Yücel Özdemir, Korrespondent von Evrensel, lebt seit 20 Jahren in Deutschland
Yücel Özdemir sitzt in seinem schmucklosen Büro im Technologiepark im Kölner Stadtteil Müngersdorf. Der Deutschlandkorrespondent der türkischen Tageszeitung Evrensel (Universal) bereitet sich auf einen Fernsehauftritt vor. Das Studio von „Hayat TV“ ist nur wenige Meter entfernt. Dort wird ihn gleich die Moderatorin Suna Canan für ihre sonntägliche Sendung „Avrupa’da hayat“ („Leben in Europa“) befragen. Zum NSU-Prozess.
Der 44-jährige gehört zu jenen 50 Journalisten, die beim zweiten Akkreditierungsverfahren des Oberlandesgerichts München einen der hoch begehrten ständigen Beobachterplätze erhalten haben. „Das NSU-Verfahren ist historisch relevant, weil es entscheidend dafür ist, ob die Angehörigen der Opfer und die Einwanderer insgesamt das Vertrauen gegenüber Deutschland und den Deutschen wiedererlangen können“, sagt er. Seine Stimme verrät: Es geht auch um sein eigenes Vertrauen.
Seit 20 Jahren lebt Yücel Özdemir in Deutschland. In der Türkei war der damals 25-Jährige zu sechs Jahren Knast verurteilt worden. Sein „Verbrechen“: Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift Gerçek (Realität), der Vorläuferin von Evrensel. Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Özdemir blieb nur noch die Flucht. Die Bundesrepublik gewährte ihm Asyl. Lange hat der Journalist, der seit 2002 auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, auf die Aufhebung des in der Türkei ergangenen Unrechtsurteils warten müssen. Im Juli 2012 durfte er erstmals wieder sein Geburtsland besuchen. Im Konferenzraum des Kölner Evrensel-Büros hängt ein altes Plakat von amnesty international. „Meinungsfreiheit ist Menschenrecht“, steht darauf. „Niemand darf dafür eingesperrt werden.“
In Deutschland können nicht viele etwas mit dem Namen des linksoppositionellen Blattes anfangen. In der Türkei sieht das trotz der geringen Auflage, die derzeit durchschnittlich bei 6.000 Exemplaren liegt, etwas anders aus. Dass es Evrensel bis heute gibt, gleicht einem Wunder. Besonders in den ersten Jahren nach ihrer Gründung im Juni 1995 war die regierungskritische Zeitung immer wieder Ziel massiver staatlicher Repressalien. Unzählige Ausgaben wurden konfisziert. Permanent durch Strafverfahren und Schließungsverfügungen in ihrer Existenz gefährdet, reichten die gegen sie erhobenen Vorwürfe von „Aufstachelung zum Klassenhass“ bis zu „separatistischer Propaganda“ – wegen ihres Einsatzes für eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts. Journalisten wurden verhaftet und gefoltert.
Trauriger Höhepunkt, der die kleine sozialistische Zeitung auf tragische Weise bekannt machte: Am 8. Januar 1996 wurde in Istanbul der Evrensel-Reporter Metin Göktepe in Polizeigewahrsam zu Tode geprügelt. Die Ermordung des 27-jährigen Journalisten sorgte für einen Sturm der Entrüstung in der gesamten türkischen Presse und weit darüber hinaus. Im Mai 1999 wurden sechs Polizisten zu Freiheitsstrafen von siebeneinhalb Jahren verurteilt – ein für die damaligen türkischen Verhältnisse sensationelles Ergebnis (M 6/99).
60 Redakteure arbeiten heute in der Evrensel-Zentrale im Istanbuler Stadtteil Kocamustafapaşa. Darüber hinaus verfügt die Zeitung über Büros in Ankara, Izmir, Kocaeli, Adana und Diyarbakir. Ein ziemlich großer Apparat für ein kleines Blatt. Allerdings macht die Evrensel-Crew seit Dezember 2007 nicht nur Zeitung, sondern auch Fernsehen. „Hayat TV“ („Leben TV“) heißt ihr ambitionierter Nachrichtensender, der sich als eine Art „CNN von unten“ versteht. Auch Özdemir hat seine eigene Sendung auf dem über Türksat ausgestrahlten und werbefinanzierten Satellitenkanal: Jeden Mittwoch moderiert er von Köln aus „Avrupa Penceresi“ („Europas Fenster“), eine Diskussionsrunde mit Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern oder Gewerkschaftern.
Seit dem Start von Evrensel gibt es eine Dependance in Deutschland, zunächst in Duisburg, dann im südlich von Frankfurt gelegenen Dreieich und seit 2000 in Köln. Bis 2009 erschien eine in der Bundesrepublik gedruckte Europaausgabe. Der Fokus blieb aber auf die Türkei gerichtet. Das sei irgendwann nicht mehr zeitgemäß gewesen, sagt Özdemir. Deswegen gibt es inzwischen die vierzehntägig erscheinende Yeni Hayat (Neues Leben), die vollständig in der BRD produziert wird und zweisprachig erscheint. „Die türkeistämmigen Migranten ändern sich, also müssen wir uns auch ändern“, begründet das Mitglied der dju in ver.di die publizistische Entscheidung.
„Nach dem Brandanschlag von Solingen im Mai 1993 markiert die NSU-Mordserie den zweiten großen Bruch im Verhältnis der türkeistämmigen Einwanderer zu Deutschland“, sagt Özdemir. Im Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre mutmaßlichen Unterstützer gehe es nicht nur um eine gerechte Urteilsfindung, sondern auch um die Aufklärung der Hintergründe. Deshalb sei auch eine kritische Begleitung äußerst wichtig. Das ist auch der Grund, warum Özdemir unmittelbar nach der Auslosung der taz und dem Neuen Deutschland anbot, seinen Platz an jenen Verhandlungstagen zur Verfügung zu stellen, an denen er nicht selbst vor Ort sein kann. Das Angebot haben sie dankend angenommen.