„Vocer“ für Medienkritik

Neues Debattenportal sieht sich als Pionier der Slow Media Bewegung

Auf große Resonanz stößt „Vocer“, ein Non-Profit-Portal für „Medien.Kritik.Debatte“, das am 31. Januar offiziell startete. Knapp eine Woche später haben fast 500 Facebook-Nutzer den „Gefällt mir“-Button geklickt. Medien wie das Hamburger Abendblatt oder der Spiegel würdigen das „Kursbuch für die moderne Medienwelt“, wie Initiator Stephan Weichert das Internetprojekt bewirbt. Was und wer steckt hinter „Vocer“?


„Vocer begleitet die digitale Medienrevolution und analysiert kritisch die damit verbundenen sozialen und kulturellen Folgen“, erklärt Stephan Weichert, Journalistik-Professor an der privaten Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) in Hamburg. Der 38-jährige Weichert ist wie seine engsten Mitstreiter mit digitalen Medien sozialisiert und bestens vernetzt. Ziel von „Vocer“ sei es, kontroverse Debatten über Medienqualität in Deutschland anzustoßen und zusammenzuführen.

Die Stimme erheben. „Vocer“ ist ein Kunstname, der seine Wurzeln im Lateinischen hat und so viel wie „die Stimme erheben“ bedeuten soll. Diese Stimme wird vor allem in Medienwissenschaft und Journalismus gehört, bestätigt Redaktionsleiterin Carolin Neumann erste Eindrücke von den Portalinhalten. „Vocer“ richte sich aber nicht nur an die Branche, sondern darüber hinaus an alle, die sich für die digitale Gesellschaft interessieren.
Das Portal bietet wortstarke Kolumnen wie die von NDR-Reporter Christoph Lütgert zur Causa Wulff und längere medienkritische Texte gebündelt in Dossiers zu Themen wie „Kritik der Medienkritik“ oder „Medienmacher von morgen“. Unter „Digitale Mediapolis“ gibt es auch Interviews im Video. Die Beiträge sind Erstveröffentlichungen oder erschienen bereits bei Kooperationspartnern. So findet sich im Dossier „Der neue Journalismus“ z.B. ein Essay des Hamburger Journalistikprofessors Volker Lilienthal über die „öffentlichen Vordenker“, der 2010 in der Sueddeutsche.de-Reihe „Wozu noch Journalismus?“ publiziert wurde. Die Reihe stellte Weichert mit Leif Kramp, einem seiner „Vocer“-Mitherausgeber, bereits mit Blick auf das Internetprojekt zusammen. Etwa die Hälfte der Texte seien Zweitveröffentlichungen, die anderen Originale, so Redaktionsleiterin Neumann.

Ziel ist hintergründiges Reflektieren. Im Unterschied zu anderen Medienportalen und -blogs zielt „Vocer“ nicht auf tagesaktuelle Kritik, sondern auf hintergründiges Reflektieren über journalistisches Handeln, seinen Output und die Mediennutzung in der schnelllebigen digitalen Welt. „Wir verstehen uns als einer der Pioniere der Slow Media Bewegung in Deutschland“, erläutert Neumann. Slow Media entstand in den USA, gelangte über Großbritannien nach Europa und ist inzwischen auch in Deutschland angekommen.
Der Bewegung geht es um eine Entschleunigung des Journalismus, mehr Zeit und Geld für intensive Recherchen, die Medienqualität erst ermöglichen. Zwei Prominente der Slow-Media-Idee kommen bei „Vocer“ zu Wort: Paul Steiger, Gründer der US-amerikanischen Organisation „Pro Publica“, die mit ihrem investigativen Journalismus den Pulitzerpreis gewann und Sabria David, Mitherausgeberin des 2010 verabschiedeten Slow Media Manifests in Deutschland.
Steiger meint, ein wirtschaftlich unabhängiges Projekt wie das Redaktionsbüro „Pro Publica“, das sich über Stiftungsgelder finanziert, könne auch in Deutschland funktionieren, wo es doch auch „noch ein paar Milliardäre“ gebe. Aber bisher klappt das Slow-Media-Modell hierzulande nur im Kleinen: So wird die vom „Verein für ganzheitlichen Journalismus“ herausgegebene Online-Zeitung Kontext:Wochenzeitung von Stuttgarter Bürgern getragen. Auch „Vocer“ finanziert sich über Stiftungsgelder und Spenden, um unabhängig über die Medienbranche berichten zu können. Das Geld für den technischen und redaktionellen Betrieb kommt von der Stiftung Pressehaus NRZ, der Bundeszentrale für politische Bildung, Rudolf-Augstein-Stiftung und Fazit-Stiftung sowie Privatspendern. Die Summen bewegen sich wohl noch in anderen Dimensionen als in den USA. Für ihre Redaktionsleitung erhält die freie Journalistin Carolin Neumann ein Honorar, doch die zumeist renommierten und finanziell abgesicherten Autoren und Autorinnen aus Medien und Wissenschaft schreiben ohne Entgelt für „Vocer“. Herausgeber Weichert meint aber, dass es bald möglich ist, die Kolumnen zu honorieren und Mittel für freie Journalisten bereitzustellen, die Rechercheaufträge übernehmen.

