Mit überwältigender Mehrheit – 92,7 Prozent – wählte der 5. Ordentliche ver.di-Bundeskongress in Leipzig Frank Werneke zum Vorsitzenden der zweitgrößten Gewerkschaft in Deutschland. Der 52jährige bedankte sich, begleitet von heftigem Applaus, für das Vertrauen. Er stehe für eine zukunftsgerechte starke Gewerkschaft, die fest verankert in den Betrieben und bei den Selbstständigen Kraft entfalte zum Nutzen der Gesellschaft.
Von seiner Zeit als Maschinenführer bei der Verpackungsmittelfirma Graphia Hans Gundlach in Bielefeld bis ins ver.di-Haus am Paula-Thiede-Ufer in Berlin sind mehr als 30 Jahre vergangen. Zwischen seiner Nachfolge des letzten IG-Medien-Vorsitzenden Detlef Hensche – der Gast dieses 5. Bundeskongresses ist – und des ersten ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske liegen unzählige Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe, Sitzungen in Kommissionen, Beiräten, Aufsichtsräten. In den letzten vier Jahren war er in der der mehr als 1,9 Millionen Mitglieder zählenden Gewerkschaft für den Fachbereich Medien, Kunst und Industrie sowie die Bereiche Selbständige, Mitgliederentwicklung, Finanzen zuständig.
Die 1003 Delegierten wählten anschließend die beiden Stellvertreterinnen des ver.di-Bundesvorstandes: Andrea Kocsis, die zudem den Fachbereich Postdienste, Speditionen und Logistik im Bundesvorstand vertritt, erhielt 91,4 Prozent der Stimmen. Das Spitzentrio wird durch Christine Behle komplettiert, die für die Fachbereiche Sozialversicherung, Bund/Länder, Gemeinden, Verkehr und besondere Dienstleistungen im Bundesvorstand verantwortlich zeichnet. 91,05 Prozent stimmten für sie.
Weitere Vorstandsmitglieder wurden Karin Hesse, Dagmar König und Christoph Meister. Das gewählte Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler ist die Vertreterin der Fachbereiche Gesundheit und Bildung/Wissenschaft. Stefanie Nutzenberger vertritt im Bundesvorstand den Fachbereich 12.
Überwältigende Zustimmung und viel Applaus gab es für Christoph Schmitz, der als Mitglied im Bundesvorstand künftig die Fachbereiche Banken/Versicherungen, Ver- und Entsorgung, Medien/ Kunst/Industrie und Telekom in seiner Verantwortung hat. Für ihn votierten 96,64 Prozent der Delegierten. M hatte Christoph vor dem Kongress interviewt!
Einstimmig wählten die Delegierten Anja Bossen zur neuen ver.di-Beauftragten für Kunst und Kultur.
Neue Vorsitzende des Gewerkschaftsrates ist Martina Rößmann-Wolf.
Mehr als „Schönwettervereine und Tarifmaschinen“
Briefe der Mitglieder an den ver.di-Vorsitzenden würden wohl auch künftig mit „Lieber Frank“ beginnen, hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede vorausgesagt. Wenn das kein Zeichen von Kontinuität sei! Dann übernehme Frank Werneke das Steuer von Frank Bsirske, der „ein sturmerprobtes und hochseetaugliches Schiff“ übergebe.
Der Bundespräsident würdigte den scheidenden Vorsitzenden und erinnerte an die Verdienste von Frank Bsirske und ver.di bei der Durchsetzung des Mindestlohns und der Tarife im öffentlichen Dienst. ver.di stehe für „Offenheit, Freiheit, Solidarität, Demokratie“ und zeige, dass Gewerkschaften mehr seien als „Schönwettervereine und Tarifmaschinen“. Steinmeier charakterisierte ver.di zwar als „durch und durch politisch“, doch politisiere sie nicht die Tarifverhandlungen. ver.di sei überparteilich, ergreife „Partei für ein solidarisches Land – für unsere Demokratie“. Das gelte heute umso mehr, „weil Demokratieverächter wieder Zulauf haben. Weil Hass und Hetze aufflammen. Weil es Leute gibt, die Kolleginnen und Kollegen in Gruppen einteilen und ausgrenzen: nach Herkunft oder Hautfarbe, in Bio- oder Passdeutsche, in Bürger und Nachbarn erster und zweiter Klasse.“ Deswegen würden starke Gewerkschaften wie ver.di gebraucht.
