10. Jahrestagung Europäischer Presseräte in Berlin – erstmals Selbstkontrolle im Netz diskutiert
Presseräte in Europa haben an Gewicht und Akzeptanz gewonnen. Auf dem 10. Treffen der Alliance of Independent Press Councils of Europe (AIPCE) Ende Oktober in der Berliner Europäischen Akademie – der Deutsche Presserat war in diesem Jahr Gastgeber – machten Vertreterinnen und Vertreter aus 21 europäischen Ländern klar: Die Idee der Selbstregulierung der Medien greift. Erstmalig stand die Selbstkontrolle im Online-Bereich auf der Tagesordnung.
Europäische Presseräte bewegen sich mit der Überzeugung, dass die journalistische Branche im harten Konkurrenzkampf der Medien Glaubwürdigkeit braucht, auf der Höhe der Zeit. Seit der AIPCE Gründung 1999 in London entwickelt das Forum durch Austausch und Kooperation verbindliche ethische Maßstäbe und Procedere für freiwillige Selbstkontrolle. Bei aller Verschiedenheit der einzelnen, in nationalen Kulturen und unterschiedlichen Mediensystemen verankerten Presseräte leitet sie der Grundgedanke, dass nicht nationale oder internationale Gesetzgeber Verstöße gegen journalistische Sorgfalt zu ahnden haben. Deshalb haben sich nahezu alle einen Pressekodex gegeben. Weil Presseräte eine entscheidende Rolle für die Sicherung freier und verantwortlicher Medien spielen, begrüßte die AIPCE auf ihrer Jahrestagung öffentliche Diskussionen um die Bildung von Gremien der Selbstkontrolle, die in Frankreich und Ungarn begonnen haben, und sicherte Unterstützung zu.
Die meisten Reports konstatierten eine Fülle an Beschwerden, wachsende Akzeptanz der Arbeit der Presseräte und mehr öffentliche Diskussion über ethische Normen. In verschiedenen Ländern – so beim 2007 gegründeten irischen Presserat – werden Ombudsleute als Mediatoren eingeschaltet. Dabei sind Entscheidungen der Presseräte – gleich ob mehr oder weniger transparent je nach Veröffentlichungspraxis in den Ländern – bei Medienhäusern mit wachsender Sorge ums Image verbunden. Manfred Protze, Sprecher des Deutschen Presserates, bestätigte, dass „Zeiten des zahnlosen Tigers“ vorbei seien. „Beschwerden werden öffentlich kommuniziert.“ Um sich im ökonomischen Wettbewerb um die Gunst der Leser das Geschäft nicht durch Vertuschen zu ruinieren, würden Rügen auch abgedruckt.
Neue Ära für Schweizer Gremium
Edgar Kokkvold aus Norwegen berichtete von zunehmender juristischer Absicherung: Etwa zwanzig Prozent der mehr als 300 Beschwerden im vergangenen Jahr wurden von Rechtsanwälten eingereicht. Bei den „sehr neuen Erfahrungen“ des 2005 installierten russischen Presserates – eine Übereinkunft von mehr als 80 Medien- und anderen Unternehmen – sah dessen Vertreter Eugene Abov die Gefahr, dass Entscheidungen dazu benutzt werden könnten, über Gerichte oder staatliche Organe Druck auszuüben. Daphne Koene aus den Niederlanden beobachtete, dass Medien zunehmend kooperieren und sich weniger unzufrieden mit den Bewertungen des Presserates zeigen. Anhand dieser entwickelt das Gremium Standards für gute journalistische Praxis – inzwischen niedergeschrieben in einem Handbuch.
„In der Schweiz hat der Presserat hohes moralisches Gewicht“, wertete Dominique von Burg. „Die Leute wenden sich oft lieber an ihn als ans Gericht.“ Nach sieben Jahren kontroverser Diskussion wurde im Juni eine neue Ära im Schweizer Presserat eingeläutet – der Stiftungsrat sagte Ja zur Einbindung der Medienunternehmen. Die Verleger und die Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft SRGSSR tragen ihn künftig mit. Der operative Presserat dagegen bleibt Journalisten und Publikumsvertretern vorbehalten. „Der Kodex wurde in sensiblen Punkten präzisiert“, erläutert von Burg. „Verleger sind verpflichtet, Rügen zu veröffentlichen.“ Jetzt stünde mehr Geld für Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung. Chancen wüchsen, den sozialen Dialog zu beleben.
Revolverstories und Verletzungen der Privatsphäre machen in vielen Ländern einen immer größeren Teil der Beschwerden aus. Dabei ging es erstmalig auf einer AIPCE Jahrestagung auch um die online-Berichterstattung. Das Internet hat sich zu einem eigenen Medium mit eigenen Inhalten entwickelt. Das Hauptproblem sieht der schwedische Ombudsmann Yrsa Stenius in der sich zu traditionellen Medien öffnenden Kluft. Im weitgehend ungeschützten Internet mache sich krimineller Journalismus und Voyerismus breit. So wurde in Schweden „ohne Beschränkungen“ über die Autopsie von Kindern auf Internetseiten berichtet. Ein belgisches Beispiel zeigte Life-Videoclips über polizeiliche Hausdurchsuchungen mit intimen Einblicken in die Wohnungen angeblich Verdächtiger. Sogenannter Bürgerjournalismus mit Paparazzi-Fotos und ungeprüften Berichten gewinnt an Raum. Die Philosophie des Netzes mit der sofortigen Präsenz von Informationen, ihrer unbegrenzten Verweildauer und Vervielfältigungsmöglichkeit wirft – darüber sind sich die Presseratsvertreter einig – eine Menge neuer ethischer Fragen auf.
Bei der Schnelligkeit des Netzes und der Informationsflut bleibt es ein Problem, Inhalte vorher zu checken. Hier müssen, so erste Erfahrungen, Moderationen einsetzen, Inhalte auch wieder entfernt, Links zu rassistischen oder anstößigen Seiten unterbunden werden. Pressekodizes gäben das bereits her und müssen nur nach Notwendigkeit geändert werden, so Manfred Protze. Eines speziellen Presserats fürs Internet bedürfe es nicht, „europäischer Standards für die Zukunft“ schon.