Zunahme der Zerrbilder

Sensibilität und Reflexion in Berichten über Integration gefordert

Massenmedien beeinflussen die öffentlichen Diskurse über Zuwanderung, Flüchtlinge und Ausländer sowohl positiv als auch negativ – das ist bekannt und unumstritten. Wie sich dieser Einfluss aktuell darstellt, damit beschäftigt sich das von den Politikwissenschaftlern Professor Christoph Butterwegge und Professor Gudrun Hentges herausgegebene Buch „Massenmedien, Migration und Integration / Herausforderung für Journalismus und politische Bildung“. Mit Christoph Butterwegge, dem Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft und Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien an der Universität Köln, sprach Ulla Lessmann.

M | Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit diesem Thema, in Buchform zuletzt 1999. Gibt es Tendenzen, die Ihnen eine aktuelle Analyse nahelegen?

CHRISTOPH BUTTERWEGGE | Wir beobachten eine Klimaverschärfung im medialen Umgang mit Migranten, besonders mit denen muslimischen Glaubens. Es gibt diese Verhärtung und eine Zunahme von Zerrbildern in der Migrationsberichterstattung ab dem 11. September 2001. Seither sind Begriffe wie „Parallelgesellschaften“ oder „deutsche Leitkultur“ salonfähig geworden.

M | Was haben Sie gegen den Begriff „Parallelgesellschaften“?

BUTTERWEGGE | Wenig, sofern er die Richtigen trifft. Für mich sind die wirklich verheerenden „Parallelgesellschaften“ jene der Etablierten, Prominenten und Superreichen, die sich ihrer sozialen Verantwortung entziehen, indem sie – wenn überhaupt – woanders ihre Steuern zahlen. Leute wie Beckenbauer, Klinsmann und Schumacher schotten sich ab oder verabschieden sich ganz aus unserem Gemeinwesen. Das sind „Wirtschaftsflüchtlinge“, nicht arme Zuwanderer, die hoffen, hier zu überleben. Statt das zu thematisieren, richten viele Journalisten solche Schlagworte gegen die sozial Schwachen, während sie die Genannten als „Kaiser“ oder „nationale Helden“ anhimmeln.

M | Eigentlich richtet sich der Vorwurf nur gegen die türkischen Communities.

BUTTERWEGGE | Ja, weil seit dem 11. September der Islam ein Feindbild ist, wie es der Sowjetkommunismus in den 50er-Jahren war. Man könnte als Journalist auch mal fragen, ob es nicht normal für Menschen ist, sich dort niederzulassen, wo die Herkunftssprache gesprochen wird, wo man seinesgleichen trifft und wo ich Beziehungen nutzen kann, die Landsleute in ähnlicher Lage geknüpft haben. Das haben in die USA ausgewanderte Deutsche im 19. Jahrhundert genauso gemacht wie heute türkische Migranten hier. In New York oder San Francisco ist Chinatown eine touristische Attraktion, unsere viel weniger homogenen Ausländer- viertel beschimpft man als „Parallelgesellschaften“.

M | Die Forderung der Medien lautet derzeit: Integriert euch gefälligst und lernt Deutsch!

BUTTERWEGGE | Integration wird als Einbahnstraße begriffen, als Bringschuld der Migranten. Dabei hat auch die Aufnahmegesellschaft eine Verpflichtung, nämlich genügend Sprach- und Integrationshilfen anzubieten. Die dafür nötigen Mittel kürzt man gegenwärtig, worüber jedoch kaum berichtet wird.

M | Sie konstatieren statt dessen in den Medien eine stark zunehmende „Ethnisierung sozialer Konflikte“. Was heißt das?

BUTTERWEGGE |
 Dafür liefert die Überschrift „Türken überfielen Tankstelle“ ein gutes Beispiel. Denn sie erweckt den Eindruck, als sei die Herkunft ursächlich für Kriminalität, obwohl diese eine Folge materieller oder sozialer Probleme ist. Ähnliches gilt für die Ermordung türkischer Frauen durch ihre Männer oder Verwandten: Statistisch gesehen werden viel mehr deutsche Frauen durch ihre deutschen Männer ermordet, aber das ist kein Thema, mit dem man die Gemüter bewegt. Wenn man liest, wie rückschrittlich und archaisch andere Ethnien sind, kann man sich selber fortschrittlich und aufgeklärt fühlen.

M | Den Genderaspekt haben Sie gesondert untersuchen lassen.

BUTTERWEGGE | Meine Kollegin Schahrzad Farrokhzad hat die Konstruktionen der „fremden Frau“ in den Medien analysiert. Da gibt es die Muslimin mit Kopftuch, die früher als einfache Landfrau gesehen wurde und jetzt eine islamistische Bedrohung darstellt, aber die beruflich erfolgreiche oder studierte Türkin ohne Kopftuch wirkt als potenzielle Terroristin kaum weniger bedrohlich.

M | Warum sollten Journalisten und Journalistinnen weniger rassistisch sein als die Durchschnittsbürger?

BUTTERWEGGE | Weil sie nach meiner Erfahrung informierter, aufgeklärter und weltoffener sind. Trotz des Konkurrenz- und Zeitdrucks erwartet man, dass sie reflektierter und sensibler sind, also „Jugendliche überfielen Tankstelle“ schreiben.

