicht!“ startete die „Tagesschau“ 2017 einen vielbeachteten Versuch, die rüde „Diskussionskultur“ im Netz zu verbessern und ihre Spitzenleute aus der Rolle der angefeindeten Opfer in die Offensive zu bringen. Auf ARD-Seite beteiligten sich Kai Gniffke, Anja Reschke und Isabel Schayani. Dazu wurden auf dem Facebook-Account der „Tagessschau“ die an sie gerichteten Hasskommentare gesammelt. Anschließend forderten die Betroffenen die Hater auf, sich ihnen in einem Skype-Videogespräch zu stellen, das live auf Facebook übertragen wurde. Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten. Zehn Minuten vor Sendungsbeginn warteten schon Tausende in der Chatline. Die zugeschalteten Gesprächspartner – ausnahmslos Männer – benahmen sich dann allerdings recht zivilisiert, formulierten ruhig ihre Ansichten oder stellten Fragen. Ein Beleg dafür, dass der Hass vorzugsweise im Schutz der Anonymität stattfindet. Die Fragen kreisten um die Ukraine, um Trump und darum, ob die ARD „regierungsgesteuert“ sei. Für den Sender sei es darum gegangen, „dass wir keine Mimosen sind“, resümierte Kai Gniffke nach dem Experiment. Man habe Dialogbereitschaft gezeigt und zugleich kommuniziert: „Wir akzeptieren diese Hass-attacken nicht länger!“
„Das Problem liegt nicht in der Etablierung neuer Plattformen, wir schwimmen gerade in innovativen Medien“, bekannte unlängst Pulitzerpreisträgerin und Trainerin von Nachwuchsjournalisten Ann Marie Lipinski in der Neuen Zürcher Zeitung. Problematisch sei eher, „dass wir nicht genügend Expertise haben, um diese Plattformen mit gutem Journalismus zu füllen“. Gemessen an diesem Anspruch ist der ARD-Tagesschau pünktlich zum 30. Jahrestag des Mauerfalls ein großer Wurf gelungen.
Das Format „throwback89“ ist laut ARD-aktuell-Chef Marcus Bornheim der Versuch, für die Generation der Vorwende-Geborenen einen Anreiz zu schaffen, „sich näher mit dem beginnenden Ende der deutsch-deutschen Teilung zu beschäftigen“. Wie wäre es wohl gewesen, wenn es zur Wendezeit schon soziale Medien gegeben hätte? Auf dem Instagram-Kanal der „Tagesschau“ erfahren die Nutzer*innen, wie die fiktive 17jährige Nora Sommerfeld aus Rostock die bewegenden Ereignisse Ende 1989 erlebte.
Das Video-Tagebuch der Protagonistin nimmt sie mit auf eine Zeitreise vom 19. Oktober bis zum 9. November. Dabei werden Original-Szenen der historischen „Tagesschau“ von damals mit einer modernen Erzählweise im digitalen Medium verbunden. „70 Prozent unserer Abonnent*innen bei Instagram sind jünger als 35 Jahre“, so Bornheim, „die wenigsten haben also eigene Erinnerungen an den Mauerfall“. Dass das Kalkül der Social-Media-Redaktion aufging, zeigt eine Rezension des 24jährigen Ole-Jonathan Gömmel auf „Bento“. Er habe bei DDR-Geschichten in der Vergangenheit oft abgeschaltet, da er das Thema „mit langweiligen Unterrichtsstunden und vollgekritzelten Geschichtsbüchern“ assoziiert habe. „Mit der Instagram-Story fand ich einen neuen Zugang.“
Garniert wurde „Throwback89“ mit weiteren Inhalten auf diversen sozialen Netzwerken. Snapchat-Nutzer*innen, die das Brandenburger Tor Anfang November mit der Technologie „Landmarker Lens“ fotografierten, genossen ein Augmented-Reality-Erlebnis: Das Bauwerk erschien wie mit Mauerstücken und Stacheldraht zugebaut. Per Fingertipp auf dem Smartphone bot sich die Möglichkeit, den „antifaschistischen Schutzwall“ virtuell einzureißen. Modernste Technologie im Dienst eines „persönlichen Eintauchens in die Geschichte“, begeistert sich Andreas Lützkendorf, Leiter Strategie & Innovation von ARD-aktuell. An der Aktion des Social-Media-Teams und des Innovationslabors der „tagesschau“ waren auch die Webvideo-Unit des NDR und die Redaktion von „tagesschau24“ beteiligt. Die Inhalte sind unter „throwback89.de“ weiterhin verfügbar.
