Medienunternehmen tun sich schwer mit Web 2.0
Die Zeitungskrise spitzt sich mit dem ungeheuren Erfolg von Web 2.0-Diensten zu. Sie gewinnen binnen weniger Monate Millionen von Mitgliedern, die untereinander Kontakte knüpfen und ausbauen, Inhalte wie Texte, Bilder und Videos bereitstellen, materielle und immaterielle Güter tauschen, kaufen und verkaufen – und die Plattformen verdienen kräftig mit Online-Werbung.
Rupert Murdoch bestellte die Chefredakteure seiner Zeitungen Anfang Mai nach Kalifornien. Es ging um nichts Geringeres als eine Überlebensstrategie für sein globales Zeitungsimperium zu schmieden. Die Zeitungskrise ist nämlich noch längst nicht überwunden: Immer mehr vom Werbebudget wandert in den Online-Bereich, die Umsätze der Zeitungen stagnieren. Murdoch investierte immerhin 580 Millionen US-Dollar in den Kauf der Kontaktplattform MySpace – doch wie mit digitalen Nachrichten künftig noch Geld zu verdienen ist, scheint auch dem Medienzar nicht klar.
Bislang adaptieren die Verlage nur einige Versatzstücke von Web 2.0 in einer Art Experimentiermodus – oder sie schnappen nahezu unkontrolliert zu. Wie Murdoch hat sich auch der Holtzbrinck-Konzern mit StudiVZ in einem Millionenhandstreich eine Kontaktplattform gesichert. Doch was bedeutet das für das Stammgeschäft? Klar scheint nur eins zu sein: Ohne neue, innovative Angebote können die Verlage nicht überleben – sie müssen sich in den nächsten Jahren quasi neu erfinden. Gleichwohl klammern sich einige an die Hoffnung, ihre traditionelle Funktion ins neue Medienzeitalter retten zu können. Bernd Kundrun, Vorstandsvorsitzender von Gruner + Jahr, fabuliert von einem Web 3.0, in dem das unüberschaubar gewordene Angebot des Web 2.0 durch Gatekeeper wie seinen Verlag stark strukturiert wird.
Bis jetzt allerdings scheinen die etablierten Verlagshäuser viele Entwicklungen verschlafen zu haben. Oft haben sie gar nicht erkannt, mit welch neuen Kanalisierungsmechanismen für Aufmerksamkeit sie es zu tun haben. Ein kleines Indiz: Focus Online etwa führte erst kürzlich die öffentliche Kommentierung von Artikeln ein – beim Online-Magazin Telepolis gehört das bereits seit der Gründung Mitte der 90er Jahre zum Standard. Vor dem Projekt des Guardian, „Comment is Free“, das Kolumnisten des Guardian und Observer in einem Gruppenblog zusammenbringt und Lesern breiten Kommentarraum einräumt, scheinen die Verlagshäuser jedoch noch zurückzuschrecken. Auch das Prinzip „online first“ wird im Verlagshaus Heise, zu dem nicht nur Telepolis, sondern auch die renommierte Computerzeitschrift c’t gehört, seit Jahren praktiziert. Die Online-Ableger von Spiegel, Focus und Stern scheinen das Prinzip erst im Jahr 2007 zu entdecken (s. unten).
Ein Hauch Revolutionäres
Zurzeit stellen deutsche Verlage reihenweise Blogger ein, die dem journalistischen Angebot etwas Revolutionäres einhauchen sollen. Vorzeigebeispiel ist die Bloggerin Katharina Borchert, die seit kurzem Chefredakteurin des Online-Portals der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) ist. In der Blogosphäre wurde sie bekannt mit ihrem „Lyssas Lounge“, einer Art privates Tagebuch. Nun wirbt sie Blogger für das WAZ-Portal an, die über eine Region oder ein bestimmtes Themengebiet bezahlt bloggen sollen. Der Tagesspiegel hat die Mitbegründerin des Digital-Lifestyle-Magazins „De:Bug“, Mercedes Bunz, zur Chefredakteurin seines Online-Angebots gemacht, um künftig „elektronische Lebenskultur“ zu bieten.
Solche Aktivitäten sind letztlich nur Tropfen auf dem heißen Stein: Die neuen Webtechnologien bringen neue Anwendungen, neue Arten der Software-Entwicklung, neue Märkte und Geschäftsmodelle, aber auch neue Öffentlichkeiten mit sich. Die ehemaligen Gatekeeper werden zu Materiallieferanten für Dienste, die auf persönliche Interessen zugeschnitten sind. Wie stark der Druck der neuen auf die traditionellen Medien ist, war anlässlich des Amoklaufs an der Virginia Tech zu spüren: CNN berichtete einen Tag lang fast ausschließlich über das Massaker – aus Angst, die Zuschauer an andere Informationsflüsse zu verlieren.
