US-Journalismus in Schieflage

Rechercheteam für Enthüllungsjournalisten gegründet

Im harten Medienbusiness der USA kämpft der seriöse Journalismus ums Überleben. Auf der Strecke bleibt die politische Information – der Sauerstoff für die Demokratie.

So etwas gibt es nur in den USA. Ein Kalifornier namens Herbert Sandler, der sein Immobiliengeschäft mit einem Milliardengewinn verkauft hat, entschließt sich, einem Medienprojekt für investigativen Journalismus zehn Millionen Dollar pro Jahr zu spenden. Dank dieser Geste kann Paul E. Steiger, ehemaliger Chefredakteur des Wall Street Journal, ein Team von 24 Journalisten um sich sammeln und sie auf Enthüllungsgeschichten ansetzen. „Wir haben über 1.100 Bewerbungen erhalten, darunter Hunderte von hochqualifizierten Journalisten, die bei ihren Medien keine Zukunft mehr sehen,“ berichtet Steiger in seinem Büro in New York. Aufwändige aber auch riskante Aufdeckungsgeschichten über Machtmissbrauch in der Regierung, Wirtschaft und privaten Institutionen, die sich die meisten Medien nicht mehr leisten können oder wollen, sollen der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Das heißt: Das Recherchenteam sucht sich eine Redaktion aus, die den Artikel kostenlos publizieren kann.
„Pro Publica: Journalismus im Interesse der Öffentlichkeit“ heißt Steigers Redaktionsteam. Ein auf privaten Spenden basierender „Non-Profit“-Journalismus soll helfen, den Qualitätsjournalismus in den USA zu retten. Das ehrgeizige Projekt ist ein deutliches Alarmsignal für den Zustand des amerikanischen Journalismus, dessen wirtschaftliche und moralische Basis angeschlagen ist. „Pro Publica“ befindet sich nur einen Steinwurf von der Wall Street entfernt, die für die Krise des amerikanischen Journalismus mit verantwortlich ist. Während Jahrzehnten waren die wichtigsten Zeitungen im Besitz von Familien, welche die Redaktionen vor den Wechselfällen des Börsengeschehens abschirmten. Heute gehören die meisten Zeitungen offenen Mega-Kapitalgesellschaften, für die Profitraten wichtiger sind als Investitionen in eine bessere Berichterstattung. Und dies in einer Zeit, da es die Redaktionen am Nötigsten hätten, sich mit einer Qualitätssteigerung zu verteidigen. In den 70er und 80er Jahren, als die meisten Blätter in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden, hatten sie kaum Mühe, weiter ein hohes Profitniveau zu halten. Seither mussten sie sich immer neuen Konkurrenten stellen: Dem Fernsehen, dann den Kabelsendern und jetzt dem Internet. Trotzdem verlangt Wall Street weiterhin dieselben hohen Gewinne. Anstatt auf die zunehmende Konkurrenz mit einer verbesserten Berichterstattung zu reagieren, müssen die Budgets wegen der hohen Gewinnerwartungen gekürzt werden.

Wie der US-Journalismus in Schieflage geraten ist, hat Bill Kovach persönlich erlebt. „Wir wurden zur besten Zeitung der Welt, weil wir journalistisch das tun konnten, was wir tun mussten.“ So erklärt Kovach das Erfolgsrezept der New York Times, dessen Washington-Büro er von 1979 bis 1986 leitete. Von seinen Kollegen wird Kovach als Journalist bewundert, „der nie einem Konflikt ausgewichen ist“. Wahrscheinlich auch deshalb ist der sympathische Südstaatler bei der Wahl eines neuen Chief Editors des New Yorker Blattes 1986 übergangen worden. Kovach nahm eine Berufung als Chefredakteur des Atlanta Journal-Constitution an. „Hier wollte ich die New York Times kopieren,“ sagte er. Tatsächlich gewann die Zeitung unter seiner Leitung für eine Recherche über die Diskriminierung der Schwarzen erstmals seit vielen Jahren wieder einen Pulitzerpreis. Doch schon nach zwei Jahren verliess Kovach seinen Posten – aus Protest gegen drastische Budgetkürzungen. Aus den gleichen Gründen sind inzwischen zahlreiche andere Chefredakteure bekannter amerikanischer Zeitungen zurückgetreten.
Kovach wurde Kurator der „Nieman Fellows“, einem Ausbildungsprogramm für Journalisten an der Harvard Universität. „Hier, im Kontakt mit vielen Kollegen, begann ich zu verstehen, welch zersetzende Wirkung der Raubbau auf unsere Redaktionen hat.“ Kovach rief Amerikas führende Journalisten zu einer Art Krisensitzung nach Harvard zusammen. Sie gründeten das „Committee of concerned Journalists“. Diese Selbsthilfeorganisation steht im engen Kontakt mit dem „Project for Excellence in Journalism“ (PEJ), einem ebenfalls von privaten Spenden finanzierten Team von Medienexperten, die regelmässig den „Zustand der Medien in den USA“ analysieren.
Ein zentraler Befund der PEJ- Analysten: Zwischen der Öffentlichkeit und den Medien hat eine „Disconnection“ stattgefunden. Im Klartext heißt das: Die Medien werden von der Öffentlichkeit als weniger professionell und unsorgfältig wahrgenommen. Sie verheimlichen mehr als sie aufdecken. Die Öffentlichkeit vermisst das Engagement der Medien für das Gemeinwohl, das News-Business unterscheidet sich nicht mehr von einem gewöhnlichen Business.


