Türkei: Ihre Waffen sind Kugelschreiber, Kameras und Laptops
An dem Tag, an dem seine Tochter geboren wurde, saß Ismail Yildiz in einer Zelle in „Kocaeli No. 1“. 160 Kilometer entfernt von Istanbul nahe der Kleinstadt Kandira in der Provinz Kocaeli am Schwarzen Meer. Eingesperrt in einem der sieben so genannten F-Typ-Gefängnisse, wie die neuen Hochsicherheits-Strafvollzugsanstalten der Türkei offiziell heißen. Der freie Journalist und langjährige Mitarbeiter der kurdischen Nachrichtenagentur ANF ist einer von 44 Journalistinnen und Journalisten, die am 20. Dezember 2011 in den frühen Morgenstunden bei einer großangelegten Polizeirazzia in Istanbul festgenommen wurden.
Fast ein Jahr mussten Yildiz und seine Kollegen warten, bis das Sondergericht unter dem Vorsitzenden Richter Ali Alicen den weltweit größten Journalistenprozess am 10. September 2012 im Istanbuler Justizpalast eröffnete. (M 7 und M 8/2012) Der Vorwurf lautet wie in allen so genannten KCK-Verfahren auf Rädelsführerschaft, Unterstützung und Mitgliedschaft in der verbotenen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK). Die meisten Angeklagten sind Kurden oder arbeiten für kurdische bzw. unabhängige staatskritische Medien. Die Türkei ist mittlerweile Weltmeister bei der Inhaftierung und Verfolgung von Journalisten: Aktuell sitzen nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen 64 Journalisten in Haft, rund 123 stehen vor Gericht.
Bereits der Auftakt des Mammut-Verfahrens endete mit einem Eklat: Der Richter ließ den Saal räumen, schloss Zuschauer und Angeklagte aus, weil diese ihr Recht auf Verteidigung in ihrer Muttersprache verlangt und ihre Anwälte die sofortige Einstellung des rechtswidrigen Schauprozesses gefordert hatten. Seitdem wird alle paar Monate für einige Tage im Gefängnis Silivri nahe der gleichnamigen Kleinstadt am Marmarameer verhandelt – rund 80 Kilometer von Istanbul entfernt. Wie lange noch, weiß niemand.
Im April 2009 begannen die Polizeiaktionen in der gesamten Türkei. Offiziell zielten die Massenfestnahmen gegen die KCK, die die Regierung der AKP, der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, als angeblichen „städtischen Flügel“ der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kriminalisiert. Ins Fadenkreuz der seit 2011 weltweit größten und bis heute andauernden „Anti-Terror-Operation“ geraten seitdem immer mehr Menschen, die sich für eine Lösung der kurdischen Frage, für Menschenrechte, einen gerechten Frieden und bürgerliche Freiheiten stark machen. Bisher sind rund 10.000 kurdische Rechtsanwältinnen, Akademiker, Politikerinnen, Studenten und lokale Räte, Gewerkschafterinnen und Journalisten von solchen Verfahren betroffen.
Die Logik der Ankläger ist simpel – und folgt der Tradition der politischen Gesinnungs- und Willkürjustiz: Die Angeklagten würden zwar wie Journalisten leben und arbeiten, aber in Wahrheit seien sie alle Terroristen und gehörten einer bewaffneten Organisation an. Bei den Razzien in Redaktionen, Privatwohnungen oder Journalistenbüros hat die Polizei keine Pistolen, Bomben oder Bekennerschreiben gefunden: „Sie haben nur Texte, Nachrichten, Interviews, Artikel, Fotos und Filmmaterial beschlagnahmt – also alles, was Journalisten und Journalistinnen täglich produzieren“, sagt Rechtsanwalt Ercan Kanar. Doch dieser Widerspruch stört das Sondergericht nicht. Am 25. September stellte Yildiz dem Gericht deshalb die Frage: „Werden wir als schuldig betrachtet, weil wir nicht solche Nachrichten schreiben, die die Polizei wünscht?“
Solidarität zeigen
Politische Prozesse sind für die meisten Beteiligten mit langen und aufwendigen Reisen verbunden: Zerya Zin ist sicher die jüngste, die jeden Monat ihren Vater im Gefängnis besucht hat. Am 8. Februar 2013 konnte Yildiz seine Tochter das erste Mal außerhalb des Gefängnisses in die Arme schließen – nach dreizehn Monaten und 19 Tagen entließ ihn das Gericht vorläufig aus der Untersuchungshaft. Jedoch sitzen bis heute noch 22 Angeklagte in Haft.
