Für freie Berichterstattung

Im Osten Syriens schließen sich Medienaktivisten zusammen

„Deine Absichten in Ehren, aber sie werden den Boden mit Dir wischen, wenn du wirklich neutral berichten und die Rebellen kritisieren willst“, ruft Medienaktivist Süleyman in den Raum des frisch renovierten und gerade erst eröffneten Nuschadah-Zentrums in Deir az-Zor. Seit Monaten wird heftig gekämpft in der ostsyrischen Stadt am Euphrat-Fluss. Schon der Weg zum Treffen der Medienmacher ist gefährlich. Artilleriegranaten gehen unvermittelt in der direkten Nachbarschaft nieder. So kann die Versammlung der Medienaktivisten erst später beginnen, nachdem alle einen sichereren Weg durch Seitenstraßen gefunden hatten.

Aktivisten der ersten Stunde der syrischen Revolution und neue Videofilmer diskutieren lange und kontrovers an diesem Abend. Hier können sie frei sprechen, ohne Angst vor den Häschern des Regimes. Im selbstverwalteten Nuschadah-Zentrum mit den laut widerhallenden Wänden herrscht bereits jene Demokratie und Freiheit, für die Syrer vor über zwei Jahren begannen, auf die Straße zu gehen. Doch nach so vielen Toten in ihrer belagerten und in Trümmern liegenden Stadt verändern sich auch die Koordinaten der medienschaffenden Männer und Frauen in Deir az-Zor. Sie sehen sich als Teil der Revolution und sympathisieren mit dem bewaffneten Aufstand. Doch immer weniger Rebellengruppen wollen sich in die Karten schauen lassen. Offene Ablehnung schlägt ihnen von den radikal-islamistischen Brigaden entgegen. Zwar werden genehme Medienaktivisten von den moderaten Einheiten eingeladen, um Bombenanschläge und Angriffe auf die Regierungstruppen zu filmen. Doch mit jedem Tag, den dieser Bürgerkrieg länger andauert, werden die Zügel der Reglementierung fester angezogen. Und wer auf seiner Facebook-Seite gar kritisch über den bewaffneten Kampf berichten will, dem empfiehlt Süleyman zu bedenken, dass die Revolution noch nicht vollzogen ist und man sich vorher nicht weitere Probleme mit den Rebellen an den Hals holen sollte.
Der junge Chefredakteur Munir vom lokalen TV-Kanal Deir Press Network (DPN) sieht das gelassener: „Wir haben zwei Jahre lang unter Lebensgefahr gegen Assad gearbeitet, warum sollten wir uns jetzt Angst machen lassen von einigen finster auftretenden Rebellengruppen?“ Auch bei DPN versteht man sich als Teil der Revolution. Die studentischen Macher des Kanals wurden aktiv, weil ihre Uni schloss und sie lieber die Kamera als die Kalaschnikow gegen das Regime in die Hand nahmen. Ihr aus Ägypten ausstrahlender Satelliten-Kanal sendet 24 Stunden Promo-Videos für die Revolution und Hilfsorganisationen in Deir az-Zor. Die Namen der in der Stadt Getöteten werden täglich gelistet und meist uneditierte Videos von Kämpfen auf die Server hochgeladen. „Wenn das Regime gestürzt ist, wollen wir als Lokalsender neutral über unsere Stadt und alle Akteure berichten“, erklärt Munir ambitioniert. Doch ohne Unterstützung und Ausbildung dürfte das ein langer und beschwerlicher Weg werden. Denn bisher findet Deir az-Zor, obwohl es eine Hochburg des Widerstands gegen Assad und die Lage in der Stadt dramatisch schlecht ist, kaum Beachtung internationaler Hilfe oder Berichterstatter.