Medienlabor für journalistischen Nachwuchs. Träger von „Vocer“ ist der gemeinnützige Verein für Medien- und Journalismuskritik (VfMJ) in Hamburg, der 2009 gegründet wurde, um Medienkritik und journalistische Nachwuchsförderung miteinander zu verbinden. So bietet „Vocer“ neben der Denkfabrik auch ein Medienlabor, in dem der journalistische Nachwuchs sich ausprobieren kann. In Kooperation mit der Hamburger MHMK entstand ein Projekt zu Datenjournalismus, aus dem der Beitrag „Mundtot – Journalisten hinter Gittern“ hervorging. Studierende haben die Jahresbilanz 2011 von Reporter ohne Grenzen datenjournalistisch aufgearbeitet: Ausgehend von einer Weltkarte und Länderflaggen lassen sich Hintergrundberichte und Einzelschicksale abrufen – ein nutzerfreundliches Resultat aus dem Zusammenspiel von technischen Entwicklern und Redaktion. Nun sind die Kommentare von Lesern und Leserinnen gefragt – damit das Debattenportal „Vocer“ auch außerhalb des eigenen Dunstkreises Gehör findet!

http://www.vocer.org/

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Von Erbsensuppe und neuen Geschichten

„Vielfalt schützen, Freiheit sichern – 40 Jahre duale Medienordnung im föderalen Deutschland“. Dies war das Thema des Symposiums, das am 23.  April in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Ausrichter war die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM).  Teilnehmer waren Verantwortliche aus Medienpolitik und -wissenschaft, Rundfunkregulierung und Medienunternehmen.
mehr »

Preis für behinderte Medienschaffende

Zum zweiten Mal schreibt in diesem Jahr die gewerkschaftsnahe Otto Brenner Stiftung zwei Preise und Stipendien für Journalist*innen mit Behinderung aus. Damit soll „ein klares Signal für die Förderung von Diversität als unverzichtbaren Wert in unserer demokratischen Gesellschaft“ gesetzt werden, sagt Jupp Legrand, Geschäftsführer der Stiftung. 
mehr »

KI darf keine KI-Texte nutzen

Die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der KI im eigenen Metier wird Journalist*innen noch lange weiter beschäftigen. Bei der jüngsten ver.di-KI-Online-Veranstaltung ging es um den Anspruch an Gute Arbeit und Qualität. ver.di hat zum Einsatz von KI Positionen und ethische Leitlinien entwickelt. Bettina Hesse, Referentin für Medienpolitik, stellte das Papier vor, das die Bundesfachgruppe Medien, Journalismus und Film zum Einsatz von generativer Künstlicher Intelligenz im Journalismus erarbeitet hat.
mehr »

Unabhängige Medien in Gefahr

Beim ver.di-Medientag Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen diskutierten am 20. April rund 50 Teilnehmende im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig die aktuelle Entwicklungen in der Medienlandschaft, die Diversität in den Medien und Angriffe auf Medienschaffende. Das alles auch vor dem Hintergrund, dass bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die AfD laut Umfragen stark profitiert. 
mehr »