„Wiener Zeitung“ am Ende?

Abwanderung ins Digitale und in eine monatliche Publikation

Nach 320 Jahren soll Schluss sein. Die „Wiener Zeitung“, älteste noch existierende Tageszeitung der Welt, soll im kommenden Jahr keine Tageszeitung mehr sein. Irgendwie soll es digital weitergehen. Genaue Inhalte wurden noch nicht definiert. Fest steht nur: Österreich verliert damit eine seiner ohnehin sehr wenigen qualitätsjournalistisch hochwertigen Blätter. Das Ende ist parlamentarisch zwar schon beschlossen, aber es gibt einen letzten Hoffnungsschimmer.

Medienministerin Susanne Raab von der konservativen Regierungspartei ÖVP gab im Oktober bekannt, dass die „Wiener Zeitung“, die sich vollständig im Besitz der Republik Österreich befindet, künftig zu einer Online-Plattform degradiert wird. Darüber hinaus soll es eine Print-Publikation zehnmal pro Jahr geben. Zudem verspricht die Regierung eine „Weiterentwicklung“ der „Wiener Zeitung“, hin zu einem „Media Hub Austria“, einer Art Ausbildungsstätte für Journalistinnen und Journalisten, auch für andere Medienhäuser.

Was zunächst gut klingt, findet das Redaktionsteam der „Wiener Zeitung“ wenig überzeugend, zumal nicht einmal klar scheint, ob es sich bei der Art der Publikationen künftig überhaupt um journalistische Formate handelt. Die Redaktion befürchtet zudem einen massiven Personalabbau. Die Geschäftsführung dagegen verweist darauf, dass die Abkehr von der gedruckten Tageszeitung keinen Einfluss auf den Personalbestand habe. Der Chefredakteur widerspricht. Er befürchtet einen ordentlichen Schrumpfungsprozess. Auch seien viele Kolleg*innen 50+ und auf dem Markt schwer vermittelbar, andere würden freiwillig gehen, um sich neuen journalistischen Tätigkeiten zu widmen.

Hintergründiger Journalismus

Die österreichweit erscheinende „Wiener Zeitung“ ist ein vergleichsweise kleines Blatt, zählt Wochentags 14.258, am Wochenende 38.840 Exemplare. Die Leser*innen schätzen den hintergründigen Journalismus und die Aufbereitung von Themen, für die in anderen Zeitungen oft kein Platz bleibt. „Wir sind ein kleines Blatt, ein Mosaikstein, der aber maßgeblicher Akteur einer erneuerten Medienlandschaft sein könnte“, sagt Chefredakteur der „Wiener Zeitung“, Walter Hämmerle. „Diese Möglichkeit wird uns aber genommen, indem man die WZ ins Internet abschiebt und keine echten Zukunftsperspektiven bereithält.“

Seine Kritik an der Führung des eignen Hauses fällt hart aus: „Als Eigentum der Republik Österreich hat die „Wiener Zeitung“ leider kein Verlagsmanagement auf der Höhe der Zeit, so Hämmerle gegenüber M. So seien viele notwendige Entscheidungen über Jahre versäumt worden. „Das sogenannte Amtsblatt, also die öffentlichen Verlautbarungen, hätte bereits vor 10 Jahren rein digital erscheinen sollen. Wir sind eine der wenigen Qualitätszeitungen des Landes und genießen hohe Wertschätzung, doch unser Eigentümer ist an einem Erfolg unseres Produktes überhaupt nicht interessiert, es fehlt an seinem Engagement“, sagt Hämmerle enttäuscht.

Die aktuelle ÖVP-Grüne Bundesregierung setzt damit eine Beschlussvorlage der Vorgängerregierung um, die noch unter Beteiligung der rechtsgerichteten FPÖ unter dem inzwischen vor Gericht stehenden Vizekanzler Hans Christian („Ibiza“) Strache zustande kam. Dass das Ende der „Wiener Zeitung“ nun ausgerechnet unter Mitwirkung der Grünen umgesetzt wird, überrascht in Österreich nicht. „Der medienpolitische Horizont der österreichischen Grünen reicht über den ORF nicht hinaus“, schätzt Hämmerle ein.

