Ernüchterung nach dem Euromaidan

Journalisten auf einer Pressekonferenz des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko im Dezember 2014
Foto: REUTERS/Ukrainian Presidential Press Service/Mikhail Palinchak

Aktueller ROG-Bericht zur Lage von Journalisten und Medien in der Ukraine vorgestellt

Reporter ohne Grenzen (ROG) hat in Berlin seinen aktuellen Bericht zur Lage der Medien in der Ukraine vorgestellt. Demnach sei das Land trotz großer Herausforderungen wie der Wirtschaftskrise oder dem Krieg im Osten auf einem guten Weg, eine pluralistische Medienlandschaft zu entwickeln. Um das durchaus vorhandene Potenzial in erfolgreiche Bahnen zu lenken, würden allerdings künftig dringend finanzielle Mittel vor allem von ausländischen Gebern benötigt. Zum Pressegespräch geladen war auch die Luhansker Journalistin Maria Warfolomejewa, die nach über einjähriger Gefangenschaft in den Händen prorussischer Separatisten im März dieses Jahres freigekommen war.

Am meisten Sorgen bereite ihr das im Land vorherrschende Klima, in dem viele Journalist_innen den Patriotismus über das journalistische Berufsethos stellen würden, so ROG-Vorstandsmitglied Gemma Pörzgen, die für den Bericht Anfang 2016 zehn Tage in der Ukraine recherchiert und dafür in Kiew, Lemberg und Odessa mit rund 30 Journalisten, Medienexperten und Beobachtern gesprochen hat. Viele Journalist_innen verstünden sich seit dem Kriegsausbruch im Osten des Landes eher als ukrainische Patrioten denn als neutrale Berichterstatter. Einen mittleren Skandal in der Branche habe etwa die Weigerung einer Journalistin an der Universität Lemberg ausgelöst, von „unseren Truppen“ statt von „ukrainischen Truppen“ zu sprechen. Doch der Krieg in der Ostukraine sei nicht die einzige Herausforderung, mit der das Land vor dem Aufbau einer funktionierenden Medienlandschaft fertig werden muss. Weitere Hindernisse sieht der ROG-Bericht außerdem in der Wirtschaftskrise und der Digitalisierung.

„Die meisten Medien leben von einer Wahl zur nächsten Wahl“

So stehe insbesondere die Wirtschaftskrise der Entwicklung eines intakten Medienmarkts entgegen. Der Anzeigenmarkt sei zusammengebrochen, gleichzeitig fehle vielen Ukrainer_innen das Geld für Zeitungen und Zeitschriften. Ein Symptom dieser Problematik seien die sogenannten „Jeansa“. Dabei handelt es sich um bezahlte Medienbeiträge, die nicht als solche gekennzeichnet werden – Native Advertising auf Ukrainisch. Die Inhalte seien dabei weniger werblicher, sondern zumeist politischer Natur. Am besten floriere dieses Geschäft in den Zeiten vor den Wahlen: „Die meisten Medien leben von einer Wahl zur nächsten Wahl“, so die Medienexpertin Natalia Steblyna aus Odessa. Journalist_innen und Redakteur_innen würden zudem erstaunlich offen darüber Auskunft geben, dass es sich nur dank dieser bezahlten Inhalte überhaupt überleben lasse. Ein Grund, warum dieses Phänomen in absehbarer Zeit nicht zu bekämpfen sein wird.

