Züricher Tages-Anzeiger streicht ein Viertel der Redakteursstellen
Im Mai kam es Schlag auf Schlag: Erst die Ankündigung der Entlassungswelle, dann die Kündigungen knapp zwei Wochen später. Seit September erscheinen der Züricher Tages-Anzeiger und das Berner Traditionsblatt Der Bund nur noch mit vier Bünden. Als Grund für diese Kostensenkungsmaßnahmen nannte das Schweizer Verlagshaus Tamedia den starken Einbruch der Werbeausgaben in den ersten drei Monaten und die Verlagerung der Werbeinvestitionen. Zu den wichtigsten Neuerungen gehört die enge Zusammenarbeit des Tages-Anzeigers mit dem fast 160-jährigen Bund, der kurz vor dem Aus stand. Eingeführt wird ein überregionaler Mantel für die Ressorts Politik, Kultur, Sport und Wirtschaft, der vom Tages-Anzeiger produziert wird, sowie eine gemeinsame Bundeshausredaktion.
Pietro Supino, Verwaltungsratspräsident von Tamedia, will mit dem neuen Tages-Anzeiger (TA) hoch hinaus: «Das muss die beste Zeitung der Schweiz werden» (TA 14.05.2009). Und auch für den Bund sieht er Vorteile: «Wir glauben, dass der Bund in Zusammenarbeit mit dem Tages-Anzeiger ein noch besseres Angebot sein wird als in der Vergangenheit.» Dies angesichts der Tatsache, dass lange unklar war, ob der Bund die Restrukturierungen übersteht: «Es gab wirtschaftliche Argumente, den Bund nicht weiterzuführen, und es gab publizistische Argumente, die den Versuch nahe legten, den Bund in diesem neuen Modell in die Zukunft zu führen», so Supino. Begründet wird der Umbau weniger mit der aktuellen Wirtschaftskrise als mit dem Strukturwandel der Medienwelt, die durch Internet-Angebote und Gratiszeitungen aus den Angeln gehoben wurde. Dabei will die Tamedia AG nicht nur Verluste vermeiden, sondern auch Gewinne schreiben. «Wirtschaftlicher Erfolg ist für ein Unternehmen eine wichtige Voraussetzung, um seine Zukunft selber bestimmen zu können», meint CEO Martin Kall gegenüber dem Medienmagazin EDITO. «Wir streben für Tamedia grundsätzlich eine EBIT-Marge von 15 bis 20 Prozent an.»
Das sind deutlich höhere Ertragsziele als andere Medienunternehmen in der Schweiz anstreben. Stephanie Vonarburg, Zentralsekretärin der Mediengewerkschaft Comedia, findet diese Rendite-Erwartungen denn auch «überrissen» und hält den Umbau für «ein reines Schrumpfprojekt ohne publizistische Vision». Wie die Gewerkschafterin vorrechnet, hat das Verlagshaus im Jahr 2008 einen Gewinn von 105 Millionen Franken erzielt, und das obwohl die Wirtschaftskrise bereits spürbar war. Zwar gingen die Gewinne im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent zurück, «aber ausgehend von einem sehr hohen Niveau», wie Vonarburg betont. Von diesem Gewinn wurden insgesamt 40 Mio. an die Aktionäre ausgeschüttet und 20 Mio. als freie Reserven zurückgestellt. „Allein mit diesen 20 Millionen hätte man den massiven Abbau, der wirtschaftlich nicht zwingend war, reduzieren oder zumindest staffeln können“, so Vonarburg.
Sozialplan erstritten
Auch Salva Leutenegger, Zentralsekretärin des Berufsverbandes Impressum, kritisiert „diesen massiven Stellenabbau auf Vorrat ohne wirtschaftliche Not“. Zudem bemängelt sie die Art und Weise, wie die Entlassungen ausgesprochen wurden: «Die Kündigungen wurden einfach an die Ressortleiter delegiert. Und in keinem einzigen Gespräch, das ich begleitet habe, wurde ein Dank für die Zusammenarbeit ausgesprochen, auch nicht bei langjährigen, verdienten Mitarbeitern.»
Nach sechs Wochen zähen Verhandlungen zwischen der Tamedia und den Personalvertretern kam schließlich ein Sozialplan zustande. Dieser sieht hauptsächlich drei Massnahmen vor: Erstens erhalten alle eine Abgangsentschädigung in der Höhe ihres durchschnittlichen Monatslohnes; zudem gibt es für die über 45jährigen eine spezielle Abfindung nach Dienstalter. Zweitens haben jene, die arbeitslos werden, die Wahl zwischen einer Verlängerung der Kündigungsfrist um drei Monate oder eines Ausgleichs der Lohnunterschiede, wenn sie Arbeitslosengelder beziehen. Dieser Ausgleich gilt während zwölf Monaten und bei Unterhaltspflichtigen während 18 Monaten. Drittens sorgt ein paritätisch verwalteter Fonds als Auffangnetz für Härtefälle, wenn die ersten beiden Massnahmen nicht greifen.