Presseförderung vor allem für Boulevard

Der österreichische Medienmarkt zeichnet sich durch viel Boulevard aus. Das Problem ist struktureller Natur und allen bekannt. Es heißt Österreichische Presseförderung und sucht in der westlichen Welt ihresgleichen. Österreichs Zeitungen und Magazine erhalten jährlich staatliche finanzielle Unterstützung in Millionenhöhe. Die Presseförderung soll, so die Theorie, mediale Vielfalt für das demokratische System garantieren, in der Praxis befördert sie aber das Gegenteil. Denn Qualität oder Minderheitenschutz spielen dabei keine Rolle. Jene bekommen das Meiste aus dem Topf, die die höchste Auflage erzielen. Die Folge: Der Staat züchtet Boulevardmedien groß und subventioniert diese. Alle drei großen österreichischen Boulevardzeitungen, die nicht selten durch Kampagnen- und Gefälligkeitsjournalismus auffallen, ergattern mit Abstand den meisten Batzen Geld: „Kronen Zeitung“, „Österreich/Oe24“ und „Heute“. So kassierte die „Krone“ 2020 um die 14,8 Mio. Euro Regierungsmittel ab, waren es bei der Qualitätszeitung „Der Standard“ nur noch 3,9 Mio. Euro, die „Wiener Zeitung“ kam auf 0,02 Mio. Euro.

Dass vor dem Hintergrund der massiven Fülle an Mitteln und schwer zu rechtfertigender Verteilung keine Grundlage einer Rettung der ältesten Tageszeitung des Landes möglich war, macht nicht nur viele in der Redaktion fassungslos. „Grundlegende Änderungen am System der Presseförderung wären dringend notwendig, doch dafür hat die Regierung, getrieben von globalen Katastrophen, aktuell keinen Kopf mehr frei: Pandemie, Kriege, Energiekriese, Inflation. Man befindet sich im permanenten Krisenmanagement sowie eigenem politischen Überlebenskampf“, so Hämmerle.

Obwohl das Ende der täglichen „Wiener Zeitung“ schon feststeht, gibt es einen Hoffnungsschimmer. Je näher der Tag des vermeintlichen Endes rückt, umso mehr steigt die Zahl der Unterstützer*innen und Interessenten. Es wächst die Front der gesellschaftlichen Akteure des Landes, die eine Umkehr der Entscheidung verlangen, darunter Gewerkschaften, Journalistenverbände, Universitäten, Wissenschaftlerinnen, Schauspieler, Politikerinnen: Unter #unverzichtbarseit1703 fordern sie den Erhalt der Tageszeitung. Im November appellierten zudem in seltener Eintracht alle Oberhäupter der österreichischen Religionsgemeinschaften, von der Katholischen Kirche über islamische Verbände bis hin zu den Buddhisten, an die Regierung, das Ende des Blattes als Tageszeitung zu stoppen. Auch der Mediensprecher der rechten FPÖ im Parlament, Christian Hafenecker, bedauerte die Einstellung der Zeitung als „großen Verlust nicht nur eines bedeutenden Mediums, sondern eines österreichischen Kulturguts von Weltrang“.

Der Tenor aller Einwände: Eine reine digitale „Wiener Zeitung“, ohne den derzeitigen journalistischen Auftrag, mache keinen Sinn. Denn auch das gehört in Österreich zum Gelernten, dass digitaler Erfolg weiter die Sichtbarkeit in der analogen Welt braucht. „In der Trafik (Österreichisch für „Zeitungskiosk“; Red.) oder im Kaffeehaus: die Haptik des Printproduktes ist Voraussetzung, um in einem Print-Land wie Österreich überhaupt wahrgenommen zu werden. Das gilt für Anzeigekunden genauso wie für Leser“, so Hämmerle.

Das sehen offenbar auch potentielle Interessenten an einer Übernahme der „Wiener Zeitung“ als Tageszeitung so. Aktuell führe man Gespräche, so Hämmerle. Konkrete Namen will der Chefredakteur aufgrund von Geheimhaltungsvereinbarungen nicht nennen, nur soviel: „Der Markenname genießt Vertrauen und die Wiener Zeitung würde, gerade in Kombination mit dem Zusatz ‚älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt‘ im gesamten deutschen Sprachraum funktionieren.“ Der Wink mit dem Zaunpfahl richtet sich auf die „Neue Züricher Zeitung (NZZ)“, die als Qualitätszeitung den heimischen schweizerischen Markt längst verlassen hat und ins gesamte deutschsprachige Europa expandiert ist, und zwar äußerst erfolgreich. Ein neues, großes, internationales Blatt nun also aus Wien? Die Chancen seien nicht riesig, aber sie bestünden und aufgeben wolle man nicht.


Aktualisierung vom Juli 2023

Redaktionsschluss nach 116.840 Tagen

Die älteste Tageszeitung der Welt, die „Wiener Zeitung“, gibt es seit Monatsbeginn nur noch online.

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