Journalisten getötet

Die über hundert aktiven Bürgerjournalisten schaffen Aufmerksamkeit für Deir az-Zor. Und immer wieder sterben sie dabei. So Wissams Bruder Rafiq, den drei Kugeln der Regierungssoldaten beim Filmen in Hüfte, Hals und Magen trafen. Schon zwei der Aktivisten von DPN sind seit Beginn der Revolte gestorben. In anderen Gruppen sieht es nicht besser aus. Der Tod ist blutiger Alltag.
Die Vielfalt der nebeneinander existierenden Mediengruppen ist Schwerpunktthema des Abends im Nuschadah-Zentrum. „Wir müssen uns zusammenschließen, um mit einer Stimme zu sprechen und bei Behinderungen unserer Berichterstattung gemeinsam dagegen auftreten“, fordert Sa’id, Aktivist der ersten Stunde. In dieser waffenstarrenden Zeit wollen sie so als revolutionäre Kraft mehr Gewicht bekommen. Frei und objektiv werden sie in naher Zukunft ohnehin nicht arbeiten. Denn während andere arabische Revolutionen rasch vollzogen waren und sich die Medienschaffenden anschließend dem Aufbau einer neuen Kultur freier Berichterstattung zuwenden konnten, hat der syrische Aufstand bereits den zweiten Frühling erlebt und ist inzwischen ein blutig geführter Bürgerkrieg. Aufrichtige journalistische Berichterstattung ist im Syrien dieser Tage Luxus und schon das Handwerk dazu konnte vor Ausbruch der Revolution im System kontrollierter Staatspropaganda niemand erlernen. Des weiteren ist in der gegenwärtigen Lage kaum jemand im Ausland bereit, in die Ausbildung der zukünftigen syrischen Journalisten zu investieren.

Journalistenunion gegründet. Heute jedoch wird ein Etappenziel erreicht. Was in den 43 Jahren unter Assads Geheimpolizei unmöglich war, wird im Nuschadah-Zentrum ganz selbstverständlich vollzogen. Die 50 versammelten Medienschaffenden aus Deir az-Zor stimmen nach einer einstündigen Debatte ab, ob sie eine Journalistenunion gründen, einen Mitgliedsausweis herausgeben und von den führenden Revolutionsgremien der Stadt registrieren lassen. Fast alle Hände heben sich. So ist es beschlossene Sache, den gleichzeitigen dumpfen Granatexplosionen draußen zum Trotz.
+++ (Alle Namen im Artikel geändert) +++

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Snowden und die große Datenmisshandlung

Zehn Jahre nach Beginn der bedeutenden Enthüllungen über die globale Überwachung durch Geheimdienste ist die journalistische Auswertung der von Edward Snowden bereitgestellten Dateien unbefriedigend. Große Medien haben sich dem Druck der betroffenen Regierungen gebeugt und die Auswertung der Dokumente abgebrochen oder sogar behindert.
mehr »

Wahlsieg gegen die Pressefreiheit  

Angst und Verzweiflung. Das sind die Gefühle vieler Journalist*innen nach dem erneuten Wahlsieg des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP) am Sonntag in der Türkei. Sind sie begründet? Was kommt als Nächstes auf die am Boden liegende Pressefreiheit zu? Und wie könnte es trotz allem weitergehen? Eine Kolumne aus Istanbul. 
mehr »

Keine Zeitung in Alamogordo New Mexico

Die Stadt Alamogordo im südlichen New Mexico mag mit ihren Kettenrestaurants und leeren Parkplätzen nicht die schönste sein, doch die umliegenden Berge und gigantischen Halbwüsten machen den spröden Beton allemal wett. In der Militärstadt leben rund 31 000 Menschen. Holloman Air Force Base, eine Basis der Luftwaffe, ist der größte Arbeitgeber. Was Alamogordo nicht mehr hat, ist eine eigene Zeitung. Zumindest nicht im klassischen Sinne. In ganz New Mexico gibt es derzeit noch 36 Zeitungen.
mehr »

Fenster zur Welt: RAW Photo Triennale

In ihrer vierten Ausgabe zeigt die RAW Photo Triennale Worpswede unter dem Thema „Turning Point. Turning World“ noch bis zum 11. Juni die Welt im Wandel. In den vier Häusern des Worpsweder Museumsverbundes gibt es vier Hauptausstellungen: „#EGO“ bietet künstlerische Positionen im Dialog, die von der Suche nach sich selbst erzählen. Bei „#FAKE“ geht es um die Suche nach Wahrhaftigkeit. „#NEXT“ dreht sich um aktuelle sozioökologische Fragestellungen und „#RISK“ verhandelt aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. Festivaldirektor Jürgen Strasser über die Schau und den Mythos Worpswede.
mehr »