Fernseholigarchie vs. öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Die enge Verflechtung von Medien und politischen Interessengruppen stelle insbesondere für das Fernsehen ein Problem dar, das immerhin von 88 Prozent der Ukrainer als primäre Informationsquelle genutzt wird. Dominiert wird die ukrainische Fernsehlandschaft von privaten Fernsehkanälen, die im Besitz wichtiger Oligarchen sind. Dadurch würde zwar ein gewisser Pluralismus ermöglicht, sagt der Journalist und Medienkenner Juri Durkot, doch auch für einen verzerrten Wettbewerb gesorgt. Tatsächlich betreiben die Oligarchen ihre TV-Kanäle häufig als private PR-Kanäle, mit denen auch schon mal gezielt Desinformationskampagnen gegen die politischen Gegner geführt würden. Doch ohne die Oligarchen könnten die TV-Kanäle einpacken. „Ein verheerender Kreislauf“, so Katja Gortschinskaja, Geschäftsführerin der während des Euromaidan entstandenen Video-Plattform „Hromradske TV“. Ein Transparenzgesetz, um zumindest die Eigentumsverhältnisse der verschiedenen Medienunternehmen für alle einsehbar zu machen, wurde zwar 2015 von Präsident Poroschenko unterschrieben, sei bisher allerdings nur vereinzelt umgesetzt worden.
Zu diesem Dilemma kommt die desaströse Situation des ehemaligen Staatsfunks hinzu, der aktuell in einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach westeuropäischen Vorbildern umgebaut wird. Dessen neuer Generaldirektor Zurab Alasania muss das schwierige Erbe in eine bisher noch unsichere Zukunft führen. Denn auf Unterstützung, vor allem finanzieller Art, von staatlicher Seite könne er nicht zählen. Schon gar nicht von einem Präsidenten, der immer noch seinen privaten TV-Sender Kanal 5 weiter betreibe. Unterstützung bei der Reformierung des versteinerten Gebildes und vor allem bei der Neugestaltung des Programms mit 70er Jahre-Anmutung, von den Ukrainern spöttisch „Oma-Fernsehen genannt, erhalte der erfolgreiche Medienmanager Alasania bisher fast ausschließlich aus dem Ausland, aus Deutschland beispielsweise von der Deutsche Welle Akademie. Schwieriges Fahrwasser für ein öffentlich-rechtliches Projekt, das den Fernseholigarchen künftig die Zuschauer streitig machen soll.

Die journalistische „black box“

Bisher seien etwa 600 Journalist_innen aus der Ost- in die Zentralukraine geflüchtet, so Pörzgen anlässlich der Präsentation des ROG-Berichts. Wer geblieben ist, arbeite entweder als Stimme der Regierung der sogenannten Volksrepubliken oder versuche verdeckt, Informationen an ukrainische Medien zu übermitteln. Ein gefährliches Unterfangen, wie die Luhansker Journalistin Maria Warfolomejewa wortwörtlich am eigenen Leib erfahren hat. Weil ein befreundeter Journalist aus Kiew sie bat, Fotos von einem Haus in Luhansk aufzunehmen, wurde sie Anfang 2015 von den prorussischen Separatisten gefangen genommen und kam erst im März dieses Jahres im Rahmen eines Gefangenenaustausches wieder frei. Heute lebt und arbeitet sie in Kiew. Viele ihrer befreundeten Journalist_innen würden versuchen, über das Netz Informationen aus der Ukraine in den Donbass zu bekommen. Etwa der aus Luhansk geflüchtete Journalist Andrij Dichtjarenko, der nun von Kiew aus in seiner Freizeit mit seiner Website „Realnaja Gazeta“ über die Lage in der Ostukraine berichtet. Der Donbass sei aktuell eine journalistische „black box“, sagt Pörzgen. Journalist_innen, ob aus dem In- und oder Ausland, werde der Zugang zu den selbsternannten Volksrepubliken verwehrt. Dabei sei eine Akkreditierung die einzige Möglichkeit, überhaupt einigermaßen sicher in diesem Gebiet recherchieren zu können.

Von der OSZE-Präsidentschaft fordert ROG deshalb auch, dafür zu sorgen, dass Journalist_innen freien Zugang nach Luhansk und Donezk erhalten. Von der ukrainischen Führung wird hingegen eine zügige und effektive Umsetzung der Reformvorhaben in der Mediengesetzgebung sowie ein entschlosseneres Engagement für die Belange und den Schutz ukrainischer sowie ausländischer Journalist_innen erwartet. Im Fokus steht aber auch die ROG-Empfehlung an die ausländischen Geberorganisationen, ukrainische Medienprojekte und Journalist_innen sowohl finanziell als auch ideell zu unterstützen und zu fördern. Aus eigener Kraft könnte das von Krieg und Wirtschaftskrise doppelt gebeutelte Land es womöglich nicht schaffen.


Der ROG-Bericht zur Lage von Journalisten und Medien in der Ukraine kann hier als PDF-Datei heruntergeladen werden

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