Lesenswertes aus 150 Jahren Gewerkschaftsentwicklung
Das Jahr 2016 ist für ver.di in doppelter Hinsicht jubiläumsträchtig: 15 Jahre besteht die aus fünf Einzelgewerkschaften fusionierte Dienstleistungsgewerkschaft. Und gemeinsam darf man auf die 150-jährige Geschichte der ältesten Vorgängerorganisation, des Deutschen Buchdruckerverbandes, zurückblicken. Rechtzeitig zu diesem Jahrestag ist ein Band erschienen, den ver.di als besonderes Geschenk betrachten kann. Er überblickt 150 Jahre Gewerkschaftsentwicklung chronologisch, liefert aber keinen rein sachlich-historischen Abriss. Vielmehr nimmt das 500seitige Buch die verantwortlichen Journalisten des Gewerkschaftsblattes als geschichtliche Akteure in den Blick.
„Vordenker und Strategen” betrachtet „Die Gewerkschaftspresse im grafischen Gewerbe und ihre Redakteure seit 1863”. Das macht Sinn. Spielte die Verbandszeitung „Korrespondent” (ab 1949 „Druck und Papier”) doch eine konstituierende Rolle in der jungen Buchdruckerorganisation. Auch später wirkte das Blatt organisierend, diente Theoriebatten, fachlichem Austausch und überregionaler Verständigung; es war nie bloßes Verkündungsorgan von Vorständen. Seine medienpolitische Relevanz verdeutlichen Umfang und Erscheinungsweise zwischen 1875 bis 1933: Mehr als 50 Jahre erschien der „Korrespondent” dreimal wöchentlich(!) mit mindestens acht Seiten. Die Auflage übertraf zeitweise 50.000 Exemplare. Der Bezug war für die in der Spitze 90.000 Mitglieder nicht im Beitrag enthalten, sondern das Blatt musste zusätzlich abonniert und bezahlt werden.
Die verantwortlichen Redakteure waren – mit ganz wenigen Ausnahmen – allesamt gelernte Buchdrucker bzw. Schriftsetzer und betätigten sich nach Können und Neigung: als Dokumentaristen, Kommentatoren, Analytiker, heimliche Literaten, Visionäre, Strippenzieher. Und – die 22 Protagonisten sind allesamt männlich. Neben profunder fachlicher Ausbildung galt eigene Funktionärserfahrung in verschiedenen „Gauen” bzw. Bezirken stets als Voraussetzung für ihre Tätigkeit. Den Anfang machten die Alt-1848er David Greßner und Julius Hecht, die das Verbandsorgan „Der Correspondent” 1863 als „Wochenschrift für Deutschlands Buchdrucker und Schriftsetzer” mitgründeten. Am Ende der historischen Reihe findet sich Hermann Zoller, der „Druck und Papier” über die Jahre noch bis ins ver.di-Zeitalter begleitete. Von den Redakteuren „dazwischen” sind kaum noch die Namen geläufig – mit Ausnahme von Detlef Hensche, später der letzte IG-Medien-Vorsitzende. Doch erfährt ihr Wirken – ungeachtet von Dauer und Erfolg – mit dem Biografienband gleichberechtigte Würdigung.
Dass es schwierig war, individuelle Lebensläufe und Geschichten herauszufiltern, plastische Charaktere zu zeichnen, leuchtet unmittelbar ein. Umso kühner das Vorhaben, Organisationsentwicklungen, gewerkschaftliche Richtungsentscheidungen, Siege und Niederlagen aus der unmittelbaren Sicht auf Akteure darzustellen. Bei Personen, die große Umbrüche zu meistern hatten, gelingt das besonders. Richard Härtel, der „eigentliche Verbandsgründer”, Redakteur von 1866 bis 1891, hatte schon den „Dreigroschenstreik” der Leipziger Buchdrucker unterstützt, gestaltete den Kampf gegen das Sozialistengesetz mit und war immer noch aktiv, als es um den Neunstundentag ging. Detlef Hensche war 1975 der erste Akademiker in der Redaktion und lieferte vielbeachtete Kommentare und tarifpolitische Analysen etwa zu den Streiks 1976 gegen die Lohnleitlinien von Regierung und Unternehmerschaft oder 1978 für einen Rationalisierungsschutz-Tarifvertrag bei der Einführung rechnergestützter Textsysteme. Der Band „Vordenker und Strategen” liefert rare Porträts auch der frühen Redakteure, wohlausgewählte Illustrationen und informative Bildtexte, eine Zeittafel mit Wegmarken der Drucker-Publizistik von 1846 bis 2016 sowie schließlich einen ausführlichen Apparat mit Literaturangaben. Insofern ist Rüdiger Zimmermanns Buch das immense Werk eines Einzelnen und doch Teamwork. Dafür steht auch das Herausgebertrio, das aus dem ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske, seinem Vize Frank Werneke und dem langjährigen „Druck-und-Papier”-Redakteur Henrik Müller besteht.
Gewerkschaften sehen ihre Aufgabe zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen vorrangig im Hier und Jetzt. Auf Geschichtsschreibung legen sie nur bedingt Wert. Selbst die Buchdrucker mit dem „bestorganisierten” Verband vor 1933 und der Einheitsgewerkschaft nach dem Ende des Nazi-Terrors machen da keine Ausnahme. Trotz wichtiger Teildarstellungen: Eine umfassende historische Aufarbeitung ihrer Geschichte fehlt und ist nicht absehbar. Der jetzt vorgelegte Band könne eine solche „nicht ersetzen”, will allerdings einen „einen möglichst wichtigen Beitrag dazu leisten”, erklärt Autor Rüdiger Zimmermann – einst Chefbibliothekar der Friedrich-Ebert-Stiftung – als akribischer Rechercheur und sachlicher Chronist. Seine Arbeit fühle sich dem Ansatz einer „kollektiven Biografie” verpflichtet. Für einen Lückenfüller zu gewichtig, füllt sie zweifellos eine Lücke – als wunderbar gestaltetes Buch.