Einstweilen grünes Licht für die neue große Gewerkschaft

Breite Zustimmung mit vielen Bauchschmerzen und Sorgen

Die Bildung einer neuer Organisation gemeinsam mit der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) und den Gewerkschaften Handel, Banken, Versicherungen (HBV) und Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) war das beherrschende Thema des Gewerkschaftstages der IG Medien in Würzburg.

Nach einer fast zweitägigen, leidenschaftlich geführten Debatte gaben die Delegierten bei wenigen Gegenstimmen „grünes Licht“ für die weiteren Verhandlungen: „Der Gewerkschaftstag beauftragt Hauptvorstand und Gewerkschaftsrat, auf der Grundlage der Beschlüsse des 4. Gewerkschaftstages die Neustrukturierung der Gewerkschaften aktiv mitzugestalten.“ Allerdings formulierte der Kongreß auch etliche Bedingungen. Wenn die nicht erfüllt werden, muß die IG Medien aus dem Neuordnungsprozeß aussteigen.

Viele, die zustimmten, taten dies allerdings mit Bauchschmerzen und Sorgen. Wenn die neue große Gewerkschaft Wirklichkeit wird, dann ist es gewiß keine „Liebesheirat“ der Beteiligten, sondern eher eine „Vernunftehe“. IG-Medien-Vorsitzender Detlef Hensche machte gar eine „resignierte Grundstimmung“ bei etlichen Delegierten aus.

Die Gegner des Neustrukturierungsprozesses machten geltend, alles gehe viel zu schnell, die Mitglieder würden nur mangelhaft in die Entscheidungen eingebunden. Beklagt wurde auch eine fehlende inhaltliche Zielsetzung. Die Mitglieder, so wurde argumentiert, könnten sich angesichts der riesigen Größe des „neuen Gebildes“ nicht mehr mit ihrer Gewerkschaft identifizieren, die Gewerkschaft ÖTV werde alles dominieren. Schließlich werde der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in seiner Bedeutung und seinem politischen Gewicht weiter ausgehöhlt, und die in der IG Medien vorhandene Autonomie der einzelnen Fachgruppen und Tarifbereiche gehe verloren.

Der Delegierte Reinhold Winter, Drucker und Betriebsratsvorsitzender aus Offenbach, bezeichnete den Verbundprozeß als „organisierten Klamauk“. Martin Dieckmann, kaufmännischer Angestellter aus Hamburg, forderte: „Eine Generaldebatte über das, was wir eigentlich wollen, müßte sich eigentlich über zwei oder drei Jahre hinziehen.“ Einige Delegierte warfen der IG-Medien-Führung vor, sie stürze sich „kopflos“ in den Prozeß.

Hans Müncheberg, Schriftsteller aus Schöneiche bei Berlin, verglich den Prozeß mit einem Prokrustesbett, in das sich die IG Medien lege – nach dem Riesen aus der griechischen Mythologie, der alle, die ihm in die Hände fielen, in ein Bett legte, sie entsprechend kürzte oder streckte und dabei umbrachte. Ferdinand Kammering, Fachhelfer und Betriebsratsvorsitzender bei der Bremer Tageszeitungen AG, warnte vor dem „alles dominierenden Apparat der ÖTV“ und fragte, wieviele Kongreßvertreter es aus dem Bereich der IG Medien noch geben werde, wenn auf 8000 Mitglieder ein Delegierter komme. 54 Delegierte hatten unter der Überschrift „Ablehnung der Mega-Dienstleistungsgewerkschaft“ einen Initiativantrag eingebracht, mit dem verlangt wurde, alle Bemühungen um eine „Fusion von oben“ zu stoppen und „statt der überstürzten Fusion eine drei- bis fünfjährige basisnahe Diskussions- und Kooperationsphase zu vereinbaren“. Der Antrag erhielt allerdings bei der Schlußabstimmung bei weitem nicht so viele Stimmen, wie Delegierte ihn zunächst unterzeichnet hatten.

Offensichtlich wogen die Argumente die Befürworter des Gewerkschaftszusammenschlusses schwerer. Sie führten an, daß die massiven Veränderungen der Branchen und Berufe, der Mitgliederschwund und die Finanzentwicklung neue Antworten der Gewerkschaften erforderten. Der Konkurrenz der einzelnen Gewerkschaften untereinander müsse Einhalt geboten werden. Spaltung werde schließlich überwunden durch die Rückkehr der DAG in den Deutschen Gewerkschaftsbund.