Aber auch Mitglieder der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion (dju) in ver.di machen sich regelmäßig seit September 2012 ehrenamtlich auf den Weg nach Istanbul, Silivri oder Diyarbakir – als Prozessbeobachter und um den eingesperrten und von hohen Haftstrafen bedrohten Kollegen die Solidarität und Unterstützung ihrer Gewerkschaft zu zeigen. Ebenso die Vertreter der Europäischen Journalistenföderation (EJF), deren Generalsekretär Ricardo Gutiérrez am 27. September als Prozessbeobachter feststellte: „Es ist offensichtlich, dass die angeklagten Journalisten für ihre Berichterstattung über die kurdische Frage bestraft werden.“
Während kurdische und unabhängige Medien in der Türkei von jedem Prozesstag berichten, trifft man in Silivri oder Diyarbakir keine deutschen Korrespondenten. Studiert man als kritischer Beobachter den Pressespiegel, fällt das Fazit über die internationale und deutsche Berichterstattung nüchtern aus: Die Pressefreiheit in Istanbul, dem neuen Lieblingsziel für deutsche Städtetouristen, scheint in deutschen Zeitungen und Magazinen nicht von Interesse zu sein.
Der Prozess in Silivri selbst erinnert an einen Roman von Kafka: Ein Strafsenat, der nur bis zum Urteil existieren wird. Anonyme Zeugen, von denen niemand weiß, ob es sie wirklich gibt. Und Vorwürfe, die alle Tätigkeiten eines praktizierenden Journalisten zum Beweis der Anklage umdeuten: So werden offizielle Redaktionskonferenzen in der Logik des Anklägers plötzlich zu geheimen Treffen einer bewaffneten Organisation. Das „Prinzip anonymisierter Zeugenaussagen“ setze das Recht der Angeklagten auf Verteidigung grundsätzlich außer Kraft: „Weder die Angeklagten noch die Anwälte können im Gerichtssaal die Richtigkeit der Aussagen dieser Zeugen und ihrer Beschuldigungen überprüfen“, ist Rechtsanwalt Kanar empört. In der Anklageschrift spricht der Staatanwalt von dem „so genannten Kurdistan“. Er wendet sich die meiste Zeit von den Angeklagten und Zuschauern ab – zu sehen ist dann nur die hohe Rückenlehne seines schwarzen Drehstuhls. Seine Arbeit wird ihm von zwei professionellen Vorlesern abgenommen: Tag für Tag, Stunde für Stunde lesen sie in einem immer gleich bleibenden Singsang Seite für Seite der 802 Blätter langen Anklageschrift vor. Abgehörte Telefongespräche, E-Mails, Facebook-Beiträge und Twitter-Meldungen.
Freilassung gefordert
Murat Cakir ist Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen und schreibt regelmäßig Kolumnen für die kurdische Tageszeitung Özgür Gündem in Istanbul. Seit Beginn der Repressionswelle verfolgt er die Situation seiner Kollegen: „Die KCK-Prozesse verfolgen in erster Linie das Ziel, die kurdische Bewegung zu schwächen, indem insbesondere linke Journalisten ausgeschaltet werden sollen.“ Seit Jahren fordern nicht nur die Journalistengewerkschaft der Türkei (TGS), Politikerinnen der BDP und der türkische Menschenrechtsverein IHD ein Ende der Anti-Terror-Sondergesetze und die Freilassung aller als „Geiseln des Staates“ eingesperrten Menschen. „Die AKP-Regierung muss, wenn ihre aktuellen Demokratisierungspakete ernst genommen werden sollen, sofort alle KCK-Häftlinge freilassen“, sagt auch Murat Cakir und stellt klar: „Die Freilassung der KCK-Häftlinge ist meiner Einschätzung nach die wichtigste Voraussetzung für einen konstruktiven Fortgang der Friedensverhandlungen mit der kurdischen Bewegung.“
Der türkische Ministerpräsident Tayip Erdogan ging jedoch bei der seit Monaten angekündigten Präsentation seines „Demokratie-Pakets“ am 30. September auf diese Forderungen mit keinem Wort ein. Liest man seine Ankündigungen, muss man sogar neue Repressalien gegen kritische Journalisten befürchten: Auf bis zu drei Jahren Haft will seine AKP-Regierung den umstrittenen Straftatbestand zu beleidigenden Äußerungen gegen „Religion und Nation“ verschärfen – bekanntlich ein Gummiparagraph, um unliebsame Autoren zum Schweigen zu bringen.