Gegensteuern im Sozialen wie im Klimawandel
Etwa ein Viertel aller Menschen arbeiteten in Deutschland im Niedriglohnsektor. Trotz der Durchsetzung eines Mindestlohns reiche bei vielen das Einkommen nicht zum Leben aus. Wie beim Klimawandel sei auch hier Gegensteuern gefordert, erklärte Frank Bsirske in seinen mündlichen Ergänzungen zum schriftlich vorliegenden Geschäftsbericht. Vieles sei in den letzten Jahren erreicht worden, oft seien dafür Streiks notwendig gewesen. Als ein Beispiel nannte er die Auseinandersetzung bei der irischen Fluglinie Ryanair, wo Arbeitsverhältnisse wie im 19. Jahrhundert herrschten. Letztlich wurde hier dank des Mutes junger Gewerkschafter*innen einer der besten Tarifverträge der Branche in Europa abgeschlossen. Frank Bsirske erinnerte an den erreichten Tarifvertrag für Azubis in der Pflege, an die Streikhöhepunkte im öffentlichen Dienst, im Handel, bei den Kinos, an vielen Kliniken. Die Druck- und Verlagsbranche sei seit Jahren gekennzeichnet von Tarifflucht, betonte er. Kaum ein Monat sei vergangen ohne Auseinandersetzungen bis zur Kündigung des Manteltarifvertrages (MTV) durch die Arbeitgeber. Nach über sieben Monaten mit intensiven Streiks habe die erneute Inkraftsetzung des MTV erreicht werden können. Zudem seien insgesamt mehr als fünfprozentige Lohnerhöhungen erstritten worden.
Solidarität mit Kolleginnen und Kollegen in der Türkei
Frank Bsirske rief zur Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen in der Türkei auf. Unter den Bedingungen des mehrere Jahre dauernden Ausnahmezustands seien dort weit über 100.000 Beschäftigte, insbesondere im öffentlichen Dienst und im Medienbereich, entlassen oder suspendiert worden. Mehr als 3.000 Journalist*innen hätten seit Juli 2016 ihren Job verloren. Rund 160 Journalisten säßen im Gefängnis. Bsirske verwies auf die Unterstützung der türkischen Gewerkschaften durch ver.di.
So habe die dju in ver.di mit türkischen Journalistengewerkschaften zusammengearbeitet, um verfolgten Journalistinnen und Journalisten zu helfen und ihr Schicksal öffentlich zu machen. „Die Pressefreiheit und die Gefahren, denen dieses in Deutschland grundgesetzlich geschützte Gut ausgesetzt ist, stand 2018 auch im Mittelpunkt des 31. Journalistentages der dju: ‚Unter Druck – Die Freiheit nehm ́ich Dir‘.“Unter diesem Titel sei es in mehreren Foren um Angriffe auch auf die Pressefreiheit in Deutschland – wie beim G20-Gipfel in Hamburg – und um die Situation in der Türkei und in Osteuropa gegangen.
Für den Erhalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
„Gefordert waren und sind wir als Gewerkschaft auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk“, wo wiederholt über eine Strukturreform nachgedacht werde, bei der die Sender im Auftrag der Länder massiv Kosten einsparen sollen, um in Zukunft einen Anstieg des Rundfunkbeitrags zu vermeiden, sagte Bsirske. Er versicherte die Kolleginnen und Kollegen der Solidarität bei ihren derzeitigen Streiks, um einen Tarifvertrag durchzusetzen auf dem Niveau des Länderabschlusses, den die ARD-Anstalten nicht zulassen wollen. Er bekräftigte, was Frank Werneke dazu erklärt hat: Eine angemessene Erhöhung des Rundfunkbeitrags sei kein Tabu. Und er betonte: „Wie die Bedingungen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Zukunft ausgestaltet werden, ist für die demokratische Entwicklung unseres Landes und den Erhalt vergleichsweise unabhängiger, nicht profitgetriebener Medien von vitaler Bedeutung. Und wir als Gewerkschaft sind gefordert, hierauf nachhaltigen Einfluss zu nehmen.“
Das Motto „Zukunftsgerecht“ ist Programm sowohl des Kongresses als auch der eingereichten weit mehr als 1000 Anträge, die von den Delegierten bis zum nächsten Sonnabend (28. September) beraten werden.
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