Über „Dichtung und Wahrheit“

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„Die Zeit des Popstar-Journalismus ist vorbei“, verkündete Hajo Schumacher im Berliner Mediensalon „Dichtung und Wahrheit: Haben Medien aus dem Relotius-Skandal gelernt?“ am 31. März im Online-Format. Auslandskorrespondentin Gemma Pörzgen sieht das Problem der teils erfundenen Geschichten des „Spiegel“-Reporters Claas Relotius eher in den Redaktionen, in denen immer weniger Auslandserfahrung vorhanden sei. „Wenn man selbst im Ausland gearbeitet hat, hat man schon immer an Relotius gezweifelt“, behauptete sie.

Moderatorin Susanne Lang von mekolab erinnerte an den Mediensalon im Februar 2019 zum „Sündenfall Relotius“, der damals über 300 Zuhörerinnen und Zuhörer im Gebäude der taz versammelte. Was ist geblieben von all den Besserungsbekundungen, den angekündigten Faktenchecks, den Obleuten in den Redaktionen?

Solche Fälschungen wie erfundene Gesprächspartner*innen oder -inhalte wären heute so nicht mehr möglich, zeigte sich Schumacher überzeugt. Weltweit könne inzwischen jeder überprüfen, was über sie oder ihn geschrieben werde. Deshalb, erklärte Sven Böll vom Reportage- und Rechercheteam von T-Online, habe Relotius ja immer gedrängt, dass seine „Reportagen“ nicht ins Englische übersetzt oder ins Ausland verkauft würden. Böll erinnerte daran, dass der Mann zu einer geradezu „mythischen Ikone“ aufgebaut und mit Preisen überhäuft wurde. Das zu diesem Mediensalon eingeladene „Reporter-Forum“, das seinen Preis bis 2018 insgesamt vier Mal an Relotius verliehen hatte, lehnte eine Teilnahme ab und meinte, zu diesem Thema sei bereits alles gesagt.

Pörzgen warf den Redaktionen vor, durch zu wenig Auslandsexpertise bei der notwendigen Überprüfung der angelieferten Texte zu versagen. Korrespondentenstellen würden zunehmend gestrichen, Honorare für freie Auslandskorrespondent*innen gekürzt. „Etikettenschwindel“ mit Berichten aus den Redaktionen, die als Auslandsberichte vermarktet würden wie beim Brexit, seien auch in großen Blättern nicht selten. Allerdings habe das Misstrauen gegenüber Reporter*innen nach dem Aufdecken der Relotius-Fälschungen vielfach die Falschen getroffen, die freien Journalist*innen nämlich. Es sei zu wenig thematisiert worden, dass hier ein festangestellter, ge- und beförderter Journalist mit diesen Täuschungen durchgekommen sei.

Dass solche Fake-Reportagen im Fernsehen unwahrscheinlicher, weil sehr viel aufwändiger zu produzieren seien, darin stimmten die Diskussionsteilnehmer*innen der jungen Videojournalistin Vera Gasber aus dem ARD-Studio Wien zu. Bei tagesaktuellen Themen für die ARD-Nachrichtensendungen sei gar keine Zeit für solche Täuschungen, meinte Gasber, und Schumacher war sich sicher, dass durch die Blockchain-Technologie dies besser nachweisbar wäre.

Schon die Reportagen aus Relotius‘ Studienzeit an der Hamburg Media School hielten alle einer Überprüfung nicht stand, es sei bei ihm wohl eher eine Charakterfrage, meinte Volker Lilienthal, Journalismus-Professor an der Uni Hamburg. Ein gewisser Hang zum Narzissmus sei Journalist*innen mitunter auch eigen, so die Diskussion. Böll verwies jedoch auf den strukturellen Kampf um Klicks und Quoten. Das Gerangel um Aufmerksamkeit habe sich im digitalen Journalismus noch verstärkt. Da würden auch erfolgreiche Geschichten mit neuem Dreh nach altem Rezept nachgebaut.

Nur noch Spektakuläres zähle, fügte Pörzgen hinzu. Unter Osteuropakorrespondent*innen kreise als Witz schon die Frage, ob man noch irgendwas über Russland verkaufen könne, ohne dass „Putin“ darin vorkomme. Ergebnisoffenheit bei der Recherche bleibe dann auf der Strecke, ja könne sogar zum Vorwurf der Ziellosigkeit und Langsamkeit werden, hat Gasber erlebt.

Wie weit sich die Wahrnehmung von Realität und Dokumentation verschieben könne, zeige die Antwort der Dokumentarfilmerin, deren zunächst preisgekrönter Film „Lovemobil“ jetzt wegen nachgestellter, aber nicht gekennzeichneter Szenen in der Kritik steht. Lang zitierte die Verteidigung der Autorin Elke Margarete Lehrenkrauss: „Ich kann mir auf jeden Fall nicht vorwerfen, die Realität verfälscht zu haben, weil diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität.“

„Storytelling“ mit Drama und Polarisierung komme eigentlich aus der Werbung und gehöre zu Hollywood, nicht zum Journalismus, warf Schumacher vielen Medienkonzepten vor. Solche Vorgehensweisen schadeten der Glaubwürdigkeit der Medien sehr, hat Pörzgen im Gespräch mit vielen Leser*innen erlebt. Auch die Vermischung von Meinung und Bericht, oft als Spannungsmittel benutzt, entfremde aufmerksame Leser*innen, ergaben Untersuchungen an Regionalzeitungen.

Schumacher forderte, die Diskussion, was Journalismus eigentlich sei und solle, wieder stärker zu führen und sich deutlicher von der Unterhaltungsindustrie abzugrenzen. Lilienthal, der einräumte, ebenfalls die Prinzipien des Storytelling in der Ausbildung zu lehren, erklärte, diese Debatte würde das gesamte Geschäftsmodell eines frei finanzierten Journalismus in Frage stellen. Es gebe nun mal den „Zwang zum Aufmerksamkeitswettbewerb“: „Da kommen wir aus medienökonomischer Perspektive nicht raus.“

Um die Perspektiven im Journalismus auf erwünschte Art zu erweitern, „mehr Alltagsnähe“ (Pörzgen) einzubringen, diskutierten die Teilnehmer*innen des Mediensalons am Schluss über eine größere Diversität in den Redaktionen, nicht nur in Bezug auf Geschlecht, Alter und Hautfarbe, sondern auch, was soziale Hintergründe und Ausbildungen angehe. Im neuen Printheft von M – Menschen Machen Medien ist diesem Thema der Schwerpunkt gewidmet.


#Mediensalon ist eine Kooperation von Deutscher Journalistinnen- und Journalisten-Union dju in ver.di, Deutschem Journalistenverband DJV Berlin – JVBB und #mekolab der meko factory – Werkstatt für Medienkompetenz gemeinnützige GmbH, unterstützt von Landau Media und der Otto-Brenner-Stiftung. Gastgeber für diesen Mediensalon war ALEX Berlin.

 

Susanne Stracke-Neumann

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