Persönlicher Nachrichtendienst
Erheblich verschärft wird die Lage mit RSS (s. Kasten S. 9). Von Artikeln und Schlagzeilen, über Bilder aus Fototauschbörsen bis zu Veränderungen von Wiki-Seiten können Nutzer sich damit ihren persönlichen Nachrichtendienst zusammenstellen, der sekundengenau die neuesten Informationen von Spiegel.de, Heise.de oder CNN.com auf einer einzigen Website zusammenführt. Ergänzen können sie dies mit aktuell gespeicherten Bookmarks anderer Nutzer. Mit Ajax wird das Web zum Desktop: Office-, Kalender-, und E-Mail-Funktionen finden sich im Web wieder und ermöglichen gemeinsames Arbeiten mit anderen. Offene Schnittstellen von Anbietern wie Google, eBay, Amazon oder Flickr, aber auch von Polizei- und Wetterdiensten sorgen dafür, dass Anwender sich ihre eigenen lokalen Informationsdienste (Mashups) basteln können. So stellt etwa der Dienst XMLTV die Programmangebote aller Fernsehstationen der Welt zusammen – Fernsehzeitschriften werden damit überflüssig. Andere Dienste sammeln Verkaufs- und Vermietungsinformationen von Immobilien und zeigen sie auf den Landkarten von GoogleMaps – wozu braucht der Leser noch den nur mühsam durchsuchbaren Immobilienteil einer Tageszeitung?
Kooperative Technologien des Web 2.0 ermöglichen eine zugleich offene und fokussierte Zusammenarbeit – und dies in Zeiten, in denen auch die geistige Leistung zunehmend unter dem Gesichtspunkt des Eigentums und der Ware gesehen wird. Deshalb bewegen sich Verlage, die mit partizipativen Diensten unter dem Motto „Bürgerjournalismus“ experimentieren, sofort in einer Konfliktzone zwischen freiem Wissen und geistigem Eigentum. Auf Bilder und Videos setzt etwa der Burda-Verlag mit der Plattform „Focus Live“ – und stößt damit bei den Berufsfotografen auf wenig Gegenliebe. Der vom Online-Fotodienst Flickr und der Video-Plattform Youtube inspirierte Focus-Online-Chefredakteur Jochen Wegner hofft auf die Exklusivität von Laien-Bildreportern: „Stellen Sie sich vor: Der nächste Tornado in Hamburg, Schneechaos in Bayern, Überschwemmung oder Fußball-Weltmeisterschaft – und viele User haben tolle Bilder, an die man sonst nicht so schnell kommen würde.“ Tatsächlich schafften es zur Fußball-Weltmeisterschaft einige der über 2000 eingesandten Fanbilder sogar mehrmals auf Doppelseiten in den Print-Focus.
Redigierte Laientexte
Auf Texte von Laien setzten die Readers‘ Edition und RP-Online mit „Opinio“. Vorbild ist die südkoreanische Newsplattform Ohmynews. Bei der von der Netzeitung 2006 gegründeten Readers‘ Edition standen Leserbriefe für die Idee Pate, den Usern eine Plattform anzubieten, auf der sie gleich selbst redaktionelle Beiträge publizieren können. Die Autoren wählen ihre Themen völlig frei und schreiben nur über Dinge oder Ereignisse, die sie interessieren. Für das Sichten und Redigieren investieren ehrenamtlich arbeitende Moderatoren täglich im Schnitt eine Stunde. Der ehemalige Chefredakteur der Netzeitung, Michael Maier, will jedoch bereits im Sommer die Reader‘s Edition mit einem überarbeiteten Konzept neu auflegen. Dabei orientiert er sich stärker am südkoreanischen Vorbild: Die Texte der Bürger sollen von Journalisten überarbeitet werden.
Mitarbeiterblogs
Vorbildlich für das interne Wissensmanagement ist die BBC. Wissensmanager Euan Semple beobachtete, dass die Mitarbeiter in den Schneideräumen und Tonstudios oftmals mehr mit Externen über interne Probleme reden als mit ihren Kollegen. Er überlegte sich deshalb, wie die Mitarbeiter untereinander besser in Kontakt kommen können – und entschloss sich für Blogs und Wikis. Inzwischen bloggen bereits über 150 Mitarbeiter – Zugpferd der Entwicklung ist Richard Sambrook, der Leiter des BBC World Service. Er betreibt ein offen geschriebenes Blog – mit über 8.000 Besuchern im Monat.
