Mehrere deutsche Regierungen haben Putin zum Partner in Politik und Wirtschaft gemacht – Osteuropäer und Amerikaner haben davor gewarnt. Hätte man es besser wissen müssen oder können? Ein Gespräch mit Jürgen Döschner, langjähriger Russlandkorrespondent für die ARD und Fachjournalist für Energie und Klimafragen beim WDR, über das brutale Vorgehen des russischen Präsidenten im Krieg gegen die Ukraine, die Politik der Bundesregierung und die Verantwortung der Medien.
Jürgen Döschner | Wie man sieht, konnte man sich irren, vielleicht wollte man sich auch irren. Aber wer genau hingesehen, genau zugehört hat, der hätte schon sehr früh wissen können, dass Putin nicht der ist, als den er sich ausgegeben hat. Ich habe damals als Moskau-Korrespondent (1997-2002) den Wechsel von Jelzin zu Putin mitbekommen, und er hat schon 1999, als er noch Ministerpräsident war, den zweiten Tschetschenienkrieg gewissermaßen provoziert. Es gab diese Explosionen ganzer Wohnblöcke in Moskau und anderen Städten, wo bis heute nicht klar ist, ob nicht der russische Geheimdienst dahintersteckte, von dem Putin ja kam. Diese Explosionen dienten als Rechtfertigung für den erneuten Krieg gegen Tschetschenien, und Putin führte diesen Krieg mit extremer Brutalität. Ich war selbst 1999 in Grosny, als der Marktplatz mit Raketen beschossen worden ist, wo es mehr als 500 Tote gegeben hat – fast ausschließlich Frauen und Kinder. Putin ist ein skrupelloser Machtmensch, der von Anfang an zeigte, dass er über Leichen gehen würde. Mich hat sehr gewundert, dass Putin 2001 nach seiner Rede im Bundestag von allen Fraktionen – wirklich von allen – mit stehendem Applaus gefeiert wurde.
Putins ausgestreckte Hand war schon 2001 voller Blut
Eine der wenigen Ausnahmen war der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz. Er hat erst kürzlich in einem Interview im Deutschlandfunk gesagt, dass die meisten damals in Putin den „Enkel Gorbatschows“ gesehen hätten, aber dass schon damals, 2001, unübersehbar war, dass die Hand, die er den Europäern reichte, voller Blut war. Da war ja bekannt, was Putin in Tschetschenien gemacht hat. Er war der „Schlächter von Grosny“. Und er hat auch in der Rede im Bundestag einige Dinge gesagt, die hätten aufhorchen lassen müssen. Zum Beispiel die Passage über die Zukunft Europas. Russland wolle Teil des neuen, starken Europa werden, hatte er gesagt, aber um diese Stärke zu erlangen, müsse sich Europa mit Russland und seinen menschlichen, wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen verbinden. Russland müsse eine gleichberechtigte Stimme in Europa sein, so in etwa hat er sich ausgedrückt. Da hätte ich mich als Abgeordneter schon gefragt, ist das das Europa, das uns vorschwebt? Denn die Grundwerte Europas und die Grundwerte des Russlands von Putin sind sehr, sehr verschieden. Putin hatte damals schon angefangen, die kleinen Pflänzchen der Pressefreiheit, die es unter Jelzin gegeben hatte, wieder zu zerstören. Er hatte den russischen Fernsehsender NTV auf Staatslinie gebracht. Es hat viele Anzeichen für eine Roll-Back-Bewegung gegeben, was auch die Freiheiten der NGOs anging. Als Putin 2000 zum Präsidenten gewählt worden ist, habe ich ihn in einem Porträt für die ARD als den „Mann mit den 1000 Gesichtern“ bezeichnet, der zwar nur selten, aber immerhin ab und zu, sein sehr brutales „wahres Gesicht“ gezeigt hat. Diese Informationen standen schon damals allen offen, nicht nur uns Journalisten.
M | Welche Rolle spielte die Wirtschaft beim Slogan „Wandel durch Handel“?
