Marlies Hesse ist gestorben

Marlies Hesse. Foto: Alexandra Roth

Marlies Hesse. Foto: Alexandra Roth

 

Ein persönlicher Nachruf der dju-Bundesvorsitzenden Tina Groll

 Die Journalistin und Frauenrechtlerin Marlies Hesse ist tot. “Werde, die Du bist” – dieser Satz bedeutete der Journalistin viel. Immer wieder nutzte die Kölnerin dieses Zitat, vorgetragen mit bewusster Betonung, um Frauen zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen und ihren Visionen und Zielen zu folgen. Empowerment: Marlies Hesse war unermüdlich darin.

Ihr unerschütterlicher Optimus, ihr wacher, reger, niemals müder Geist, ihre Lebensfreude und unendliche Neugierde und ihre klare Haltung, dass ihr als Frau ganz selbstverständlich die Hälfte des Himmels, dieser Welt und als Journalistin auch mindestens die Hälfte der Medienbranche gehören, brachten sie selbst sehr weit. Und das zu einer Zeit, als Frauen noch alles andere als selbstverständlich in den Medien waren.

“Werde, die du bist”, sagte sie immer. Sie zitierte die Journalistin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm mit Bedacht, mit Wertschätzung, mit großer Freude. Oft lachte sie dann. “Hach, wie das klingt – werde, die Du bist”, fügte sie oft hinzu und ihre Augen strahlten mit ihrem verschmitzten und so vereinnahmenden Lächeln um die Wette.

Marlies Hesse war Journalistin, Publizistin und Frauenrechtlerin. Sie war die erste Frau in der Intendanz des Deutschlandfunks und sie war vor allem eins: Pionierin und Wegbereiterin für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Medienbranche und besonders im Journalismus.

Geboren am 3. Oktober 1935 in der idyllischen Lüneburger Heide in Peine, wuchs sie ohne Vater auf – er konnte noch ihre Einschulung miterleben, danach brachten die Mutter und Marlies ihn zum Zug, er musste als Soldat an die Front und kehrte aus Stalingrad nicht zurück. Ihre Mutter prägte Marlies. Sie ermutigte die Tochter, ihren eigenen Weg zu gehen – und das tat die Tochter dann auch. Wissbegierig, neugierig – das war sie schon als kleines Kind. Sie las gern und viel.

Was lag da näher, als eine Ausbildung zur Buchhändlerin? Die beendete sie im Jahr 1957 mit Auszeichnung. Gleich danach setzte Marlies ihre akademische Laufbahn fort und erlangte 1961 das Diplom zur Bibliothekarin. Ihr Weg führte sie zur Leitung der Bibliothek des Hans-Bredow-Instituts an der Universität Hamburg, wo sie ihre Leidenschaft für Wissen und Bildung entfalten konnte.

Nur wenig später, im Alter von knapp 30 Jahren im Jahr 1965 folgte sie dem Ruf von Kurt Wagenführ, der damalige Pressechef des Deutschlandfunks (DLF). Sie wurde seine Stellvertreterin. Ein Karriereschritt, der sie in eine von Männern dominierte Welt brachte. Als junge Frau allein unter vielen Männern – Marlies nahm diese Herausforderung gerne an.  Als Wagenführ 1968 in Pension ging, regte er an, dass Marlies seinen Posten übernehmen sollte. Doch das traute sich die damals 33-Jährige nicht zu.

Sie leitete die Pressestelle anderthalb Jahre kommissarisch, bis ein Mann den Posten übernahm. Dass sie dieses Angebot ausschlug, bereute sie später. Denn, wie sie im Alter rückblickend gern erzählte, tatsächlich wäre sie doch die bessere Wahl gewesen. In einem Alter, in dem andere Frauen heirateten und Mutter wurden, war Marlies nun aber angeregt, eine Führungsposition anzustreben – und das auch klar zu kommunizieren. 1974 wurde sie persönliche Referentin des damaligen Intendanten Reinhard Appell und später bei dessen Nachfolger Richard Becker. 1979 übernahm sie das Referat Aus- und Fortbildung und entwickelte führend das journalistische Ausbildungskonzept für die ARD und das ZDF. Und immer wieder ärgerte sich Marlies darüber, dass hervorragend ausgebildete und qualifizierte Journalistinnen irgendwann nach Volontariat und einigen Jahren Redaktionsarbeit wieder verschwanden oder ihre berufliche Entwicklung stagnierte. Die sogenannte gläserne Decke, ein struktureller Sexismus verhinderte den Aufstieg der Frauen.

