Unterhalb des Radars

Dr. phil. Felix Koltermann leitete an der Hochschule Hannover ein dreijähriges Forschungsprojekt zu bildredaktionellen Praktiken im digitalen Zeitungsjournalismus und veröffentlicht jetzt die Ergebnisse. Zuvor gab er den Band „Corona und die journalistische Bildkommunikation“ (NOMOS 2021) heraus. Foto: Marcel Zeumer

Bildredaktionelle Arbeit meist ohne festangestellte Fotoexperten

Im Juli erscheint das Buch „Fotografie im Journalismus: Bildredaktionelle Praktiken in Print- und Online-Medien“. Sein Autor Dr. Felix Koltermann, der zuvor in einem Forschungsprojekt am Studiengang „Visual Journalism and Documentary Photography“ in Hannover den Wandel bildredaktioneller Praktiken im digitalen Zeitungsjournalismus unter die Lupe genommen hat, spricht mit M über die Bildauswahl im Redaktionsalltag.

M | Was ist Ziel des Buches und wie ist es aufgebaut?

Felix Koltermann | Das Buch soll dazu anregen, sich vertieft mit dem Verhältnis von Bild, Text und bildredaktioneller Arbeit zu beschäftigen. Es schließt ein Forschungsprojekt ab und daraus gewonnene Ergebnisse werden teilweise publiziert. Vorangestellt sind wesentliche Ergebnisse zweier Studien zu angestellten Foto- und Bildredakteur*innen an deutschen Tageszeitungen sowie den dort publizierten Bildern. Darauf folgen die Kapitel „Interviews“, „Ortsbesuche“ und „Bildkritiken“. Ich wollte über unterschiedliche Textformate verschiedene Aspekte der Arbeit am Bild oder der bildredaktionellen Tätigkeit transparent machen. Dafür habe ich mit Bildredakteur*innen, mit Wissenschaftler*innen oder Zeitungsgestalter*innen gesprochen. Und auch ein Unternehmensberater kam zu Wort, um der Frage nachzugehen, welche Rolle das Bild beim Verkauf einer Zeitung spielt.

In den „Ortsbesuchen“ berichte ich im Reportagestil über die Arbeit in Bildredaktionen, über die Teilnahme an Ausbildungsworkshops oder über Festivals, auf denen die gesellschaftliche Bedeutung des Bildes debattiert wurde. Für die Bildkritiken habe ich einzelne Print- und Online-Artikel und die begleitenden Bilder analysiert, um über das Verhältnis von Bild und Text ins Gespräch zu kommen: Was passiert bei der Bildauswahl, welche Herausforderungen bestehen, wenn ich einen Text mit einem Bild versehen soll?

Außerdem habe ich vergleichend Zeitungscover untersucht, in denen jeweils das gleiche Ereignis – etwa der Beginn des Ukraine-Kriegs oder der Sturm auf das Washingtoner Kapitol – thematisiert wird. Selbst wenn die Quellenlage ähnlich war, haben die Zeitungen das Thema sehr unterschiedlich umgesetzt und gestaltet.

Im Buch ist von Fotoredakteur*innen, Bildredakteur*innen und Fotograf*innen die Rede. Wer macht jeweils was?

Ich definiere Fotoredakteur*innen als diejenigen, die Fotos produzieren, während Bildredakteur*innen diejenigen sind, die in den Redaktionen Bilder auswählen. Ich nutze für beide den Redakeursbegriff, da für das Verständnis ihrer Arbeit entscheidend ist, dass sie angestellt und damit Teil redaktioneller Routinen sind. Dazu kommt dann noch die Gruppe der freischaffenden Fotograf*innen.

Sind größere Artikel ohne Bild überhaupt noch denkbar?

Man muss zwischen Print- und Onlinejournalismus unterscheiden. Online braucht jeder Artikel ein Bild, damit wird vermeintlich Aufmerksamkeit generiert. Im Printjournalismus haben Bilder neben der Aufgabe, ein Thema zu illustrieren, auch die Funktion, Akzente zu setzen und eine Seite zu strukturieren. Vor allem der letztgenannte Aspekt nimmt an Bedeutung zu.

Du hast untersucht, wie die bildredaktionelle und fotoredaktionelle Arbeit in Tageszeitungen organisiert ist. Wie bist du vorgegangen?