Vorstandsmitglied Gerd Nies: „Wir haben nicht die Kraft, um zu sagen: Wir können es alleine schaffen. Wir haben keine Alternative.“ Dieter Born, kaufmännischer Angestellter, Betriebsrats- und Ortsvereinsvorsitzender aus Hamburg: „Wer meint, mit einigen streikbereiten Druckern die Zukunft zu gewinnen, der geht mit wehenden Fahnen unter. Der hessische IG-Medien-Landesbezirksvorsitzende Berthold Balzer: „Wir brauchen Strukturen, die unsere Handlungsfähigkeit sichern.“ Julia Roll-Tholfuß, Betriebsratsvorsitzende des „Kölner Stadt-Anzeigers“ kritisierte die Diskussion auf dem Gewerkschaftstag als „männlich, geprägt von Versagensängsten und Omnipotenzgehabe“: Statt einer Verherrlichung dessen, was wir gemacht haben und oft auch nicht gemacht haben“, sei mehr Selbstbewußtsein nötig, um den neuen Gewerkschaftsverbund im Sinne einer Stärkung des DGB voranzutreiben. Nicht alle Delegierten teilten übrigens die Besorgnis, der Zeitrahmen des Verbundprozesses sei zu eng: Heidrun-Ninja Alberti, Sachbearbeiterin beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt/Main: „Ich habe einen Horror davor, daß wir uns noch drei oder fünf Jahre mit uns selbst beschäftigen.“ Einer der letztendlich mit sehr großer Mehrheit gefaßten Beschlüsse bekannte sich dann auch zu der „Chance, die Gewerkschaftsstrukturen den sich verändernden wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen und die Konkurrenz unter den Gewerkschaften abzubauen“, bezog aber auch vieles von der geäußerten Kritik ein: „Die Delegierten des 4. Gewerkschaftstages … kritisieren … den Zeitdruck, die mangelnde Einbeziehung der Mitglieder in diesen Prozeß und die fehlende Diskussion über die politischen Inhalte…“

Ein weiterer Beschluß bekräftigt darüber hinaus die organisationspolitischen Ziele, nämlich: n Mächtigkeit und Gestaltungskraft zu gewinnen gegen Kapitalinteressen und neoliberale Politik, n gemeinsam Perspektiven zu entwickeln für eine gerechte Arbeitsteilung in der Gesellschaft und eine wirksame Gleichstellungspolitik, n Organisationsformen zu entwickeln, die es möglich machen, gewerkschaftlichen Schutz für betriebliche Arbeitsverhältnisse wirksamer zu sichern, und gleichzeitig in Bereichen, in denen Gewerkschaften bisher nicht oder unzureichend vertreten sind, für neue Formen der Arbeit Durchsetzungskraft zu entfalten, n bei der zunehmenden räumlichen Zersplitterung von Arbeit durch Ausgründungen und Auslagerung eine flächendeckende Präsenz sicherzustellen, n berufs- und branchenspezifische Interessenvertretung zu sichern und damit n neue Attraktivität und Möglichkeiten der Beteiligung für Mitglieder zu schaffen und neue Mitglieder zu gewinnen.

Als „Voraussetzung und strukturbestimmende Organisationsprinzipien für eine neue Organisation auf der Grundlage einer gemeinsamen Mitgliedschaft“ legte der Gewerkschaftstag die Bedingungen fest: n Berufs- und Branchenorientierung mit eigenen Entscheidungsstrukturen und Autonomie insbesondere in der Tarifpolitik, der Branchen- und Berufspolitik, n Organisationsautonomie hinsichtlich der Regelung der eigenen Belange, n ein gesicherter Kern und Finanz- und Personalhoheit, n eine höchstmögliche fachliche und räumliche Dezentralisierung, n eine hohe Effizienz des Ressourceneinsatzes, n ein hohes Maß gesicherter Ehrenamtlichkeit im Organisationsaufbau. Endgültig beschlossen und festgelegt ist mit diesem Würzburger Gewerkschaftstag allerdings noch gar nichts. Die Ergebnisse der weiteren Verhandlungen mit den anderen vier Gewerkschaften (vielleicht kommen ja auch wieder andere noch dazu) müssen im November 1999 den Delegierten eines außerordentlichen Gewerkschaftstages vorgelegt werden. Auch der wird noch nicht die Auflösung der IG Medien beschließen, sondern die konkreten weiteren organisatorischen Schritte für das Jahr 2000 festlegen.

Was noch in Würzburg deutlich geworden ist: Es muß dringend ein vernünftiger Name für das „neue Gebilde“ her. „Befreit uns von dem Begriff Dienstleistungsgewerkschaft!“ rief ein Delegierter unter großem Beifall des Kongresses. – Ein weiterer ausführlicher Bericht über die Debatte zur Neuorganisation der Gewerkschaften und eine Dokumentation der entsprechenden Beschlüsse finden sich im IG-MEDIEN-FORUM 11/98.

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