Nicht zurückstecken

Indien: Tongam Rina wurde angeschossen und musste untertauchen

M sprach mit der indischen Journalistin Tongam Rina. Die 34jährige engagiert sich für Frauenrechte, Umweltschutz und gegen Korruption. Bis Mai dieses Jahres war sie Gast der Hamburger Stiftung für Politisch Verfolgte. Nun arbeitet sie wieder für The Arunachal Times, die größte Zeitung des indischen Bundesstaates Arunachal Pradesh.

Journalistin Tongam Rina arbeitet wieder in Indien Foto: privat
Journalistin Tongam Rina arbeitet wieder in Indien
Foto: privat

Indien ist das bevölkerungsreichste Land der Welt mit einem demokratischen System. Funktioniert diese Demokratie? Im Mai wurde gewählt. Haben Sie einen fairen Wahlkampf erlebt?

Tongam Rina | Die Demokratie funktioniert, aber wie andernorts auch hinkt sie manchmal, steckt hier und da mal fest und bewegt sich dann wieder im aufrechten Gang. Überall wird das demokratische System mit Herausforderungen und massiven partikularen Interessen konfrontiert. Die Wahlen liefen im Großen und Ganzen fair und friedlich ab. Das eigentliche Ergebnis war trotzdem eine Überraschung. Zwar wussten wir alle, dass die rechtskonservative BJP (nationalistische Hindu-Partei Bharatiya Janata Partei) an die Macht kommen würde. Allerdings lag die Stimmenzahl doch deutlich über den Prognosen.

Sie leben und arbeiten in dem an der Grenze zu China liegenden Bundesstaat Arunachal Pradesh. Wo sehen Sie die größten Probleme dort?

Das ist die Korruption, aber auch Umweltprobleme vor allem aufgrund der riesigen Energieprojekte sowie die hohe Arbeitslosigkeit sind die gravierendsten Probleme. Wir treten in unserer Entwicklung auf der Stelle. Die Interessen einiger weniger stehen über den Interessen der Allgemeinheit. Wie sich die Machteliten gegenseitig die lukrativen Posten zuschieben, habe ich vor ein paar Jahren beschrieben, als ich über einen Prozess gegen diese einflussreichen Familien berichtete. Danach musste ich untertauchen. Ich habe später über die Unterschlagung von Reis-Subventionen zur Versorgung der Ärmsten und über ein Staudammprojekt berichtet, wo Gelder abgezweigt und keine Rücksicht auf Flora und Fauna genommen wurde.

Am 15. Juni 2012 wurden Sie von einem Unbekannten im Eingang zur Redaktion der Arunachal Times niedergeschossen. Die Kugel verfehlte nur knapp die Wirbelsäule. Wissen Sie etwas über die Täter?

Nein, es handelt sich immer noch um ein schwebendes Verfahren. Vier Personen wurden beschuldigt und kamen in Untersuchungshaft. Drei wurden aber wieder auf Kaution freigelassen. Es ist unstrittig, dass ein Täter schoss, dass er nicht maskiert war. Das zeigt, dass er wenig Angst vor Strafverfolgung hatte. Ich habe wenig Hoffnung, dass geklärt wird, wer das Attentat in Auftrag gab. Von Gerechtigkeit sind wir weit entfernt.

Die Pressefreiheit ist in Indien in der Verfassung fixiert. Gilt sie auch in der Praxis?

Theoretisch genießen wir Meinungs- und Pressefreiheit, aber in der täglichen Berichterstattung ist davon wenig zu spüren. Viele Pressevertreter werden überfallen und Verlagshäuser werden unter Druck gesetzt – von einflussreichen Politikern, Familienclans. In der Realität ist es schwer an Informationen zu kommen, aber das macht auch den Reiz des Berufes aus. Es ist eine spannende Aufgabe Ungerechtigkeit zu benennen, die Öffentlichkeit zu informieren. Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns, um darüber berichten zu können, worüber berichtet werden muss.

Frauen sind in Indien häufig Opfer von Gewalt. Sie unterstützen die Arunachal Pradesh Women Welfare Society. Wie agiert sie?

Sie arbeitet mit Frauen, die Opfer von Gewalt wurden. Die Frauen werden juristisch beraten und wir unterstützen mit Selbsthilfe-Programmen. Meist geht es darum die Frauen finanziell unabhängiger zu machen. Dabei dokumentiere ich die Arbeit, helfe bei der Suche nach Wohnungen, denn wenn die Ehe scheitert, werden die Frauen meist aus dem Haus geworfen. Polygamie und Zwangsheiraten sind weitere große Probleme, neben der Gewalt.

Mehrere Fälle von Massenvergewaltigungen haben international Schlagzeilen gemacht. Haben Sie die Hoffnung, dass sich etwas ändert?

Ich glaube nicht daran, es wird weitere dieser schrecklichen Geschichten geben, denn es steckt in den Köpfen, in der Erziehung. In vielen Gemeinden Indiens ist es ein Fluch als Mädchen geboren zu werden. Wir leben in einem extrem patriarchalen System, wo Frauen kaum etwas zu sagen haben. Erst wenn die Männer die klare Ansage bekommen, dass sie mit Gefängnis zu rechnen haben, wenn sie Frauen Gewalt antun, kann sich etwas ändern. Ich setze alle meine Hoffnungen auf die indische Jugend und ich denke, dass es unglaublich wichtig ist, unsere Frauen und Mädchen zu fördern und damit zu stärken.

Sie haben zwölf Monate in Hamburg gelebt. Wie haben Sie diese Zeit wahrgenommen?

Es war eine bereichernde Erfahrung. Ich bin viel in Deutschland gereist und es war sehr schön allein unterwegs zu sein, ohne sich Gedanken über meine Sicherheit zu machen. In Indien ist es nicht möglich auf die Straße zu gehen, ohne belästigt zu werden. Die Zeit hier hat mir viel Energie gegeben und den Mut, zurückzukehren. Ich weiß, dass meine Rückkehr riskant ist, aber ich habe mich entschieden mein Leben zu leben und nicht zurückzustecken. Ich bin ein sehr positiver Mensch, liebe meine Arbeit und sie gibt mir eine tiefe Befriedigung. Seit Juni arbeite ich wieder in der Redaktion, schreibe über Umweltprobleme, Politik und Korruption.

        Gespräch: Knut Henkel

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