Verhältnismäßig am stärksten vom Abbau betroffen ist der Bund, dessen Belegschaft um ein Drittel reduziert wird, was 14 Vollzeitstellen entspricht. Beim Tages-Anzeiger wird fast ein Viertel der Redaktion abgebaut. Das sind 50 Vollzeitstellen oder gemäss einer internen Rechnung der Personalkommission 88 betroffene Personen. Davon werden 50 gekündigt oder frühpensioniert und 38 müssen ihr Arbeitspensum reduzieren. Beim Tages-Anzeiger müssen vor allem die Ressorts Kanton und Stadt Zürich sowie die Redaktionen der vier Regionalausgaben Federn lassen. Insgesamt 26 Vollzeitstellen werden hier gestrichen werden.
«Wie mit den verbleibenden Redakteuren die gleiche Qualität erbracht werden soll, ist völlig unklar», meint ein Regionalredakteur vom rechten Zürichsee-Ufer. Laut Tamedia sollen jetzt alle regionalen Informationen zu einem Zeitungsbund zusammengeführt und die Regionalisierung damit gestärkt werden. Doch Erwin Haas, bisheriger Leiter der Regionalredaktion für das rechte Zürichsee-Ufer, will das neue Konzept nicht mittragen und hat das Handtuch geworfen: «Wie man mit weniger Personal besseren Regionaljournalismus machen kann, ist mir ein Rätsel», so Haas. «Zudem hat es im Haus Tamedia noch nie einen publizistischen Umbau von diesem Ausmaß gegeben, bei dem die Meinung der Redaktion so wenig gefragt war.»
Nicht nur der Regionaljournalismus, auch die Inland- und die Auslandberichterstattung sind inhaltlich von den Umstrukturierungen betroffen. Grundsätzlich betrachtet Verena Vonarburg, Bundeshausjournalistin beim Tages-Anzeiger, den gemeinsamen Mantel als Chance, da der Bund nun vom grossen Netzwerk ihrer Zeitung profitieren könne. „Auf der anderen Seite ist es aber wahrscheinlich, dass die Inlandberichterstattung künftig in beiden Blättern nahezu dieselbe sein wird“, so Vonarburg. Viele befürchten daher eine Verengung der Perspektive auf die nationale und internationale Politik, so etwa die 70 ehemaligen Redakteure des Tages-Anzeigers in einem offenen Brief: „Wenn das Netz der Auslandkorrespondenten zusammengestrichen wird, (…) ist eine sorgfältige, seriöse Auslandberichterstattung nicht mehr möglich. Wenn in der Inlandberichterstattung der Konzernjournalismus eingeführt wird, verliert diese ihre eigenständige Kompetenz.“ Dass nun mit einem Viertel weniger Leuten ein besserer Tages-Anzeiger gemacht werden soll, wie das Verwaltungsratspräsident Supino vorschwebt, hat in der Belegschaft für Empörung gesorgt. Res Strehle, Co-Chefredaktor des Tages-Anzeigers, glaubt jedoch, dass die Qualität auch mit 50 Stellen weniger zu halten sei: «Den Abbau hätte jeder Chefredakteur durchführen müssen. Ich musste mich fragen, ob es möglich ist, Qualitätsansprüche zu erfüllen», meint Strehle gegenüber dem Medienmagazin EDITO (neue Zeitschrift von „Impressum – Die Schweizer JournalistInnen“ und „Schweizer Syndikat Medienschaffender SSM“). Das Konzept, das er mitgestaltet habe, hatte ihn schliesslich überzeugt. Die neue Strategie des Tages-Anzeigers läge nun weniger in der Chronistenpflicht, die bereits von News-Agenturen erfüllt würde, als in der vertiefenden Analyse: „Wir wollen pro Tag vier bis fünf herausragende Geschichten als Eigenleistung bieten, und vier bis fünf beeindruckende Bilder“, so Strehle. Überhaupt sollen Bilder ein stärkeres Gewicht erlangen und den geringeren Text-Umfang der neuen Vierbundzeitung kompensieren. Ob das auch die 50 fehlenden Redakteure kompensiert, bleibt fraglich.