Vernachlässigtes

Recherche-Handwerk und journalistisches Selbstverständnis

Die Initiative Nachrichtenaufklärung kümmert sich nicht nur um vernachlässigte Nachrichten und Themen. Sie bringt an drei Hochschulen jährlich rund 100 Studierenden das Recherche-Handwerk bei.

Oft finden Nachrichten und Themen die Öffentlichkeit nicht. Entweder weil der aktuelle Aufhänger oder das Personal vor Ort fehlt oder weil ein Anzeigenkunde sich an einem bestimmten Thema stören könnte. Manchmal, weil der Widerstand gegen eine Veröffentlichung zu groß ist, die Recherche schwierig und das Thema komplex ist. Mitunter auch, weil schlicht und einfach der Platz fehlt. Wichtiger Platz, der aber für Themen genutzt wird, über die bereits im Überfluss berichtet wird.
Die „Initiative Nachrichtenaufklärung“ (INA) versucht, vernachlässigten Themen und Nachrichten systematisch auf die Spur zu kommen. Zum einen setzt sie darauf, dass Bürger, Experten und Organisationen Themen einreichen, die sie für relevant und vernachlässigt halten. Zum anderen pflegt die INA auch zahlreiche Kontakte zu Journalisten, Experten und Nicht-Regierungsorganisationen. Auf diese Weise erreichen die INA jährlich im Durchschnitt rund 140 Themenvorschläge. Über 100 davon werden nicht an die Jury weitergeleitet, weil sie entweder sachlich nicht richtig oder nicht vernachlässigt sind.
Seit 1997 veröffentlicht INA jährlich eine Top-Ten-Liste, die diese Themen einer breiten Öffentlichkeit kenntlich und zugänglich macht. An der Themenauswahl des Jahres 2007 wirkten rund 90 Studierende mit – im Rahmen von Recherche-Seminaren am Institut für Journalistik der TU Dortmund, am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Bonn sowie am Fachbereich Media der Hochschule Darmstadt. Koordiniert wird die Recherche über eine webbasierte Kollaborationsplattform.
Regelmäßig stellt die INA Defizite in der sozialen Berichterstattung fest: So berichten Medien zu wenig über die Situation von Asylbewerbern. Die Lage sozial schwacher, alter oder chronisch kranker Menschen ist ebenfalls ein Thema, das regelmäßig auf der Top-Ten-Liste der vernachlässigten Themen landet. Im Jahr 2004 waren gleich zwei Asylthemen prominent vertreten. Obgleich die Medienberichterstattung sich vernehmlich mit Politik beschäftigt, gibt es auch hier immer wieder Defizite – so werden Bürger nur selten gründlich über die Bedeutung und Funktionsweisen europäischer und internationaler Einrichtungen aufgeklärt. Auch Verbraucherthemen und komplizierte technische Sachverhalte mit gesellschaftlicher Relevanz gehören zu den Dauergästen auf der Liste.
Ein erklärtes Ziel der Initiative Nachrichtenaufklärung ist es, Journalisten zur Reflexion ihrer Arbeit und zur Recherche von komplexen Themen anzuregen. Die Wirkung der Top-Ten-Liste lässt sich allerdings nur schwer abschätzen. Ein Einzelfall stellt das Greenpeace Magazin dar. Es ließ im Jahr 2006 den Journalisten Toralf Staud das Thema „Strategie der Abhängigkeit – Irakische Bauern müssen Lizenzgebühren für Saatgut zahlen“ vor Ort im Irak nachrecherchieren. Es präsentierte seine Reportage unter dem Titel „Der vierte Golfkrieg“. Die meisten Medien begnügen sich allerdings mit dem Vermelden der neuesten Top-Ten-Liste, die so zur Nachricht unter vielen Nachrichten wird.
Oftmals geraten INA-Themen jedoch Monate später in die Schlagzeilen: Das Thema „Vom Petro-Dollar zum Petro-Euro: Iran plant neue Ölbörse“, das auf der Top-Ten-Liste von 2005 vorgestellt wurde, schaffte es zwei Monate später auf die Seite1 der Süddeutschen Zeitung. Das Hauptziel der INA ist es jedoch, Studierende das Recherchehandwerk mit lebensnahen Themen beizubringen, wie sie ihnen Leser- oder Informantenhinweise in der Berufspraxis begegnen würden. Seit 1997 wurden so mehrere 100 Studierende auf fast 1.000 schwierige Themen angesetzt, die sie erfolgreich erfassten, hinsichtlich Relevanz und Vernachlässigung bewerteten und aufarbeiteten.
Beispielsweise machte ein Experte das Seminar Bonn darauf aufmerksam, dass es bei der Vergabe des Entwicklungsauftrags für das Raketenabwehrsystem MEADS Ungereimtheiten gegeben habe. Der studentische Rechercheur konnte dafür zunächst keine Hinweise finden. Die Pressedatenbanken zeigten zwar, dass die Entscheidung für MEADS politisch kontrovers in vielen überregionalen Tageszeitungen diskutiert wurde und, dass große Zweifel an dem Sinn des Projekts bestanden. Die Auftragsvergabe selbst beleuchteten die gefundenen Artikel jedoch nicht. Erst ein weiterer Experte benannte inhaltliche und formale Mängel von Expertengutachten, die die Kaufentscheidung gestützt hatten. Zudem verwies er den Rechercheur auf einen Bericht des WDR-Magazins „Monitor“. Dieser zeigte Verbindungen der Gutachter zum Rüstungskonzern EADS auf, der von dem Entwicklungsauftrag profitierte. Die Geschichte wurde der Jury vorgelegt. Die wiederum darauf aufmerksam machte, dass der „Monitor“-Bericht bereits Gegenstand einer gerichtlichen Auseinandersetzung gewesen war, in der sich der WDR durchsetzen konnte. Das Thema landete schließlich auf Platz 7 der Liste des Jahres 2006.
Inzwischen ist die INA zu einem wichtigen Baustein in der Ausbildung von Journalisten und Kommunikationswissenschaftlern geworden. Sie zeigt ihnen nicht nur anhand der Nachrichtenwerttheorie, sondern an konkreten Beispielen, wie und aus welchen Gründen Nachrichten und Themen in den Medien aufgegriffen oder vernachlässigt werden. Auf diese Weise sensibilisiert sie die Studierenden für die Notwendigkeit einer gründlichen Recherche und zeigt ihnen mögliche Schwierigkeiten bei der Erarbeitung bestimmter Themenkomplexe. Sie ermöglicht ihnen ein Hineinschnuppern in den investigativen Journalismus und das Herausbilden eines eigenen journalistischen Selbstverständnisses.