M | In Ihrem Buch weisen sie aber nach, dass der sogenannte seriöse Journalismus à la „Spiegel“ häufig mit sprachlichen Stereotypen, ausgeprägtem Kulturrassismus und angsteinflößenden Bildern arbeitet.

BUTTERWEGGE | Offenbar steckt der Qualitätsjournalismus in einer Krise. Schließlich ist der Neoliberalismus so in alle Poren der Gesellschaft eingedrungen, dass Menschen nurmehr nach ihrer Leistungsfähigkeit beurteilt werden. Der gute Ausländer ist ein nützlicher Ausländer, der eine am Arbeitsmarkt gefragte berufliche Qualifikation mitbringt. Der böse Ausländer ist der, der angeblich Deutschen den Arbeitsplatz wegnimmt und die Sozialsysteme schamlos ausnutzt. Und das geht so weiter: Alte, Kranke und Obdachlose sind auch nicht „nützlich“, auf sie wird herabgesehen.

M | Aber warum tun das auch gut informierte und aufgeklärte Journalisten?

BUTTERWEGGE | Da, wo Journalistinnen und Journalisten sehr gut bezahlt und fest etabliert sind, erliegen sie oft genauso wie andere Menschen der Versuchung, weniger Erfolgreiche zu verachten. Im Wirtschaftsjournalismus kann man sehr gut beobachten, wie sich der Rassismus unter dem Deckmantel der Verwendbarkeit und Rentabilität von Menschen, nicht nur von Migranten, zeigt. Die neoliberale Leistungsideologie ist so dominant, dass alles, was nicht solchen Kriterien entspricht, abgewertet wird. Das trifft Flüchtlinge genauso wie Arbeitslose, Alte und Behinderte.

M | Der Neoliberalismus als Mainstream ist noch nicht so alt. Sie weisen aber nach, dass in vielen Medien uralte Argumentationsmuster ganz aktuell verwendet werden.

BUTTERWEGGE | Was im Kalten Krieg die italienischen Gastarbeiter waren, die den Kommunismus einzuschleppen drohten, sind jetzt Massen von osteuropäischen Prostituierten, die angeblich Seuchen wie Tbc und Aids mitbringen, ukrainische Menschenhändler und russische Banden. Da lebt die „Gefahr aus dem Osten“ wieder auf und semantisch bewegt sich die Berichterstattung hart an der Grenze zum NS-Jargon.

M | Hat es denn Sinn, über Migrantinnen und Migranten etwa als kulturelle Bereicherung zu berichten?

BUTTERWEGGE |
 Nein, denn damit appelliert man gleichfalls an das Eigeninteresse und den Egoismus von Lesern, Fernsehzuschauern oder Radiohörern. Auch ein Rassist hat ja gar nichts gegen Ausländer, wenn sie „uns“ nützen und „wir“ sie ausnutzen. Nie lebten mehr Ausländer hier als während der Nazizeit, überwiegend als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Man darf den einzelnen Menschen nicht nach seiner Nützlichkeit beurteilen, wenn alle die gleiche Würde haben sollen, wie es das Grundgesetz verlangt.

M | Ihnen wurde in einer Rezension der Welt am Sonntag vorgeworfen, Sie wollten die Presse daran hindern, über kriminelle Ausländer oder „Ehrenmorde“ zu berichten.

BUTTERWEGGE | Das ist natürlich Quatsch. Die Kriminalitätsstatistik muss ein Journalist aber interpretieren, denn Deutsche können beispielsweise nicht gegen Ausländergesetze verstoßen und weisen deshalb weniger Delikte auf. Auch ist die Kriminalitätsrate der Migranten höher, weil unter ihnen junge Männer überrepräsentiert sind, die besonders schlechte Berufsperspektiven haben. Sonst entsteht ein verzerrtes Bild, das Vorurteile schürt.

M |
 Viele Kollegen sagen, sie gäben doch nur wieder, was die Politik sagt.

BUTTERWEGGE | Das halte ich für eine Schutzbehauptung. Journalisten setzen auch selber Themen und bestimmen mit, worüber öffentlich diskutiert wird. Niemand zwingt sie, Ausländer zu Sündenböcken zu machen oder rassistische Vorurteile zu bedienen, niemand hindert sie, über die Wirkung von Klischees und Stereotypen nachzudenken. Auch wird kaum reflektiert, dass sich der Migrationsdiskurs seit dem 11. September mit einem autoritären Sicherheitsdiskurs überlappt. Da sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, gehört der Gegensatz von „oben“ und „unten“ auf die Agenda, nicht der angeblich unvermeidliche „Kampf der Kulturen“. Manchmal habe ich den Eindruck, dass rechtsextreme Denkmuster in die Mainstream-Medien gewandert sind. Beispielsweise im Demografie-Diskurs das Bild der „aussterbenden“ Deutschen.

M | Also fehlt es den Journalisten nur an Nachdenklichkeit und kritischer Reflexion?

BUTTERWEGGE | Mir ist klar, unter welchem Druck viele Journalisten heute arbeiten. Trotzdem sollten sie manchmal innehalten und an ihre Verantwortung für das soziale Klima und die politische Kultur des Landes denken. Und es sollte mehr qualifizierte Angebote der politischen Weiterbildung für sie geben.

Buchtipp

Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges (Hrsg.), „Massenmedien, Migration und Integration / Herausforderung für Journalismus und politische Bildung“, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, 260 Seiten, 19,90 €

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