Ich habe einige Meetings als Referent und als Gast besucht, die von Wirtschaftskreisen zum Thema Russland veranstaltet wurden. Und ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass die Wirtschaft über den Wechsel von Jelzin zu Putin gejubelt hat, nach dem Motto: Jetzt kommt endlich jemand, der bringt Ordnung in dieses große Land. Man kann natürlich über Jelzin viel Kritisches sagen. Aber das Land war in einem Umbruch nach Gorbatschow. Dieser Umbruch hat viel Chaos und Unsicherheit geschaffen – aber auch viele neue Freiheiten. Man hätte dem Land eine Chance und die Zeit geben müssen, sich zu wandeln. Aber Putin hat den Prozess aufgehalten und zurückgedrängt, um eine Friedhofsruhe zu schaffen. Und die Wirtschaft wollte genauso Ruhe haben, das hat die deutsche Wirtschaft ganz klar gezeigt. Ich war auf einer Veranstaltung in Berlin mit Bankern, da wurde keinerlei Kritik an Putin zugelassen. Der Metallarbeitgeberverband in Bayern hat bei anderer Gelegenheit sehr ähnlich reagiert. Die Geschäfte liefen dann ja auch sehr gut. Die deutschen Investitionen in Russland – nicht nur im Bereich Energie, sondern auch in der Automobilindustrie, im Maschinenbau, Bauwesen und der Handel sind gewachsen. Darüber haben sich die Wirtschaftsvertreter gefreut. Das magische Wort hieß „Stabilität“. Aber niemand schien sich Gedanken darüber zu machen, zu welchem Preis diese „Stabilität“ erkauft wurde. Das war meiner Meinung nach von Anfang an gefährlich. Meine Argumentation – auch gegenüber Wirtschaftsvertretern – war: ihr freut euch jetzt, ihr macht gute Geschäfte, aber ihr werdet irgendwann erkennen, dass das auch zu eurem Schaden ist, was da läuft. Es hat 20 Jahre gedauert, aber jetzt sieht man, was passiert ist. Eine gute Wirtschaft kann eben langfristig auch nur in einer gut funktionierenden Gesellschaft bestehen.
Welche Rolle haben die Medien und die Presse gespielt? Sind sie ihrer Aufklärungspflicht nachgekommen? Oder hätten sie kritischer informieren müssen?
Meine Kritik auch an der Berichterstattung über Putin, schon 1999 und 2000 als er Präsident wurde, war immer, dass man wahnsinnig genau hinhören muss, was er sagt und ob er das, was er sagt, wirklich so meint. Zwischen den Zeilen ließ er durchblicken, was er wirklich meint. Wenn er zum Beispiel von Terrorismusbekämpfung gesprochen hat, wie damals 2001 im Bundestag, dann musste man im Hinterkopf haben, dass er die Tschetschenen, also ein ganzes Volk, als Terroristen bezeichnet hat. Das war seine Rechtfertigung für die Gewalt und Brutalität, mit der er gegen die nach Unabhängigkeit strebenden Tschetschenen vorgegangen ist. Er hat Zivilisten getötet, er hat Flüchtlingskonvois beschossen, er hat Grosny in Schutt und Asche gelegt. All das, was wir jetzt in Butscha, in Charkiv, in Mariupol und anderen Städten der Ukraine sehen – das hat Putin genauso bereits in Grosny und später in Syrien getan. Jeder konnte es sehen, aber wir wollten es nicht sehen.
Medien erkannten Täuschungsmanöver nicht
Wenn Journalistinnen und Journalisten mit diesem Mann zu tun haben, müssen sie immer sofort alle Antennen aufgerichtet und ganz große Zweifel im Hinterkopf haben. Es hat mich sehr gewundert, als Bundeskanzler Scholz kurz vor Beginn des Krieges nach Moskau gefahren ist und Putin ihm gesagt hat, man ziehe die Truppen von der ukrainischen Grenze ab. Wie Scholz da von Politiker*innen und manchen Medien gefeiert wurde, er sei mit einem Erfolg aus Moskau zurückgekommen. Wer Putin einigermaßen kennt, der hätte zumindest nicht ausschließen dürfen, dass das ein grandioses Täuschungsmanöver war. Wir alle, Politik und Medien, sollten spätestens jetzt erkennen, dass man Putin kein Wort mehr glauben darf. Wir können ihm nicht trauen, wenn er sagt, „ich drehe den Gashahn nicht zu“. Und dann muss man sich auch darauf vorbereiten, dass man selber auf Gas verzichtet. Man muss sich unabhängig von Putins Aussagen machen, das ist eigentlich selbstverständlich. Er ist ein Lügner, er ist ein Kriegsverbrecher. In der Vergangenheit konnte man noch sagen, so genau kannten wir ihn nicht, aber heute liegt es wirklich offen vor einem, dass Putin über Leichen geht, dass er internationales Recht bricht und dass er Menschen, die vor ihm stehen – selbst wenn es der deutsche Bundeskanzler ist – ins Gesicht lügt und Verträge bricht. Darauf kann man nicht bauen, schon gar nicht eine Politik, von der unser aller Wohlergehen abhängig ist.