Das Web 2.0 wird nicht automatisch einen Journalismus 2.0 bringen, doch es wird journalistische Tätigkeiten schärfer profilieren. Auf Fremdmaterial wie Agenturmeldungen können die Verlage auch künftig nicht verzichten, doch sie werden merken, dass nur Qualität verbunden mit Exklusivität reputationssteigernd wirkt. Reputation, die Währung im sozialen Web 2.0, ist aber nur mit hochprofessionellem Arbeiten zu gewinnen. Es gelte im Journalismus „Professionalität neu zu definieren und ihre Vorzüge unmissverständlich herauszuarbeiten“, sagt Lorenz Lorenz-Meyer, Professor für Online-Journalismus an der Hochschule Darmstadt: „Recherche ist nicht Google, sondern basiert auf Erfahrung, Netzwerken und Vertrauensbeziehungen“. Unvermeidbar scheint auch eine zunehmend stärkere Differenzierung von Aufgabenbereichen – Redakteure werden sich entscheiden müssen zwischen professionellem Content-Management für extern zugeliefertes Material und zeitaufreibender investigativer Eigenrecherche.
All diese Neuerungen müssen aber auch finanziert werden. Passende Geschäftsmodelle werden händeringend gesucht. Ob aber eine simple Adoption bewährter Web 2.0-Dienste wie Youtube oder StudiVZ die Erlösung bringen wird, ist noch nicht ausgemacht. Der einzige Weg scheint ein nachhaltiges Innovationsmanagement zu sein – hier stehen die deutschen Medienunternehmen allerdings erst am Anfang.
Verlage auf Web 2.0-Kurs
Fast alle Medienhäuser in Deutschland haben heute einen Online-Auftritt – allein Tageszeitungsverlage über 650. Über 100 Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland bieten Video- und Audio-Inhalte an, 240 Websites regionaler Zeitungen Blogs. Zunehmend werden Web 2.0-Anwendungen integriert, die Online-Angebote ausgebaut.
Einige aktuelle Beispiele:
Süddeutsche Zeitung: 15 zusätzliche Redakteure zu den 10 Festangestellten und 10 Pauschalisten bei sueddeutsche.de, Ausbau als Autoren- und Meinungsportal.
Spiegel: Schwarze Zahlen mit einem Jahresumsatz von 15 Millionen Euro, Ausbau aller Ressorts über die bisher 60 Redakteure bei Spiegel Online hinaus, Erweiterung bei Video in Kooperation mit Spiegel TV, neue Community-Elemente.
Stern: Bei stern.de soll die Zahl der Redakteure von 20 auf 60 steigen und eine Nachrichtenredaktion eingerichtet werden.
Axel Springer Verlag: Zahl der 60 Online-Redakteure bei welt.de soll erweitert werden, um Video, Audio, Weblogs und Podcast auszubauen, Motto: „Online first“.
Gruner+Jahr: Derzeit erstellt die RTL-Tochter UFA 50 Stunden Bewegtbildinhalte für verschiedene Online-Auftritte und DVD-Ausgaben mehrerer Zeitschriftenmarken.
Web 2.0 und die Nutzer
Web 2.0 gehört noch nicht zum Alltag der Deutschen. Eine repräsentative Umfrage der PR-Agentur ZPR vor einem halben Jahr ergab, dass nur sechs Prozent der 1000 Befragten mit dem Begriff Web 2.0 etwas anfangen konnten und weitere sechs Prozent keine genauen Vorstellungen haben, was sich hinter dem Begriff verbirgt. Weitere 12 Prozent konnten Aussagen zu Web 2.0 nicht korrekt bewerten. Die Anwendungen werden auch nur von Minderheiten genutzt: drei Prozent bloggen selbst, neun Prozent lesen regelmäßig Weblogs, 14 Prozent nutzen Podcast und 16 Prozent sind Mitglied einer Community.
Eine Studie der Agentur Komjuniti mit repräsentativ ausgewählten 3.500 Teilnehmern zwischen 15 und 65 Jahren ergab übrigens, dass 915 Millionen (91,1 Prozent) der täglichen Gespräche ohne Internet erfolgen. Nur 89,4 Mio persönliche Konversationen erfolgen über die neuen Medien. Dabei drehen sich 41,8 Prozent aller Gesprächsinhalte um Medien und Medienberichte.