Zunächst habe ich untersucht, wie viele angestellte Foto- und Bildredakteur*innen eigentlich an deutschen Tageszeitungen arbeiten. Dafür habe ich – unterstützt von einer Assistenz – die Impressen aller deutschen Tageszeitungen analysiert. Wenn wir dort nicht fündig wurden, haben wir telefonisch nachrecherchiert. Demnach gibt es insgesamt 242 angestellte Foto- und Bildredakteur*innen bei deutschen Lokal- und Regionalzeitungen, überregionalen Zeitungen, Boulevardzeitungen sowie den wenigen Zentralredaktionen. Es stellte sich heraus, dass Fotoredakteur*innen vornehmlich bei Lokalzeitungen angestellt sind, während sich Bildredakteur*innen vor allem bei überregionalen Zeitungen und beim Boulevard finden.

Und wie kommen die überregionalen Zeitungen an ihre Bilder?

Bei den acht überregionalen Tageszeitungen, die ich betrachtet habe, gab es nur fünf angestellte Fotoredakteur*innen, aber 42 Bildredakteur*innen. Einige überregionale Tageszeitungen beschäftigen gar keine Fotoredakteur*innen, aber alle verfügen über einen großen bildredaktionellen Apparat. Sie beauftragen freie Fotograf*innen und arbeiten zu einem großen Teil mit Bildmaterial von Agenturen.

2019 habe ich für sechs überregionale Zeitungen parallel die Bildherkünfte untersucht. Dafür habe ich an vier über das Jahr verteilten Wochen ausgewertet, woher die Bilder stammen. Über alle Zeitungen hinweg lag der Anteil der Bilder von angestellten und freien Fotografinnen bei 13,6 Prozent. Die Zahl der fest angestellten Fotoredakteur*innen ist gering, freie Fotograf*innen sind für den Zeitungsjournalismus also sehr wichtig. Konkrete Auskünfte, wie viele freie Fotograf*innen Zeitungen jeweils beschäftigen, gibt es jedoch kaum. Zu einem großen Anteil beziehen überregionale Tageszeitungen ihre Bilder von den Agenturen – fast ein Drittel aller Bilder stammt von der dpa, gefolgt von AFP und teilweise AP und Reuters.

Wie laufen die Arbeitsprozesse bei Tageszeitungen mit Bildredaktion ab?

Gedacht wird zum großen Teil vom Text bzw. von der Nachricht her. Erst wird entschieden, welche Themen wo und wie gesetzt werden. Davon ausgehend wird die Bildredaktion beauftragt, Bilder herauszusuchen oder zuzuarbeiten. Dass Bildredakteur*innen von Anfang an in Redaktionsprojekte involviert werden, ist eher die Ausnahme. Und obwohl überregionale Zeitungen einen großen Stab an Bildredakteur*innen beschäftigen, treffen diese selten alle Bildauswahlen. Vor allem online gehen dafür täglich viel zu viele Artikel raus. Auch in großen Tageszeitungen wird daher viel bildredaktionelle Arbeit von nicht spezialisiertem Personal übernommen. Das Bildredaktionsteam fungiert quasi als Endkontrolle und eine Art Servicestelle.

Und wie kommen regionale und lokale Zeitungen ohne Bildredaktion an ihre Bilder?

Bisher ging man davon aus, dass die Bildauswahl von speziell dafür abgestelltem Personal getroffen wird. In der Breite des deutschen Tageszeitungsjournalismus ist das jedoch nicht der Fall. Ich habe insgesamt 263 regionale und lokale Zeitungen gezählt. Von denen beschäftigen nur zehn angestellte Bildredakteur*innen. Angestellte Fotoredakteur*innen fand ich bei immerhin 73 Zeitungen. Der Standard ist, dass die Autor*innen Fotos mitliefern. Die Bildredaktion ist meist eine Querschnittsaufgabe der Redaktion, die von den Produktionsredakteur*innen oder vom Desk mit übernommen wird. Selbst da, wo es Fotoredakteur*innen gibt, stehen diese in der Nahrungskette weit unten, sie haben bei der endgültigen Bildauswahl kaum Mitspracherechte. Was das über die Qualität sagt, müsste man nochmal separat untersuchen. Es wäre aber in jedem Fall ein Vorteil, wenn die Redaktionen jemanden hätten, der spezifisch geschult ist.