22 Jahre Putin – wie hat das die russische Gesellschaft verändert?
Als ich 1997 als Korrespondent nach Moskau ging, war schon Jelzin an der Macht, und die Gesellschaft war, zumindest in den großen Städten, wahnsinnig lebendig. Es gab viele kleine Organisationen, Initiativen, freie Presse und es gab den Versuch, neue politische Parteien aufzubauen. Ich habe Russland immer sehr gemocht, ich mag es auch heute noch. Schließlich war es in gewisser Weise ein Russe, der mir die Tür zum WDR geöffnet hat. Durch einen Zufall bekam ich noch zu meiner Studentenzeit, kurz nach der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen, ein exklusives Interview mit Lew Kopelew. Die Radiobeiträge darüber waren natürlich Teil meiner Bewerbungsmappe.
Egal, wo ich hingefahren bin, nach Tschetschenien oder Dagestan, nach Sibirien oder in den fernen Osten – ich habe überall herzensgute Menschen getroffen. Diese Menschen haben es eigentlich verdient, dass ihre Hoffnungen auf ein wirtschaftlich besseres und freieres Leben erfüllt werden. Das gilt für Russland, aber auch für alle ehemaligen Sowjetrepubliken, die meist noch ärmer dran waren als Russland. Die Tatsache, dass das Land auch damals schon seinen „Wohlstand“ auf den Export von Rohstoffen und den militärisch-industriellen Komplex stützte, haben viele Politiker bemängelt, und sie haben alle versprochen, dass sie das ändern würden. Das war bei Jelzin so, das hat Putin gesagt – aber sie haben es bis heute nicht geschafft.
Damit einher ging dann beim Wechsel von Jelzin zu Putin, dass auch noch die zarten Pflänzchen der Demokratie und der Entwicklung einer lebendigen Zivilgesellschaft zertreten wurden. Das hat mich sehr frustriert, und das hat vor allem viele Leute in Russland selbst frustriert. Ich bin mir sicher, es gibt viele Menschen, die auch über das, was da jetzt läuft, erschüttert sind – nicht nur die, die auf die Straße gehen, sondern auch die, die sich das nicht trauen.
Man hört wenig von der Opposition. Ist die Ukraine kein Thema bei der russischen Opposition?
Eine Opposition braucht ein Minimum an Freiraum, damit sie sich entwickeln kann. Der Punkt ist der, dass bestimmte Bedingungen dazu führen, dass bestimmte Leute jetzt die Opposition repräsentieren – ob das Chodorkowsky ist, ein Oligarch, der viel Geld gemacht hat mit nicht immer legalen Geschäften, oder ein Nawalny, der teils durch rassistische Äußerungen aufgefallen ist. Dass solche Leute an der Spitze der Opposition stehen, ist auch ein Produkt der putinschen Politik. Er hat Politiker wie Boris Nemzow erschießen lassen, hat zahlreiche Journalistinnen und Journalisten ermorden oder ins Gefängnis stecken lassen. Dass es Fehlentwicklungen, dass es eine Schwäche der Opposition in Russland gibt, das kann man nicht der Opposition zum Vorwurf machen, sondern der Verantwortliche auch dafür ist Putin.
Nach wie vor wiederholen Medien Statements von Putin oder Lawrov, so als wären sie eine echte Nachricht wert. Müssen wir denn alle Seiten gleichwertig nennen, ist vermeintliche Neutralität immer angebracht?
