Leserbrief: Mangel an Belegen

Zum Leserbrief von Prof. Dr. Jörg Becker in M 12 / 06

1. Finanzierung von Reporter ohne Grenzen eine Glaubensfrage?

Wer sich für die aktuelle Bilanz von Reporter ohne Grenzen (ROG) interessiert und sich aus originären Quellen informieren möchte, ist herzlich eingeladen, auf unsere internationale Seite unter www.rsf.org zu klicken. Dort sind die Zahlen zugänglich. Warum Herr Becker Zahlen aus 2003 heranzieht, ist daher nicht nachvollziehbar.

Nehmen wir die aktuellen Zahlen aus dem Jahr 2005: 53 % der gesamten Einnahmen stammen aus selbstgenerierten Quellen wie Auktionen, Kalenderverkäufen und den Erlösen unserer zweisprachigen Bildbände „Fotos für die Pressefreiheit“. Renommierte Fotografinnen und Fotografen unterstützen uns, indem sie unentgeltlich ihre Bilder zur Verfügung stellen. Die Bände erscheinen zwei Mal im Jahr in hoher Auflage und werden international vertrieben. In Frankreich sind sie in jedem Kiosk und in großen Supermarktketten zu haben. Das ist keine Glaubensfrage, wie Herr Becker annimmt, sondern eine große Leistung und ein geprüfter Betrag in unserem Jahresabschluss.

2. Reporter ohne Grenzen eine abhängige Organisation?

Herr Becker behauptet, Reporter ohne Grenzen hätte im Jahr 2003 „viel Geld“ vom National Endowment for Democracy (NED) erhalten. Doch das ist falsch. Die Förderung vom NED startete im Jahr 2005 für ein Projekt zur Unterstützung bedrohter Journalisten in Afrika. Unserer Erfahrung nach ein Kontinent, der nicht gerade im Rampenlicht steht. Den gefährdeten und hinter Gittern sitzenden Kollegen geht es wie der übrigen Bevölkerung: Sie werden kaum beachtet. Für dieses Projekt hat ROG 30.000 Euro erhalten oder 0,8 % unseres Jahresbudgets. Ob es dem NED, das zweifelsfrei eine fragwürdige Vergangenheit aufweist, damit heute gelingt, linke Kräfte weltweit zu bekämpfen, bezweifle ich. Es gab weder einen von den außenpolitischen Interessen der USA bestimmten Fokus noch wurden Gesinnungsprüfungen bei den Gefährdeten und Inhaftierten vorgenommen.

In 2005 wurden 27 % (im Vergleich 2004: 10 %) unseres Haushaltes von insgesamt 12 Institutionen, Unternehmen, Stiftungen und Medien finanziert. Der Anteil lag weit über dem des Vorjahres wegen einer hohen finanziellen Zuwendung für unsere Aktivitäten zu unserem 20jährigen Jubiläum. Die öffentliche Förderung etwa durch die EU macht 10 % aus. Eine Abhängigkeit von einzelnen Geldgebern lässt sich daraus nicht ableiten. In der Regel verhält es sich so: Bleibt die Förderung für bestimmte Projekte aus, können wir sie nicht durchführen. Einstellen müssen wir unsere Arbeit jedoch nicht. In Deutschland finanziert sich Reporter ohne Grenzen übrigens ausschließlich über den Verkauf des jährlich publizierten Bildbandes, über Mitgliedsbeiträge, Spenden und Auktionen.

Dem Vorwurf, wir seien wegen der öffentlichen Geldzuwendungen alles andere als eine regierungsferne Organisation, mangelt es an inhaltlichen Belegen. Ein Blick in unsere Berichterstattung zeigt, dass wir uns unabhängig von wirtschaftlichen, religiösen oder politischen Interessen zu Wort melden. Wer auf unsere Webseite klickt, findet zu allen Ländern, in denen Einschränkungen der Pressefreiheit zu verzeichnen sind, Pressemeldungen – auch zu den USA, Frankreich oder der EU. Aber eben auch zu Kuba, Russland oder China.