 

Die Desinformations-Industrie aufdecken

In den USA werden Journalisten, die Skandale und Machtmissbrauch seit Anfang des Jahrhunderts aufdecken, „Muckraker“ genannt. Die Zeitschrift „Nieman-Reports“ widmete „Muckrak – Journalismus im 21. Jahrhundert“ eine ganze Ausgabe (www.nieman.harvard.edu). Der Journalismus sei mit einer riesigen „Desinformations-Industrie“ konfrontiert: „Von Unternehmen finanzierte Think-Tanks, unechte Bürgerbewegungen, gekaufte Experten, gefälschte Nachrichten, unechte Reporter, Regierungsvertreter auf allen Stufen, die Lügen, Halbwahrheiten und Desinformation verbreiten und eine ganze Präsidenten Administration, die alles daran gesetzt hat, die Presse zu diskreditieren und irrelevant zu machen.“ Der „Nieman-Reports“ macht auf Selbsthilfeorganisationen von Enthüllungsjournalisten aufmerksam (www.ire.org, www.journalism.org). Eine weitere Website von Journalisten befasst sich ausschließlich mit der Problematik der Desinformation (www.frontgroups.org).

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Preis für behinderte Medienschaffende

Zum zweiten Mal schreibt in diesem Jahr die gewerkschaftsnahe Otto Brenner Stiftung zwei Preise und Stipendien für Journalist*innen mit Behinderung aus. Damit soll „ein klares Signal für die Förderung von Diversität als unverzichtbaren Wert in unserer demokratischen Gesellschaft“ gesetzt werden, sagt Jupp Legrand, Geschäftsführer der Stiftung. 
mehr »

Italien: Neun Jahre Haft für Recherche?

Drei Reporter*innen der italienischen Tageszeitung Domani müssen mit bis zu neun Jahren Gefängnis rechnen. Die Staatsanwaltschaft Perugia ermittelt gegen sie, weil sie vertrauliche Dokumente von einem Beamten angefordert und erhalten und das Geheimhaltungsprinzip der Ermittlungen verletzt haben sollen. Die dju-Bundesvorsitzende Tina Groll kritisierte, dass „hier investigative Berichterstattung über Mitglieder der italienischen Regierung unterdrückt werden soll."
mehr »

KI darf keine KI-Texte nutzen

Die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der KI im eigenen Metier wird Journalist*innen noch lange weiter beschäftigen. Bei der jüngsten ver.di-KI-Online-Veranstaltung ging es um den Anspruch an Gute Arbeit und Qualität. ver.di hat zum Einsatz von KI Positionen und ethische Leitlinien entwickelt. Bettina Hesse, Referentin für Medienpolitik, stellte das Papier vor, das die Bundesfachgruppe Medien, Journalismus und Film zum Einsatz von generativer Künstlicher Intelligenz im Journalismus erarbeitet hat.
mehr »

RSF: Vertrauen Sie der freien Presse!

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wählt in diesem Jahr ein neues Staatsoberhaupt oder eine neue Regierung, Regional- oder Kommunalpolitiker. Gleichzeitig begeht die deutsche Sektion von Reporter ohne Grenzen (RSF) ihr 30-jähriges Bestehen. Grund genug für die Kampagne „Erste Worte“. Unterschiedliche Menschen hören Auszüge aus den Antrittsreden ihrer Präsidenten: Wladimir Putin aus dem Jahr 2000, Nicolás Maduro aus dem Jahr 2013 und Recep Tayyip Erdogan 2014.
mehr »