Moskauer Informationszentrum der Menschenrechtsbewegung kämpft für Transparenz
Die Situation ist kompliziert: Einerseits ist Russland heute Partner des Westens und auf dem Papier auch eine Demokratie. Andererseits wird über Wahlfälschungen und die Missachtung von Menschen- und Bürgerrechten berichtet. Das betrifft die Presse- und Informationsfreiheit ebenso wie die Rechte der Soldaten in der Armee, die Rechte der in russischen Gefängnissen Inhaftierten, die Rechte der Millionen Flüchtlinge und Migranten oder die Rechte von Frauen und Kindern. Wenn nicht gerade ein Fernsehsender geschlossen wird, hört man von all dem im Westen wenig.
In Russland selbst sorgt sich niemand intensiver um die Verbreitung von Informationen zu diesen Themen als das Moskauer Informationszentrum der Menschenrechtsbewegung. Mit dessen Direktorin Elena Grischina sprach Uli Hufen.
In letzter Zeit gibt es viele widersprüchliche Meldungen aus Russland: Auf der einen Seite hat Putin vor kurzem zum ersten Mal ein Bürgerforum im Kreml einberufen. Auch Sie waren dort. Auf der anderen Seite erleben wir die Rückkehr der Spionageprozesse, der Krieg in Tschetschenien dauert an und die Pressefreiheit steht unter Druck.
Grischina: Dafür, dass Putin das Bürgerforum einberufen hat, dafür muss man Ihrem Bundespräsidenten danken. Als Johannes Rau im Frühling 2001 in St. Petersburg war, wollte er dort die Zivilgesellschaft sehen. Danach, im Juni, hat man zum ersten Mal Vertreter verschiedener Organisationen versammelt: Musiker, Bienenzüchter, Angler – alles mögliche. Bloß Menschenrechtler waren nicht dabei. Das war natürlich unangenehm. Auf der einen Seite sagt man uns die ganze Zeit, dass Putin gut ist, ein moderner Demokrat und Reformer. Auf der anderen Seite sind da die Spionageprozesse gegen Grigorij Pasko und andere. Seit Putin Präsident ist, wurde in den Regionen oft die Registrierung von Organisationen abgelehnt, weil ihre Namen das Wort Menschenrechte enthielten. Seltsame Entwicklungen. Die Zahl unserer Pressemitteilungen steigt, sämtliche Menschenrechte werden verletzt – also ist die Situation im Lande schlechter geworden. Andererseits schreiben die Zeitungen über diese Themen, manchen Menschen kann geholfen werden – also ist die Situation in dieser Beziehung auch besser geworden.
Und nun hat auch noch der ehemalige Jelzin-Vertraute und heute exilierte Unternehmer Boris Beresowskij begonnen, Menschenrechtsgruppen massiv zu unterstützen. Ein Mann, der vielen noch vor kurzem als Inbegriff von Kreml-Intrigen und krimineller Bereicherung galt.
Ja, tatsächlich, er finanziert derzeit über 160 Menschenrechtsorganisationen durch seine Stiftung für Bürgerrechte. Ich kenne diese Leute, sehr integre Leute. Es heißt, Beresowskij mische sich in ihre Arbeit nicht ein. Er hat ihnen einfach das Geld gegeben. Aber wie lange das andauern wird, ist unbekannt. In zwei Jahren sind jedenfalls Wahlen und eines ist klar: Die Menschenrechtsorganisationen können tun was sie wollen, so lange Fernsehen und Radio nicht darüber berichten, bleibt in der Gesellschaft alles beim alten.
Dafür, dass die Massenmedien berichten, setzt sich niemand intensiver ein, als Sie. Wann wurde das Moskauer Informationszentrum gegründet?
Das Informationszentrum ist ein autonomes, nicht kommerzielles Projekt der Moskauer Helsinki Gruppe. Die Helsinki-Gruppe ist die älteste russische Menschenrechtsgruppe, im Mai 2001 feierte sie ihren 25. Geburtstag. Ich selbst arbeite seit Juli 1996 hier, zunächst als Herausgeber der „Chronik der laufenden Ereignisse“. Im Frühjahr 1997 wurde dann das Informationszentrum gegründet und ich wurde zur Direktorin berufen.
Gab es einen konkreten Anlass für die Gründung?
In Omsk war der Bürgerrechtler Juri Schadrin verhaftet worden und hatte einen Hungerstreik begonnen. Wir begannen Unterstützungsaktionen und schließlich wurde er entlassen. Alle freuten sich, und wir veranstalteten eine Pressekonferenz. Doch zu dieser Pressekonferenz kam kein einziger Journalist! Daraufhin wurde ein runder Tisch mit Journalisten einberufen. Sie beklagten sich darüber, dass sie keine regelmäßigen Informationen bekämen, und dass die wenigen Informationen, die überhaupt ankämen, unprofessionell aufbereitet seien. Überhaupt würden die Bürgerrechtler nur dann mit Journalisten zusammenarbeiten, wenn sie diese für eine bestimmte Aktion benötigten. Die Konsequenz für uns war, ein professionelles Informationszentrum für Bürgerrechte aufzubauen.
Wie kommen Sie an Informationen, wie ist ihre Verbreitung organisiert?
