Wie eine Fliege an der Wand

Neuer Doku-Trend aus England verspricht „das echteste Fernsehen“

Der Aufwand war enorm. Allein vierzig Kameras waren nötig, um eine Neugeborenenstation so auszustatten, dass alle möglichen Perspektiven erfasst werden konnten. Doch der Einsatz hat sich gelohnt: „One Born Every Minute“ war vor zwei Jahren einer der großen Programmerfolge bei Channel 4. Das Format gilt heute als Trendsetter für ein neues Genre.

Die Bezeichnung „Multi Rig Documentaries“ beruht auf dem Begriff aus der Veranstaltungstechnik „Rigging“ und bezieht sich auf die technikintensive Vorarbeit, die nötig ist, um das Material für die Dokumentationen der neuen Generation zu sammeln. „Wenn man 24 Stunden am Tag dreht, was sich auf einer Geburtenstation ja nicht vermeiden lässt, müssen die Ereignisse in drei Schichten pro Tag beobachtet werden, und das drei Wochen lang“, erläutert Axel Kühn. Er ist Geschäftsführer von Shine Germany, „One Born Every Minute“ ist eine Produktion von Dragonfly Film and Television, einer Tochter der britischen Mutterfirma Shine Group. Kühn, früher Geschäftsführer von Tresor TV („Die Super Nanny“), ist zuversichtlich, dass das neue Genre über kurz oder lang auch den deutschen Markt erobern wird, selbst wenn der kostspielige Aufwand aus Sicht deutscher Sender und Produzenten zunächst abschreckend wirkt: Die Kameras werden ausnahmslos ferngesteuert, speziell ausgebildete Techniker sind jeweils für mehrere Geräte zuständig. Inklusive Redaktions- und Produktionspersonal sind pro Schicht zwölf Personen beteiligt. Man kann sich vorstellen, wie viel Bildmaterial auf diese Weise produziert wird. Entsprechend umfangreich ist anschließend die Schnittzeit. Aber die Bilder sind den Aufwand wert: Eine Szene kann aus fünf Blickwinkeln gleichzeitig dokumentiert werden; mit einem Kamerateam wäre so etwas gar nicht möglich.