3. Ranking zur Pressefreiheit – simples Abbild einer Gut-Böse-Achse?

Reporter ohne Grenzen veröffentlicht seit 2002 ein Ranking zur Lage der Pressefreiheit weltweit. Zugegeben wissenschaftlich gesehen ein schwieriges Unterfangen in einer komplexen Welt. Der Katalog mit fünfzig Fragen fußt jedoch auf unserer zwanzigjährigen Erfahrung und Dokumentation auf diesem Gebiet. Die Fragen sind so abgefasst, dass sie sich weltweit vergleichen lassen. Die Auswertung bezieht sich auf Ereignisse und Fakten in einem bestimmten Zeitraum. Drei ausgefüllte Fragebögen von Experten müssen vorliegen, damit ein Land in der Rangliste erscheint. Aus Verstößen gegen die Pressefreiheit, auch den systematischen, leiten wir den Stand der Pressefreiheit ab. Jede Frage ist daher mit Punkten gewichtet. In Ländern mit geringer Punktzahl, können Journalisten und Medien in der Regel ungehindert arbeiten. Gravierende Veränderungen, wie der Auf- oder Abstieg eines Landes, werden im begleitenden Material erläutert.

Im aktuellen Ranking sind 166 Länder gelistet. Aus den Ergebnissen lassen sich Probleme identifizieren und Tendenzen ablesen. Ein weiterer positiver Effekt: Die durch die Rangliste angefachten Diskussionen rücken manch einen Missstand auch in unseren Regionen erst ins öffentliche Interesse. Mit einer „Gut-Böse-Achse“ hat das nichts zu tun.

Doch Methoden sind immer umstritten und jedes Ranking verdient Kritik. Daher entwickelt ROG dieses Instrument jedes Jahr weiter und nimmt gerne Vorschläge zur Verbesserung entgegen. Weitere Informationen: www.reporter-ohne-grenzen.de.

Fazit: Eine gewissenhafte Recherche vor Meinungsbildung hätte manch eine Fehlinterpretation verhindert und manch eine Frage beantwortet.

Elke Schäfter ist Geschäftsführerin von Reporter ohne Grenzen

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

„Das Problem mit der Leidenschaft“

Lena Hipp ist Professorin für Soziologie an der Universität Potsdam und leitet die Forschungsgruppe „Arbeit und Fürsorge“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Mit M sprach sie über „Gute Arbeit“, Stressoren im Journalismus und weshalb die Trennung von Arbeit und Privatleben für Medienschaffende so wichtig ist.
mehr »

Türkische Presse im Visier der Justiz

Der Journalist Nedim Türfent berichtet über die Situation von Medienschaffenden in der Türkei. Sein Film "Ihr werdet die Macht der Türken spüren!" über die schikanöse Behandlung kurdischer Bauarbeiter erregte große Aufmerksamkeit und brachte ihm 2015 einen Journalistenpreis ein - und 2016 seine Verhaftung. Er wurde gefoltert und zu acht Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Die meiste Zeit davon verbrachte er im Hochsicherheitsgefängnis in der östlichen Stadt Van. Türfent wurde am 29. November 2022 nach sechs Jahren und sieben Monaten Haft entlassen. Schon wenige Monate später arbeitete er wieder als Journalist. Zurzeit nimmt er an einem Stipendium für bedrohte…
mehr »

Die Verantwortung der Redaktionen

Auf die mentale Gesundheit zu achten, ist keine individuelle Aufgabe. Auch Arbeitgeber*innen können und sollten etwas für psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen tun. Wie funktioniert das in einer Branche, die so geprägt ist von Zeit und Leistungsdruck und belastenden Inhalten wie der Journalismus? Wir haben uns in zwei Redaktionen umgehört, die sich dazu Gedanken gemacht haben: das Magazin Neue Narrative und der Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag (SHZ).
mehr »

Gewalterfahrung im Lokaljournalismus

In Deutschland hat sich die Zahl der gewalttätigen Übergriffe auf Journalist*innen deutlich erhöht. Viele der Übergriffe finden am Rande von Demonstrationen statt. Der Thüringer Journalist Fabian Klaus recherchiert zu Rechtsextremismus und wird deshalb bedroht. Mit M sprach er über zunehmende Bedrohungslagen im Lokaljournalismus und die Unterstützung aus den Redaktionen.
mehr »