Buchtipp: Ein nicht übliches Wendefazit  

Ganz am Ende steht ein Gedankenexperiment – so beliebt wie unzulässig, räumt der Autor selbst ein. Doch spielt er durch, was es für DDR-Bürger bedeutet hätte, wenn die politische Wende nicht 1989, sondern schon am 13. August 1961 eingesetzt hätte. Kein Mauerbau, kein Mauerfall. Ob das Fazit dennoch gelautet hätte: Die große Freiheit ist es nicht geworden? Zu diesem Befund kommt Matthias Krauß jedenfalls, wenn er analysiert, was „sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat“.

Matthias Krauß: Die große Freiheit ist es nicht geworden. Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat. Das Neue Berlin 2019, 256 Seiten, 14,99 Euro, ISBN: 978-3-360-01346-0

Das Gedankenspiel im Abschlusskapitel um den 13. August bietet Abwägungen: Schnelles Westgeld und Reisen, aber Konkurrenz der Facharbeiter Ost mit den frisch ins Land geholten „Gastarbeitern“. Nicht abgeschaffte Prügelstrafe in den Schulen, fortgesetzte Verfolgung von Homosexualität nach § 175, DDR-Frauen, die ihre Männer plötzlich wieder um Erlaubnis für Berufstätigkeit hätten fragen müssen, und Kinder, die nie in ein Betriebsferienlager gefahren wären… Für und Wider dient Matthias Krauß quasi der Zuspitzung. Bei aller Spekulation: Ganz sicher hätten sich Deutschland, Europa und die Welt anders entwickelt, wenn der Zusammenbruch des Sozialismus nicht erst 1989/90 erfolgt wäre.

Doch eigentlich befasst sich der Journalistenkollege in einem weiteren – dem „letzten“ –seiner Aufarbeitungsbücher damit, dass manches hätte anders laufen können, wenn die Weichen nach der Wiedervereinigung differenzierter, feinfühliger, nachhaltiger gestellt worden wären. Wenn sich die Sieger nicht ausschließlich wie Sieger verhielten und bis heute weniger „Wühlarbeit“ gegen das Ansehen des kleineren Nachkriegsdeutschlands und seiner Bürger betrieben würde. Seit 30 Jahren, so Krauß, kämpfe er „um den posthumen Ruf der DDR“: Sie sei weder so gut gewesen, wie sie sich selbst dargestellt hat, noch so schlecht, „wie sie nach der Wende in der offiziellen und öffentlichen Darstellung notorisch gemacht wird“. Es gehe ihm im 30. Jahr nach dem Mauerfall allein darum, dem Mainstream etwas entgegenzusetzen und mehr Ausgewogenheit in der Bewertung anzumahnen.

Den selbstgesetzten Auftrag erfüllt er auf knapp 260 Seiten unter dem titelgebenden Erich-Kästner-Zitat mit sehr vielseitiger Bestandsaufnahme. Beispiele stammen oft aus Brandenburg, wo sich Krauß persönlich wie beruflich am besten auskennt. Nicht alles, was er ins Feld führt, überzeugt gleichermaßen, doch es ist nicht wenig: Er beginnt bei dem Wert Friedenspolitik, sieht Massenarbeitslosigkeit als Gründungsmythos, untersucht den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland, wo sich die Industrieleistung auf ein Drittel des Vorwendestandes verringerte und Ackerflächen – noch bei LPG-Anbau von frohem Brehmschen Tierleben bevölkert – nun unter Monokultur verstummen. Krauß betrachtet weiter bestehende Lohnabstände, Baupolitik mit der Abrissbirne, streift Rechtsstaat und Recht, gibt dem heutigen Bildungssystem schlechte Noten und geißelt eine „Rentenlüge neuen Typs“. Er endet nicht bei Schauspielkunst, Alfons Zitterbacke oder dem „Tausch der Nationalhymne“, der für die Ostdeutschen – nicht nur mental – „kein guter“ gewesen sei. Kurz: Das Buch analysiert vielfältige Verluste, Verletzungen und (inzwischen gesamtdeutsche) Fehlentwicklungen. Fröhlich stimmt das nicht, auch wenn sich Krauß um kleinteilige Gliederung und aufgelockerte Darstellung bemüht hat.

Vorwürfe, das Buch nähre einseitig Kulturpessimismus, man bekomme schlechte Laune oder ermüde bei der Lektüre, haben nicht lange auf sich warten lassen. Verbitterung solle „idealerweise nicht Ende allen Nachdenkens und Bemühens sein“, meinte der Rezensent der Süddeutschen Zeitung. Wie wahr. Doch Heilung beginnt günstigenfalls mit Diagnose. Und wer nachvollziehen will, wieso nach 30 Jahren unter gesamtdeutschem Dach weite Teile Ostdeutschlands ein „verworrenes, verstörendes, zum Teil beängstigendes Bild“ abgeben, der sollte sich diese bittere, aber durchaus aufklärende Lektüre zumuten. Gern auch politische Entscheidungsträger in West und Ost sowie alle, die ernsthaft beitragen wollen, Populismus und rechtem Gedankengut im Osten Nährboden zu entziehen.

Ganz sicher wird am 3. Oktober in Festreden lauthals an die Visionäre blühender Landschaften erinnert werden. Krauß löckt gegen den Stachel und zeigt, dass aus einer „demokratiebegeisterten Einwohnerschaft, wie sie die Ostdeutschen 1990 waren“, eine geworden sei, die „immer stärker auf Abstand zu einer Demokratie geht, die vor drei Jahrzehnten erkämpft worden ist“.


Matthias Krauß: Die große Freiheit ist es nicht geworden. Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat. Das Neue Berlin 2019, 256 Seiten, 14,99 Euro, ISBN: 978-3-360-01346-0

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