Netzwerke als Verjüngungskur
Auch im Medium Hörfunk gehört der Dialog auf sozialen Netzwerken längst zum Tagesgeschäft. „Wir produzieren und verbreiten nicht nur Inhalte, sondern verstehen uns auch als Feedback-Kanal zur Kommunikation mit dem Publikum“, sagt Torben Waleczek, derzeit vertretungsweise Online-Chef bei Deutschlandfunk Kultur. Die Postings auf Facebook, Insta-gram und Twitter werden viel kommentiert – mal gehen ein paar Dutzend, manchmal auch Tausende Reaktionen von Hörer*innen ein. Besonders viel Traffic erzeugen gesellschaftliche Reizthemen: Rechtsextremismus und Flüchtlingspolitik, der Umgang mit der AfD, Genderfragen. Betreut wird Social Media von einem Pool Freier Mitarbeiter*innen, werktags sind in der Regel vier im Einsatz. Soziale Netzwerke wirken im DLF Kultur wie eine Verjüngungskur. Im linearen Programm liegt der Altersdurchschnitt der Hörerschaft bei Mitte 50, auf Facebook eher bei Mitte 30.
Noch jünger – eher Mitte 20 bis Mitte 30 – ist das Publikum auf Instagram. Was einen stärkeren Zuschnitt auf die spezifischen Interessen dieser Klientel erfordert. „Auf Instagram können wir nicht unbedingt mit dem Thema Rückenschmerzen punkten“, sagt Waleczek, beim Deutschlandradio im Bereich Audience Development normalerweise zuständig für Plattform-Strategien. Dort gehe es eher um jugendaffine Themen: „Klimawandel, Nachhaltigkeit, Geschlechteridentität – aber auch klassische Hochkultur findet durchaus Anklang.“ Ob auch ein Bespielen des Shooting Star Tik Tok infrage komme, werde „intern noch diskutiert“.
Wie wichtig auch die Senderhierarchen mittlerweile den Dialog mit der Hörerschaft finden, belegt zum Beispiel ein Chat, dem sich DLF-Chefredakteurin Birgit Wentzien unlängst auf Facebook stellte. Dabei musste sie sich mit manchem Vorurteil auseinandersetzen. Meinten einige User, der DLF berichte einseitig und wähle zu viele Interviewpartner aus dem linken Spektrum aus, monierten andere, die AfD komme zu häufig zu Wort. „Wir halten partizipative Sendeformate für wichtig“, antwortete Wentzien auf die Frage nach einer Vorauswahl bei Hörerbeiträgen. Die Erfahrung, wie breit das Meinungsspektrum sei, schütze vor Filterblasen-Effekten. Im Übrigen seien die Moderator*innen des Senders „versiert genug, um den Unterschied zwischen unkonventionellen Meinungen und etwa Verschwörungstheorien zu markieren“.
Mittags live dabei beim Deutschlandfunk Kultur
Sendungen mit Hörerbeteiligung gibt es beim Kölner DLF einige, vor allem in Form klassischer Call-Ins in den Vormittagsmagazinen. Den direkten Kontakt mit dem Publikum suchen dagegen die Macher von „Studio 9 – Der Tag“ beim Berliner Schwestersender DLF Kultur. Bis zu 17 Gäste erhalten seit September 2019 einmal wöchentlich in der Mittagssendung von 12:05 – 13 Uhr die Möglichkeit, „bei Rotlicht“ live dabei zu sein – inklusive der Chance, mit Moderator und Studiogast ins Gespräch zu kommen. „Uns gibt das die Möglichkeit, unsere Arbeit transparent zu machen“, sagt Korbinian Frenzel, einer der Moderatoren von Studio 9, und die Hörer*innen können „einen Blick hinter die Kulissen werfen“.
Gleich in eine der ersten Sendungen platzte plötzlich per breaking news die Ansage vom Tod Jacques Chiracs. Frenzel: „Da bekam das Live-Publikum einen Eindruck davon, wie Nachrichten entstehen und verarbeitet werden.“ Da zunächst nur eine Quelle vorlag, musste der Sachverhalt erst gecheckt, Kontakt zum Korrespondenten in Paris aufgenommen werden, etc. „Für uns Radiomacher war es spannend zu erleben, wie interessiert die anwesenden Hörer*innen diesen Prozess verfolgt haben.“
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