Auch unabhängig von den KCK-Prozessen verschärft sich die Repression in der Türkei dramatisch. Bei der Räumung des Gezi-Parks Mitte Juni kam es zu massiven Einschränkungen der Pressefreiheit: „Die Polizisten haben uns gezielt die Presseausweise vom Hals gerissen“, berichtete Gökhan Biçici Ende August im Münchner DGB-Haus bei einer Großveranstaltung. Biçici ist Reporter und Moderator beim kurdischen Nachrichtenkanal IMC TV in Istanbul. „Wir haben sehr viele gezielte Angriffe auf Journalisten, brutale Misshandlungen und willkürliche Festnahmen durch die Polizei dokumentiert“, so der diesjährige Preisträger für „Pressefreiheit“ der TGS.
Gemeinsam mit Mitgliedern der dju aus München stellte die TGS ihren Gezi-Report bereits am 24. Juni vor dem Istanbuler Justizpalast öffentlich vor und übergab anschließend ihre Anzeigen gegen die Istanbuler Polizei: Demnach erlitten allein in Istanbul 28 Journalisten durch CS-Gas-Patronen, Wasserwerfer oder Gummigeschosse teils schwere Verletzungen. 22 wurden von der Polizei gezielt angegriffen und bei ihrer Arbeit behindert. 14 wurden bei ihrer Arbeit festgenommen, teils schwer misshandelt und in Untersuchungshaft genommen. Vier Journalisten wurden bei Polizeirazzien gegen linke Medien verhaftet. Jeder Fall ist namentlich dokumentiert, eine Reaktion der türkischen Justiz gibt es bis heute nicht. „Reporter ohne Grenzen“ zählte in ihrem Bericht vom 8. Juli türkeiweit 54 verletzte und 34 festgenommene Journalisten – darunter auch zahlreiche Vertreter internationaler Medien. Bis heute haben laut TGS und einem Bericht von „amnesty international (ai)“ 81 Journalisten aufgrund ihrer Berichterstattung in Zusammenhang mit der Protestbewegung ihren Job verloren.
Mörder nie identifiziert
Beim letzten Prozesshearing Ende September sagte Ismail Yildiz vor Gericht: „Plötzlich soll Journalismus und besonders investigativer Journalismus ein Verbrechen sein. Was wir hier erleben, ist meiner Meinung nach ein faschistischer Angriff aus dem Hinterhalt.“ Ein harter Vorwurf. Doch die angeklagten Journalisten haben nicht vergessen, dass allein in den 1990er Jahren insgesamt 76 kurdische Kollegen ermordet worden sind – bis heute sind die Täter nicht identifiziert. Yildiz schloss seine Verteidigungsrede mit den Worten: „Wenn die Medien endlich frei über die politischen Zustände und die Repression in der Türkei berichten könnten, würde die Regierung ihr Ansehen in den Augen der Welt verlieren.“
Weitere Informationen
http://dju.verdi.de/ueber-uns/international/
Über den Autor
Michael Backmund lebt und arbeitet als Journalist, Autor und Filmemacher in München.
Er hat mehrmals KCK-Prozesse in Istanbul und Silivri besucht.
Er ist Mitglied im Kreisvorstand München der dju in ver.di.