Gibt es denn überhaupt spezielle Ausbildungen für Bildredakteur*innen?

Die Ostkreuzschule in Berlin bietet mit der Bildredaktionsklasse einen zertifizierten einjährigen Lehrgang an, ansonsten läuft die Ausbildung vor allem über Workshops. Da ein Großteil der bildredaktionellen Tätigkeiten von nicht speziellem Bildpersonal ausgeführt wird, besteht die größte Lücke eigentlich in den journalistischen Ausbildungen und Volontariaten. Die befassen sich allenfalls am Rande mit dem Bild. Vielmehr wird auf learning by doing gesetzt.

Findet denn eine Debatte über die Rolle von Fotojournalismus und Bildredaktion statt?

Ein wenig hat sich meine Hypothese bestätigt, dass die bildredaktionelle Arbeit weitgehend unterhalb des Radars erfolgt. Weder in den Kommunikations- noch den Medienwissenschaften existieren Untersuchungen, die sich ausschließlich auf Bildredakteur*innen fokussieren. Über die Akteur*innen, die in den Redaktionen Bilder auswählen, wissen wir zu wenig. Alle nehmen Bilder wahr und halten Bilder für wichtig. Dennoch wird über bildredaktionelle Herausforderungen kaum debattiert. Leute, die mit Texten arbeiten, und Leute, die mit Bildern arbeiten, leben von der Sozialisation her in verschiedenen Welten. Man gewichtet anders, je nachdem, ob man vom Text oder vom Bild kommt. Leider findet ein Austausch darüber, wie man im schnelllebigen redaktionellen Alltag nicht nur zu einer visuell ansprechenden, sondern auch inhaltlich passenden Bildauswahl kommt, kaum statt – weder auf Veranstaltungen noch in der Ausbildung. Dieses Defizit auszugleichen und den Blick auf das Bild zu schärfen, wäre sicherlich auch eine Aufgabe für die Journalismusgewerkschaften.

Du hast im Grunde genommen Pionierarbeit geleistet. Denn Informationen darüber, wie Bildredaktion in Deutschland vor 20 oder vor 50 Jahren ablief, existieren nicht.

Felix Koltermann | Genau, so ist es. Was wir haben, ist vor allem anekdotisches Wissen aus den Erzählungen einzelner Menschen. Daraus kann man schon einiges über frühere Praktiken herauslesen, nur eben nicht empirisch fundiert. Aber danach scheint es, als hätte es früher mehr festangestellte Fotoredakteur*innen gegeben. Und zumindest bei den großen überregionalen Zeitungen hat es offenbar den Trend gegeben, Fotoredakteur*innen durch Bildredakteur*innen zu ersetzen.

In die andere Richtung geschaut: Welche zukünftigen Entwicklungen sind zu erwarten?

Bei angestellten Fotoredakteur*innen geht der Weg dahin, dass ihre Stellen nach dem Renteneintritt nicht mehr ausgeschrieben werden. Nur wenige Tageszeitungen sehen ein Qualitätsmerkmal darin, Fotoredakteur*innen zu beschäftigen. Neue Modelle werden sich ausbreiten, beispielsweise organisieren sich Freie in lokalen Agenturen, in die das Geschäft ausgelagert wird. Kleinere Lokalzeitungen werden mehr mit Agentur- oder Symbolbildern arbeiten bzw. mit dem Material der Texter*innen. Im Onlinejournalismus wird vermutlich KI eine wichtige Rolle zukommen.

Was geschieht bildredaktionell außerhalb der Zeitungen?

Felix Koltermann | Sicher wäre es interessant, auf die großen Magazine zu schauen oder auf die reinen Online-Medien. Auf jeden Fall lässt sich sagen: Das Bild, das sich beim überregionalen Tageszeitungsjournalismus gezeigt hat – kaum Fotoredakteur*innen, aber viele Bildredakteur*innen –, deckt sich mit dem bei großen Magazinen und reinen Online-Medien. Auch bei Fernsehsendern arbeiten Bildredakteure*innen, die beispielsweise den Hintergrund für die Nachrichtensendungen auswählen. Gespräch: Ute Christina Bauer

Buchtipp: Fotografie im Journalismus

Herbert von Halem Verlag (halem-verlag.de)

Broschur/Pdf, 288 Seiten

erscheint am 20. Juli 2023

 

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