3. ver.di-Bundeskongress in Leipzig geprägt von Gemeinschaftsgefühl und Toleranz
Soviel vorweg: Es war ein guter Kongress. Nicht etwa, weil in dieser Woche in Leipzig, in der 901 Delegierte über rund 1.300 Anträge abzustimmen hatten, die Welt verändert worden sei. Nein, es waren die kleinen Zeichen, die die Atmosphäre positiv prägten. „Wir sind zusammengewachsen“, sagten viele nach überstandener Kongress-Tortur.
Ein Indiz für entstehendes Gemeinschaftsgefühl war die Tatsache, dass es bei Wortmeldungen vielfach nicht mehr so wichtig schien, die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Fachbereich bzw. einer Ebene zu betonen, sondern in der Sache zu reden. Auch bei den Wahlen für den Bundesvorstand und weitere Gremien war keine „Lagerbildung“ zu bemerken. Deutlich spürbar war auch die gewachsene Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Befindlichkeiten. Zum Beispiel, als in der Mindestlohndebatte eine Friseurmeisterin aus Leipzig auftrat und erklärte, dass 10 Euro einfach zu viel seien für ihre Branche, viele Geschäfte dann aufgeben müssten, ihr eigener Verdienst nach 45 Berufsjahren bei 6,14 Euro pro Arbeitsstunde läge. Da gab es keine Buh-Rufe nach der Wortmeldung, sondern deutlich spürbare Nachdenklichkeit im Plenum. Die Delegierten beschlossen, sich für 8,50 Euro stark zu machen mit der Option einer zügigen weiteren Anhebung. Viel Applaus erntete eine Vertreterin der Selbstständigen, als sie erklärte, wie eng die Erosion des öffentlichen Dienstes mit der Zunahme von prekären Arbeitsbedingungen für selbstständige Lehrkräfte an Musik- oder Volkshochschulen zusammenhängt.
Ganz klar: Der „Exotenstatus“ der Freien und Selbstständigen in ver.di ist Geschichte. Frank Bsirske ging in der Diskussion um seine Grundsatzrede ausführlich darauf ein: „Die Situation vieler Soloselbstständiger – ich denke beispielsweise an die freien Mitarbeiter beim Rundfunk oder bei Tageszeitungen – gleicht der Situation von Tagelöhnern (…). Das ist Entsicherung, und die spielt sich zum Teil in absolut besorgniserregenden Formen und Dimensionen ab. (…) Deswegen muss uns das, was da passiert, am Herzen liegen, und deswegen ist es richtig, dass wir auch die Organisation der Soloselbstständigen sind. Es ist gut, dass über 30.000 Kolleginnen und Kollegen sich entschlossen haben: Ja, ver.di ist meine Gewerkschaft. Das wollen wir auch weiterhin mit Leben füllen.“
Mehr Europa – aber anders
Nur selten gab es harte Töne direkt in der Antragsberatung, Konflikte wurden lieber in den Kongresspausen miteinander diskutiert. Dass es dennoch lange Debatten gab, zum Beispiel die mehr als drei Stunden andauernde über die zukünftige Rolle der Bundeswehr, war richtig und wichtig für die Positionsbestimmung von ver.di.
Der ver.di-Vorsitzende forderte in der Grundsatzrede nach seiner Wiederwahl „Mehr Europa – aber anders“. Deshalb müssten die europäischen Gewerkschaften sich „entschiedener und verbindlicher abstimmen, um den „Vorrang der Grundrechte vor den Unternehmensfreiheiten“ durchsetzen zu können. Entschieden sei dabei jenen entgegenzuwirken, „die Privat vor Staat, Profit vor Gemeinwohl setzen wollen“. Der Kongress spendete stehend Applaus. Wahre Begeisterungsstürme entfachte später Philip Jennings: Der Generalsekretär der internationalen Gewerkschaft UNI-Welt riss alle mit, als er in seiner leidenschaftlichen Rede von einem Treffen mit Angela Merkel berichtete. Was er denn beruflich mache, wollte sie wissen. „Ich bin die globale ver.di“, habe er geantwortet. Ihre Reaktion: „Eine Katastrophe.“ Philip wendete sich zu Frank Bsirske und Margret Mönig-Raane und rief: „Frank, Margret, ich bin stolz, eine globale Katastrophe zu sein!“ Da bebte der Saal, so ansteckend fröhlich konnte der Stolz eines Gewerkschafters sein.