Leider verfügen wir nicht über die Mittel, um ein eigenes Korrespondentennetz aufzubauen. Daher sind wir auf lokale Menschenrechtsgruppen angewiesen und auf Informationen von den Bürgern. Unsere Pressemitteilungen versenden wir hauptsächlich per Fax. Solange unser Land nicht besser mit Computern ausgestattet ist, solange nicht jeder einen Internetzugang hat, solange bleiben wir dabei. Unsere Adressaten sitzen in Fernsehstationen, beim Radio, in Nachrichtenagenturen, Zeitungen und Zeitschriften sowie in den Pressediensten der Botschaften.
Neben der Chronik und den laufenden Pressemitteilungen haben Sie vor kurzem ein drittes Projekt begonnen: das Monitoring von Publikationen in den Massenmedien. Warum?
Wir wollten wissen, was mit unseren Texten passiert. Werden sie weggeschmissen? Abgeheftet? Früher riefen wir die Journalisten an und fragten. Naturgemäß konnten wir nicht ständig den gesamten Kundenstamm abtelefonieren. Darum haben wir alle wichtigen Zeitungen abonniert und begonnen, sie zu analysieren, zunächst ohne Finanzierung. Also habe ich einen Teil meines Gehalts geopfert, um einen Mitarbeiter für diese Aufgabe anzustellen. Später haben wir alle eine Weile ganz ohne Gehalt gearbeitet. Zunächst haben wir nackte Listen von Artikeln versandt, erst ohne, dann mit Annotationen. Nach kurzer Zeit begannen die Leute in Moskau und in den Regionen uns anzurufen: „Schicken sie uns bitte diesen und jenen Text“. Die Menschenrechtsgruppen im Lande haben keineswegs alle Zugang zu den Zeitungen, aus denen die Artikel stammen. Entweder gibt es die Zeitungen überhaupt nur in Moskau oder die Leute haben keinen Internetzugang oder beides. Darum haben wir die Artikel gefaxt. Aber es war schnell klar, dass es so nicht geht. Wir brauchten einen richtigen elektronischen Digest.
Wie erfolgreich ist Ihre Arbeit? Lässt sich das überhaupt messen?
Das ist schwer einzuschätzen – man müsste Leute einstellen, die das untersuchen. Wir wissen natürlich, wie viele Pressemitteilungen wir rausschicken, und wir haben auch eine Vorstellung davon, zu wie vielen Artikeln die einzelnen Mitteilungen letztlich führen. Aber was diese Artikel bewirken? Als die Helsinkigruppe 1996 ihren 20. Geburtstag feierte, schickte Jelzin einen Glückwunsch und ordnete an, unsere Arbeit zu unterstützen. Ein Ergebnis war, dass wir dieses Gebäude zugewiesen bekamen. In anderen Städten geschah ähnliches. Außerdem wurde einen Menschenrechtskommission beim Präsidenten gebildet. Ob diese Leute gut oder schlecht arbeiten, ist erst einmal nicht so wichtig – Hauptsache sie sind überhaupt da, in Moskau und in den Regionen. Ob eine Sache vom Standpunkt der Menschen- und Bürgerrechte gut oder schlecht ist, lässt sich oft nicht leicht beurteilen.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Ja, ich habe ein Interview mit einem lokalen Bevollmächtigten für Menschenrechte gemacht, in Saratow. Ich nannte das Interview: „Der Bevollmächtigte, der ein Gefängnis baute“. Und es war wirklich seine Initiative – er setzte den Bau eines Frauen-Gefängnisses durch. Das ist sicher eine etwas seltsame Aktion für einen Menschenrechtsbeauftragten, aber die Bedingungen in diesem Gefängnis waren bedeutend besser als andernorts. Also, wenn Artikel erscheinen, kann das dem Betroffenen nützen, es kann ihm aber auch schaden. Das ist verschieden. Aber wenn wir jedem Monat einem Menschen konkret helfen können: das ist doch gut, oder?
Im Westen wurde in letzter Zeit der Eindruck erweckt, als seien Fernsehsender wie NTV und TV6 die Bollwerke der Demokratie in Russland. Wie erleben Sie das?
Nun, wir haben NTV natürlich im Frühling verteidigt. Aber im Grunde haben wir einen Menschen (den Chefredakteur Jewgenij Kisseljow, der erst bei NTV, dann bei TV6 arbeitete – Anm. d. A.) verteidigt, der erst dem einen reichen Herrn gedient hat und dann dem nächsten. Und ist nun Gussinskij, ehemaliger Besitzer von NTV, besser als Beresowskij, ehemaliger Besitzer von TV6? Ich spreche noch nicht einmal von moralischen Kriterien, sondern zum Beispiel über ihr Verhältnis zu uns. Wir haben lange für NTV gekämpft, aber der Sender hat sich in den letzten anderthalb Jahren nicht für uns interessiert. Kisseljow hat nicht einmal mit uns gesprochen. Dasselbe gilt für Echo Moskau (der ‚kritische‘ Radiosender in Moskau – Anm. d. A.): Die haben zwar in den letzten Jahren immer mal wieder Beiträge gemacht zu Themen, die wir recherchiert und ihnen angetragen haben. Aber war in den letzten Jahren jemals ein Korrespondent des Senders auf unseren Pressekonferenzen? Nie. Was ist das? Verraten sie ihre eigenen Prinzipien, oder befielt man ihnen, uns zu ignorieren? Eins darf man nicht vergessen: Der Präsident ist das eine, aber das Entscheidende ist das Geld. Die Frage der Käuflichkeit bei den Massenmedien stellt sich heute viel dringender als früher.