Marlies betonte zeitlebens, dass sie selbst keinen Sexismus und auch keine geschlechtsspezifische Benachteiligung erlebt habe. Die Männer, mit denen sie arbeitete, hätten sie stets aufgrund ihrer Kompetenz gefördert. Wer Marlies persönlich kannte, ahnt, woran das lag. Sie war immer hellwach, ehrgeizig, zielstrebig, aber auch optimistisch. Sie lebte ein unabhängiges Leben voller Lebensfreude und Energie und sie sah schwierige Situationen stets als Herausforderung denn als echtes Problem an. Marlies sagte auch, es habe lange gedauert, bis sie begriffen habe, dass es nicht allen Frauen so ging, dass es für viele nicht ausreichend war, nur hochkompetent zu sein, dass es strukturelle Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund von Geschlecht gibt. Der Kampf gegen diese Ungleichheit war künftig zentral für sie.

Dass Frauen die gleichen Chancen haben sollten wie Männer in der Bewusstseinsindustrie, wie sie mitunter die Medien auch nannte, trieb sie an. Sie wurde zu einer Wegbereiterin für die Gleichstellung der Geschlechter im Journalismus. Unter anderem baute sie die Zentralstelle Fortbildung Programm (ZFP) als Gemeinschaftseinrichtung von ARD und ZDF mit auf, wirkte aber auch im Hintergrund und zog auch Strippen, wenn es um die Karrieren von Männern in journalistischen Führungspositionen insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ging. Marlies wusste: Nur wenn die richtigen Entscheider in den Machtpositionen waren, würde sich auch die Gleichstellung weiter verbessern.

Marlies blieb beim Deutschlandfunk bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1994. Danach begann im wahrsten Sinne des Wortes ein Un-Ruhestand von 30 Jahren, denn sie wirkte als freie Journalistin und vor allem in ihrer Rolle als langjährige Geschäftsführerin des Journalistinnenbunds (JB) bis zum Jahr 2010. Hier war sie die Seele des Vereins, Mentorin, Wegbereiterin, Türöffnerin, Ratgeberin, aber auch Antreiberin, Motivatorin und vor allem: Freundin. Und sie stiftete den Marlies-Hesse-Nachwuchspreis. Denn auch das war ihr wichtig: Sichtbar zu sein. Dass so viele kluge Frauen einfach verschwinden, weil nicht an sie erinnert wird, ärgerte Marlies Hesse. Darum engagierte sie sich auch gegen das Vergessen und machte zum Beispiel Vorschläge für Straßennamen. Einige Straßen sind mittlerweile dank ihres Wirkens nach Frauen wie etwa Hedwig Dohm benannt.

Die Tür ihres Kölner Hauses stand für alle offen, die sich ernsthaft für Fragen der Gleichberechtigung in den Medien interessierten. Wer wollte, durfte sie besuchen – und wurde in den zweiten Stock ihrer Doppelhaushälfte geführt, vorbei an vielen wertvollen modernen Kunstwerken, teilweise Werke ihres früheren Lebenspartners. Oben angekommen im verwinkelten Büro mit Bibliothek saß man in einer Art Frauenarchiv. Hier recherchierte, schrieb und arbeitete Marlies, hier gab sie Interviews, hier fand sie auf jede Frage in irgendeinem Schriftstück eine präzise Antwort. Meistens hatte sie diese Antworten aber sowieso im Kopf. Dazu gab es Kaffee und Kuchen, Sonnenstrahlen fielen herein und es wurde diskutiert, gelacht und interessiert zugehört.