Das Wahlergebnis für Bundesfachbereichsleiter Frank Werneke fiel klar aus: Er erhielt 85,3 Prozent der Delegiertenstimmen und wird weiterhin einer der Stellvertreter des Vorsitzenden Frank Bsirske sein. Dass die Aufgabenbereiche innerhalb des Bundesvorstandes neu zugeschnitten werden, wurde bereits im Vorfeld des Kongresses angekündigt und wenig später kommuniziert: Werneke ist zuständig für das Ressort 3, in dem zu seinen bisherigen Arbeitsfeldern wie der Leitung des Fachbereiches Medien, Kunst und Industrie (FB 8), der Mitgliederentwicklung und der Personengruppe Freie und Selbstständige nun Teile des Finanzressorts kommen. Das sind Budgetierung und Kostenrechnung, Beitrags- und Finanzwesen sowie die Vermögens- und Beteiligungsverwaltung.
Für die seit Monaten streikenden Kolleginnen und Kollegen beim Schwarzwälder Boten ist die auf dem Kongress einstimmig verabschiedete Solidaritätserklärung eine wichtige moralische Stütze. Holger Egger hatte die Resolution eingebracht, informierte den Kongress über die aktuelle Lage und die Weigerung des Arbeitgebers, mit Gewerkschaften zu reden: „Das ist völlig undemokratisch!“ Rainer Butenschön betonte: „Die Zustände, gegen die unsere Kolleginnen und Kollegen beim Schwarzwälder Boten streiken, sind kein Einzelfall.“ Er verwies auf eine ähnliche Situation in Mecklenburg-Vorpommern, die zeige, dass die vierte Gewalt in unserem Land in einem erbärmlichen Zustand sei und ihren Verfassungsauftrag nur noch in Teilen oder teilweise auch gar nicht mehr erfüllen könne. „Es gibt keine Demokratie ohne demokratische Medien. Dafür setzen wir uns ein“, so Butenschön. dju-Vorsitzender Uli Janßen rief die Delegierten auf, bei den Zeitungen in ihren Heimatorten genau hinzuschauen: „Redet mit den Redakteuren. Fragt, ob sie noch tarifmäßig beschäftigt werden“ (s.S.15).
Mit großer Mehrheit stimmte der Kongress für die medienpolitischen Anträge (A 159, 160, 161). „Eine funktionierende und lebendige Demokratie lebt von freien, vielfältigen und qualitätsvollen Medien. ver.di setzt sich daher für eine Medienlandschaft ein, die allen Bürger/innen gleichermaßen Teilhabe und Zugang zu Medienangeboten gewährleistet. (…) Medienpolitik ist auch Gesellschaftspolitik. Deshalb engagiert sich ver.di für eine gewerkschaftlich gestaltete Medienpolitik (…) für die Interessen der Medienkonsumenten/innen genauso wie der Medienschaffenden“ heißt es im Antrag, der vom Fachbereich Medien, Kunst und Industrie eingebracht worden ist. Die Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit sowohl in den konventionellen Medien als auch im Netz muss gesichert werden.
Ebenfalls breite Zustimmung gab es im Kongress zur Forderung nach einer sofortigen gesetzlichen Regelung zur tatsächlichen Beendigung des Elektronischen Entgeltnachweises (ELENA), der sofortigen Löschung aller bislang erhobenen Beschäftigtendaten, der Abschaffung der Steueridentifikationsnummer und der elektronischen Gesundheitskarte. ver.di unterstützt eine gesellschaftliche Debatte über eine moderne Datenerfassung mit dem Ziel, dass diese zweckgebunden und dezentral bleibt und keine Datenschutzrechte von abhängig Beschäftigten bedroht und verletzt werden (I 002).