Bislang zurückhaltend. Bislang sind diese Dokumentationen der neuen Generation ein vorwiegend britisches Phänomen. Shine Germany ist laut Kühn allerdings mit einigen deutschen Sendern im Gespräch: „Alle sind angetan von der Unmittelbarkeit der Emotionen.“ Aber auch, muss er einräumen, zurückhaltend wegen der Kosten: „Könnten wir die Produktionen zum halben Preis herstellen, man würde sie uns aus der Hand reißen.“ Er geht dennoch davon aus, innerhalb der nächsten Monate die erste Dokumentation dieser Art herzustellen. Kühns Kollegen sind da deutlich zurückhaltender. Endemol beispielsweise verwendet das Arbeitsmodell zwar schon geraume Zeit für „Big Brother“, plant aber keine dokumentarischen Formate. Uwe Kersken, Produzent und geschäftsführender Partner der Kölner Gruppe 5 Filmproduktion („Die Deutschen“), ist ohnehin überzeugt, „diese Art Schlüssellochfernsehen“ werde in Deutschland „nie die Primetime erobern, weil die Zuschauer zur Hauptsendezeit großes Fernsehen bevorzugen.“
Auf dem britischen Fernsehmarkt hat das neue Genre allerdings für viel Bewegung gesorgt. Neben „One Born Every Minute“ hat Shine für Channel 4 noch weitere Reihen produziert. Für „The Family“ zum Beispiel wurde ein Einfamilienhaus komplett mit Kameras bestückt, für „Educating Essex“ gleich eine ganze Schule: Mit Hilfe von 65 Kameras wurden einige ausgewählte Lehrer und Schüler beobachtet. Gerade diese allumfassende Überwachung, räumt Kühn ein, wäre in Deutschland problematisch: „Hierzulande muss gewährleistet sein, dass niemand gegen seinen Willen gefilmt wird. Bei einer Geburtenstation wäre das kein Problem, weil im Gegensatz etwa zu einer Schule ausgeschlossen ist, dass jemand zufällig auftaucht.“
Aber es gibt auch ethische Einwände. In England sind die Kameras unter anderem in einem Hochsicherheitsgefängnis angebracht worden („Strangeways“, ITV). Kersken erinnert dies an Closed Circuit Television (CCTV), die öffentliche Übertragung von Videoüberwachungssystemen, die man von der Terrorabwehr in Großstädten kennt. Er hält die Entwicklung generell für bedenklich: „Jetzt sorgen wir auch im Fernsehen dafür, dass wir immer durchsichtiger werden.“ Kameras zu installieren, „wo der Schutz der individuellen Intimsphäre eigentlich oberstes Gebot sein sollte, etwa in Geburtskliniken oder Sterbehospizen“, interpretiert der Produzent als Zeichen dafür, „dass wir die Grenze zwischen Subjekt und Objekt immer mehr diffundieren lassen. Das kann Konsequenzen haben, die wir noch gar nicht absehen können.“ Entsprechend fassungslos ist Kersken angesichts des BBC-Formats „Our War“ (BBC 3), das eine Kriegsberichterstattung der besonders ausgefallenen Art bietet: Britische Soldaten in Afghanistan wurden mit Helmkameras ausgerüstet. Kersken kommt das vor, „als würden wir ‚Wildlife’-Dokumentationen von Menschen machen, womöglich inklusive entsprechender Jagdszenen. Bei Löwen oder Walen mag das interessant sein, vielleicht sogar sinnvoll, aber bei Soldaten? Wo liegt denn da der Mehrwert?“ Kein Wunder, dass der Produzent grundsätzliche Bedenken gegen das „Multi Rig“-Genre hat: „Wenn wir diese Entwicklung immer mehr zulassen, können wir nicht verhindern, dass wir seelisch völlig ausgeplündert werden. Ich sehe die Gefahr, dass im Fernsehen auch noch persönlichste Bereiche ausgestellt werden. Bestimmte Fernsehmacher versuchen, die Grenzen mehr und mehr zu verschieben und merken nicht, wenn es beginnt, pathologisch zu werden; für die Macher wie auch für die Zuschauer.“
Bei den Sendern gibt es solche Vorbehalte allerdings nicht. Beim SWR wird laut Fernsehkultur-Chefin Martina Zöllner bereits konkret über entsprechende Formate nachgedacht. Sie räumt zwar ein, dass dem „Multi Rig“-Prinzip „etwas Voyeuristisches“ anhafte, glaubt aber auch, „dass in dem Maße, wie wir im Fernsehen das Gestalterische auf die Spitze treiben, bei den Zuschauern das Bedürfnis nach dem unmittelbar Authentischen, nach dem direkten, unmanipulierten Einblick wächst.“ Auch Alexander Hesse, bis vor kurzem Leiter der ZDF-Redaktion Geschichte und Gesellschaft („37 Grad“, „Terra X“), weiß das „Multi Rig“-Prinzip zu schätzen. Das ZDF hat vor fünf Jahren mit „Die Babystation“ (Produktion: Spiegel TV) zwei Staffeln lang ein ganz ähnliches Format gezeigt wie „One Born Every Minute“. Die neue Produktionsform mit ihren installierten Kameras habe ein Problem gelöst, das bei Produktionen dieser Art regelmäßig auftauche: „Das Team steht ständig im Weg.“

Noch einen Schritt weiter. Bei den „Multi Rig“-Dokumentationen aber gibt es aus Sicht der beobachteten Personen gar kein Team. Kein Wunder, dass die Macher vom „echtesten Fernsehen“ schwärmen. Andere haben das allerdings auch bereits behauptet. „Den Trend, die Kamera in dokumentarischen Formaten verstecken zu wollen, gibt es schon länger“, erläutert der Marburger Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger und erinnert an das Schlagwort „fly on the wall“, mit dem sich die Macher der ersten Doku-Soaps geschmückt hätten: „weil sie angeblich wie eine Fliege an der Wand unmittelbaren Zugriff auf die Wirklichkeit hatten. Die neuen ‚Multi Rig’-Formate gehen noch einen Schritt weiter und geben vor, noch wahrhaftiger zu sein als klassische Dokumentationen. Der Reiz solcher Formate besteht darin, scheinbar näher an der Realität zu sein.“


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