Der US-Amerikanische Journalistik-Professor Jonathan Foster hat einmal gesagt: „Wenn jemand sagt, es regnet, und ein anderer sagt, es scheint aber die Sonne, dann ist es nicht dein Job, beide zu zitieren. Dein Job ist, aus dem Fenster zu gucken und rauszufinden, was stimmt.“ Wir alle kennen diese Debatte aus dem Klimajournalismus. „Neutralität“ ist oft eine Falle, in die du als Journalist meist von jenen gelockt wirst, die kein Gewicht, weil keine Argumente haben. Es ist unser Job als Journalist*innen, Fakten zu checken, Aussagen zu gewichten, Nachrichten einzuordnen und ihre Bedeutung zu bewerten. Das alles ist subjektiv – geprägt von Vorkenntnissen, der eigenen Geschichte, dem persönlichen Umfeld.
Journalisten sind keine „neutralen“ Roboter
Wir müssen professionell sein und unabhängig. Aber neutral sein können wir nicht. Bezogen auf Putin im Allgemeinen und seinen Krieg gegen die Ukraine heißt das zum Beispiel für mich persönlich: Ich betrachte, gewichte und bewerte die Worte und Taten Putins in diesen Tagen vor dem Hintergrund der überprüfbaren Fakten, meiner langjährigen Erfahrungen und Kenntnisse über diesen Menschen und das System, aber auch vor dem Hintergrund meiner Erziehung, Bildung und Wertevorstellungen. Das macht Journalismus aus, dass wir eben keine vermeintlich „neutralen“ Roboter sind, sondern professionelle Sammler, Analytiker und Präsentatoren von Ausschnitten der Realität. In Krisen wie jetzt beweist sich, wie gut Journalist*innen und Medien sind. Wir dürfen uns nie als reine Verstärker für jene verstehen, die etwas verkünden wollen.
Noch verhindert die Bundesregierung ein Öl- und Gasembargo und füttert Putin mit Geld. Sie ist nicht mal in der Lage, verpflichtende Energiesparmaßnahmen wie ein Tempolimit durchzusetzen. Glaubst du, da kommt noch was?
Ich fürchte, das kommt erst dann, wenn es unvermeidbar ist. Wenn Putin hingeht und sagt, er dreht den Hahn zu, dann wird es kommen müssen. Aber das ist ein bisschen so wie bei der Klimakrise. Den Menschen wird vorgegaukelt, wir schaffen das schon, wir können die Probleme lösen, ohne dass wir etwas davon spüren, ohne dass sich unser Leben dadurch verändert. Alles geht so weiter wie bisher, man kann auf der Autobahn mit 180 fahren, man kann billigen Sprit bekommen und wenn der nicht billig genug ist, dann geben wir noch Subventionen drauf. Diese Illusion, wir könnten diese großen Probleme lösen, ohne dass wir das in irgendeiner Weise spüren, führt zu Brüchen. Sie führt dazu, dass irgendwann die Katastrophe so groß ist und so viel Zeit vertan worden ist, dass die Schnitte, die gemacht werden müssen, umso härter und umso stärker spürbar sind. Da sehe ich auch eine Verantwortung der Medien.
Medien müssen weg vom reaktiven hin zum aktiven Modus
Wenn Politik versagt, dann müssen wir Medien auch darauf hinweisen. Im Bereich des Klimajournalismus haben wir häufig versäumt, deutlich zu sagen, dass man tatsächlich Einschränkungen hinnehmen muss – und wenn es nur eine so marginale Einschränkung ist, dass man auf der Autobahn eben nur maximal 130 fahren kann. Wir sollten als Medien jetzt in den aktiven Modus, weg vom Reaktiven schalten. Also nicht sagen: Ups, das ist jetzt auch schlimm, jetzt müssen wir das auch noch machen – stattdessen erkennen und benennen, wie man es besser macht. Da haben wir als Öffentlich-Rechtliche auch den Bildungsauftrag und wir haben den Auftrag, Grundrechte zu verteidigen. Und natürlich hätten wir die Pflicht, da konstruktiv in die Debatte mit einzugreifen, indem wir zeigen, wo läuft es falsch und wo sollte man korrigieren, um auch den gesellschaftlichen und politischen Kurs mitzubestimmen.