Marlies Hesse war warmherzig und zugewandt. Sie schien selten schlechte Laune zu haben. Und meistens kam noch ihre gute Freundin, die promovierte Ökonomin Elisabeth Stiefel dazu, die das Gespräch um wertvolle und kluge Perspektiven bereicherte. Marlies und Elisabeth hatten sich auf einer Kreuzfahrt kennengelernt und angefreundet. Die beiden Frauen wussten: Nur mit Solidarität und vereinten Kräften kommen Frauen weiter. Und was politisch gilt, das funktionierte auch privat. Die guten Freundinnen zogen im Alter zusammen. Marlies erzählte oft mit einem Lachen, dass ihre Entscheidung für ein unabhängiges Leben als bewusst kinderlose Frau eben nicht bedeuten musste, im Alter allein zu sein – und sie liebte ihre “Beutefamilie”, die sie über Elisabeths Kinder und Enkel dazu bekommen hatte.

Über ihr Wirken im Journalistinnenbund hatte sie ohnehin jede Menge Familie – so viele Kolleginnen schätzen Marlies. Legendär war etwa das jährliche Spargelessen bei ihr, das immer mit der Jurysitzung zur Auswahl der Trägerinnen des Nachwuchspreises des Journalistinnenbunds verbunden war.

Für ihr unermüdliches Engagement wurde sie vom Journalistinnenbund mit der Hedwig-Dohm-Urkunde ausgezeichnet und sie erhielt auch den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für ihren Beitrag zur Gleichstellung von Mann und Frau.

Marlies Hesse hat viele Medienfrauen, viele Journalistinnen, Publizistinnen und Multiplikatorinnen inspiriert. Auch im hohen Alter, weit über 80 Jahre, war sie immer noch neugierig, interessiert, fand die Welt so furchtbar anregend. Man hatte immer den Eindruck, eine junge Frau maximal in der Lebensmitte sitze einem gegenüber. Aber Marlies war auch eine Konstante.

Inspirierend war ihr eigener Umgang mit dem Alter, mit Gebrechlichkeit, mit Schicksalsschlägen in dieser letzten Lebensphase. Nie verlor Marlies ihren Optimismus und ihre Lebensfreude und so war auch ihr letzter Weihnachtsbrief – eine über viele Jahre gepflegte Tradition, den Weggefährtinnen, Kolleginnen, Freundinnen, Bekannte erhielten immer pünktlich kurz vor Weihnachten Post von ihr, eine Zusammenfassung ihres Jahres, angereichert mit vielen Fragestellungen, Erkenntnissen und Impulsen zum Weiterdenken – voller hoffnungsfroher Ausblicke auf das Jahr 2024.

Ich habe Marlies Hesse 2007 für meine Diplomarbeit über Karrierechancen- und strategien von Frauen im Journalismus kennengelernt und durfte sie damals interviewen. Es folgte ein intensiver Kontakt von mehreren Jahren. Marlies war Mentorin, manchmal sogar so etwas wie eine journalistische Mutter. Einmal sagte sie das auch. Sie verlor die vielen Frauen, die sie förderte, nie aus den Augen. Auch wenn wir in den letzten Jahren viel zu wenig Austausch hatten, so war sie immer da – und meldete sich immer mal wieder mit einem digitalen Lebenszeichen.

Das Letzte war ihr Weihnachtsbrief. Ich habe es nicht geschafft, auf diesen Weihnachtsbrief zu antworten. Und auch ein lange vereinbartes Telefonat kam in den Verpflichtungen als berufstätige Mutter, Vollblutjournalistin und Gewerkschafterin nicht zustande. Über die Unvereinbarkeit der Sphären, die bis heute die Aufstiegschancen von Frauen im Journalismus beeinträchtigen – hier die Politik- und Medienwelt, da die unbezahlte Sorge- und Familienarbeit – haben wir oft gesprochen. Wir hätten noch viel zu bereden gehabt. Aber eigentlich habe ich, haben Generationen von Journalistinnen, ihre klugen Analysen und Ratschläge im Herzen. Im Ohr habe ich noch ihre Stimme: “Werde, die du bist”. Wie das klingt! So gut, dass ich diesen Satz meiner Tochter zur Geburt als Begleitspruch mitgegeben habe – und als Bundesvorsitzende der dju dies allen jungen Kolleginnen zurufe. Marlies Hesse ist am 19. Februar 2024 in Köln gestorben. Es war mir eine Ehre, von Dir lernen zu dürfen.

Deine Tina

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