Antragsrechte für alle
Nicht über alle rund 1.300 eingereichten Anträge konnte abgestimmt werden, da die Zeit nicht ausreichte. Bis zum Antragspaket M – Organisationspolitik – drangen die Delegierten in der Abstimmung vor. Das lag unter anderem daran, dass es noch eine leidenschaftliche Diskussion um einige Anträge gab, die eine Satzungsänderung des Paragraphen 39 Abs. 2 zum Ziel hatten (M 050-1): Die Antragsteller verlangten nach einer Einschränkung der Antragsrechte aus den verschiedenen Ebenen und Bereichen an den Bundeskongress. Doch auch wenn die Antragsflut bei jedem Kongress groß und kaum zu bewältigen ist – die Delegierten votierten mit großer Mehrheit gegen diese Anträge und damit für größtmögliche Demokratie in der Organisation.
Auf Grund des Zeitproblems wurde auch ein zentraler Antrag, der sich mit der Zukunft der ver.di-Medien befasst, gemeinsam mit rund 140 weiteren nicht mehr behandelten Anträgen an den Gewerkschaftsrat zur Beschlussfassung überwiesen. Bitter, denn eine klare Positionierung des Kongresses hätte sowohl Machern als auch Empfängern der Publikationen einen Weg gewiesen. Nun muss der Gewerkschaftsrat über den Antrag „Keine weiteren Kürzungen der ver.di-Mitgliederzeitung PUBLIK – Strategie für die Zukunft“ (P 009) entscheiden. Im Antrag wird der Erhalt und die Sicherung der Mitgliederzeitschrift PUBLIK mit seiner derzeitigen Anzahl von neun Ausgaben jährlich (bis 2007 waren es zehn) gefordert. Das längst überfällige Zukunftskonzept zur Herausgabe und zur Finanzierung von PUBLIK sollte gemeinsam mit den Fachbereichsausgaben zügig erarbeitet und umgesetzt werden.
Gundula Lasch
Die Autorin ist freie Journalistin in Leipzig und frisch gebackene Vorsitzende der Bundeskommission Selbstständige.
Die Anträge u.a. auch zu folgenden Themen im Web
Auftragsvergabe von Film- und Fernsehproduktionen nur an tarifgebundene Produktionsfirmen (A279); zur Abschaffung des Tendenzschutzparagraphen (J005), zu Urheberrechten und zur Urhebervergütung (T007) unter:
Zum Bundeskongress 2011 allgemein
Tanz die Matrix
Spätestens bei der Kongressparty zur Halbzeit im Volkspalast auf dem alten Leipziger Messegelände war zu spüren, dass die noch beim letzten Kongress vorhandenen Berührungsängste nahezu verschwunden waren: Im ehemaligen Messepavillon feierten und tanzten Delegierte und Gäste, Haupt- und Ehrenamtliche „matrixmäßig“ (O-Ton Jugendliche) zusammen bis in die frühen Morgenstunden. Mit dabei Hiphop-Akrobatik von „Flying Steps“ (Foto). Erstaunlich, dass am nächsten Kongresstag nur wenige Delegiertenstühle frei blieben.
Kunst ist gute Arbeit
Viele Kongressgäste statteten der Ausstellung „Gute Arbeit“ im Foyer der Glashalle einen Besuch ab. Die Bilder und Skulpturen von „K14“ – einer Vereinigung von gewerkschaftlich organisierten Künstler/innen in Bielefeld – stießen auf großes Interesse. Und sie provozierten eine zentrale Frage: „Was haben die Werke mit guter Arbeit zu tun?“ Für Bildhauerin Eva Volkhardt und Malerin Janine Conde Lopez, die als Ansprechpartnerinnen bereit standen, war die Antwort klar: „Unsere tägliche Arbeit – Kunst – ist gute Arbeit.“ Viele Ausstellungsbesucher wünschten sich, dass die Präsentation von Kunstwerken auch bei anderen ver.di-Veranstaltungen einen festen Platz bekommt.