 


Zur Autorin

Christiane Schulzki-Haddouti ist seit 2000 in der Jury der INA und leitete zahlreiche Recherche-Seminare an der TU Dortmund und der Universität Bonn.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Aktivrente: Keine Option für Freie

Ein Bestandteil des derzeit kontrovers diskutierten “Rentenpakts” ist die sogenannte Aktivrente. Wer trotz Ruhestand weiter erwerbstätig ist, bekommt einen Steuerbonus. Doch das geplante Gesetz enthält eine Schieflage: Freie Journalisten oder Autorinnen sind wie andere Selbstständige von der Regelung ausgenommen.
mehr »

Initiative: KI besser nutzbar machen

Der Dominanz der globalen Big-Tech-Konzerne etwas entgegensetzen – das ist das Ziel einer Initiative, bei der hierzulande zum ersten Mal öffentlich-rechtliche und private Medienanbieter zusammenarbeiten. Sie wollen mit weiteren Partnern, vor allem aus dem Forschungsbereich, ein dezentrales, KI-integriertes Datenökosystem entwickeln. Dadurch soll die digitale Souveränität und Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Medienstandorts gestärkt werden.
mehr »

Anteil von Frauen in Führung sinkt

Nach Jahren positiver Entwicklung sinkt der Anteil von Frauen in Führungspositionen im Journalismus das zweite Jahr in Folge. Der Verein Pro Quote hat eine neue Studie erstellt. Besonders abgeschlagen sind demnach Regionalzeitungen und Onlinemedien, mit Anteilen von knapp 20 Prozent und darunter. Aber auch im öffentlichen Rundfunk sind zum Teil unter ein Drittel des Spitzenpersonals weiblich.
mehr »

dju fordert Schutz für Medienschaffende

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di fordert nach dem erschreckend milden Urteil im Verfahren zum Angriff auf Journalist*innen in Dresden-Laubegast staatlich garantierten Schutz für Medienschaffende. Über zehn Männer hatten im Februar 2022 in Dresden-Laubegast am Rande einer Demonstration im verschwörungsideologischen Milieu sechs Journalist*innen und ihren Begleitschutz angegriffen.
mehr »