„Sozialkrimi“ mit Zustellern in der Hauptrolle
Wenn neues Personal gesucht wird, gelten sie schon mal als „Helden der Nacht“, in der Regel dürfen sie in ironischer Selbstdarstellung „Schuften wie ein Pferd“, werden jedoch „bezahlt wie ein Pony“. Die Zusteller_innen als Letzte und Schwächste in der Zeitungsproduktionskette sind in den vergangenen Jahren mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Für ihre Arbeitgeber bleiben sie im schwindsüchtigen Printmarkt vor allem eines: Sparpotenzial.
Als „Frechheit“ angesichts des harten Jobs sahen es Betroffene und Gewerkschaften, ausgerechnet die Zusteller_innen vom gesetzlichen Mindestlohn auszunehmen. ver.di-Aktive, etwa bei Funke Logistik, rechneten seinerzeit vor, dass von 360 Euro, die ein Zeitungsabonnement kostete, „gerade mal 20 bei den Zustellern hängen“ bleiben. Redakteur_innen könnten sich wund schreiben, Drucker rotieren und Verlage ausliefern: „Wenn der Zusteller nicht läuft, ist alles umsonst.“ Solche Argumente verhallten.
Noch kurz vor Verabschiedung des Mindestlohn-Gesetzes im Sommer 2014 gelang es den Zeitungsverlegern – dank intensiver Lobbyarbeit, sogar die Pressefreiheit ins Feld führend – eine Ausnahme durchzusetzen, nach der die Zeitungszustellung bis Ende 2017 geringer als mit dem geltenden Mindestlohn vergütet werden darf. Dieser abgesenkte Mindestlohn (2015 lag er bei 6,38, ab 2016 bei 7,23, jetzt beträgt er 8,50 Euro) ist allerdings nur anwendbar, wenn ausschließlich periodisch erscheinende Zeitungen, Zeitschriften und redaktionelle Anzeigenblätter ausgetragen werden. Sobald „Hybrid“zusteller auch anderes erledigen – Prospekte einlegen, Briefe austragen – oder reine Werbung verteilen, haben sie Anspruch auf den „vollen“ Mindestlohn. Da war Streit vorprogrammiert. Es gab und gibt ihn vielerorts, beginnend bei der Umrechnung von Stücklohn in Zeitlohn. Der volle Mindestlohn ließ sich mitunter – wie im Fall eines Zustellers aus Gera, der mit gewerkschaftlichem Rechtsschutz klagte – nur gerichtlich erstreiten, Nachzahlungen inbegriffen. Inzwischen sind die Schrauben, mit denen die Firmen den Verdienst ihrer Zusteller_innen – oft Geringverdiener, auch Rentner oder sogenannte Aufstocker – zu drücken versuchen, noch vielfältiger geworden. „Wegeoptimierung“ per GPS, Geschacher um Rüstzeiten, Feiertags- oder Nachtzuschläge gehören dazu, die für nächtliche Zeitungszustellung bis zu 30 Prozent betragen müssten. Vielerorts werden Sollvorgaben mit einem Geo-Informationssystem am grünen Tisch errechnet. „Wir hören von Betriebsräten immer wieder, dass die Zeit, die der Arbeitgeber vorgibt, nicht richtig ist“, sagt Rachel Marquardt von ver.di. So werde versucht, den Mindestlohn zu drücken.
Da der ver.di-Vorschlag, einen bundesweiten Flächentarifvertrag in der Zeitungszustellung auszuhandeln, 2014 am Widerstand des Verlegerverbands scheiterte und es kaum Haustarifverträge in Zustellfirmen gibt, muss um Geld individuell gestritten werden. Betriebsräte könnten helfen. Doch auch Interessenvertretungen sind rar in der Zustellung, zu etwa 30 hält ver.di Kontakt. All das hat auch mit der Spezifik der Tätigkeit zu tun.
Mancher erklimmt beim Treppensteigen zweimal im Jahr den Mount Everest, andere müssen weit fahren, um einer abnehmenden Zahl von Abonnent_innen auf dem Land rechtzeitig das Morgenblatt in den Kasten zu werfen. Aggressive Hunde, promillelastige Nachtschwärmer, Baustellen, Glatteis oder Dauerregen sind übliche Hindernisse. Zustellung ist Knochenarbeit für Einzelkämpfer – bei Tag mit Wochenblättern oder Prospekten, erst recht für die bis 6 Uhr früh zugesicherte Tageszeitung.
„Ich fange nachts um Eins an. Dann nehme ich am Abladepunkt die Zeitungen für meine regulären sieben Touren in Empfang. Gerade sind es noch mehr, weil ich weitere vier Touren vertrete. Ich fahre dann mit meinem Transporter erst nach Neuberesinchen. Die zwei Touren schaff ich ungefähr in einer Dreiviertelstunde. Ich habe Glück, die meisten Briefkästen sind draußen, ich brauche kaum Schlüssel, denn das hält auf. Danach geht’s in die Stadt Frankfurt Oder. Zwei Touren mache ich zu Fuß, mit den Zeitungen unter dem Arm, auch etwa in 45 Minuten. Dann habe ich noch drei Touren in Hansa-Nord, die dauern schon etwas länger. Wenn alles gut läuft, bin ich 4.30 Uhr wieder zu Hause.“ Das schilderte Sabine Nagel, die seit zehn Jahren für einen Pressezustellservice der MOZ-Gruppe in Frankfurt Oder bis zu 18.000 Zeitungen im Monat austrägt. Viel Schlaf bekomme sie nicht, brauche flinke Füße, Kraft für die kiloschweren Zeitungsrollen und dennoch einen Zweitjob. Seit vier Jahren ist die Zustellerin auch Betriebsrätin, notgedrungen mehr in der Freizeit.
In permanenter Nachtarbeit ohne genügend Ausgleich, womöglich sieben Tage die Woche, ungenügender Arbeitsorganisation, Überalterung von Beschäftigten und oft hohem Krankenstand sieht man beim einzigen Betriebsrat einer Berliner Zustellagentur die generellen Probleme. Auch in der eigentlichen „Machtlosigkeit“ der Geschäftsführung. In der Hauptstadt haben die drei großen Tageszeitungen schon vor Jahrzehnten den gemeinsamen Zustellbetrieb BZV gegründet, der aktuell in 12 formal selbständige Zustellagenturen untergliedert ist. Seit im April 2017 Fiege Logistik als vierter und Mehrheitsgesellschafter hinzukam und man in „Berlin Last Mile“ umfirmierte, gehe es noch klarer um Rendite, doch „die Aboeinnahmen sinken, decken die Kosten nicht“. Noch drohe keine globale Kappung. Mietkosten verursachende Depots, die auch Treffpunkt waren, werden aber schrittweise aufgegeben. Dem Betriebsrat geht es um bessere Arbeitsbedingungen: „Wir würden gern gesundheitszuträglichere Lösungen für die Dauernachtarbeit finden, doch da will unser Geschäftsführer nicht ran“, weiß der seit einem Jahr freigestellte Betriebsrat Frank Walter (Name von der Redaktion geändert). Immerhin gibt es seither eine Infotafel und ein Büro, sogar ein Mitteilungsblatt der Interessenvertretung. Auch Betriebsvereinbarungen zu Urlaubsgrundsätzen sowie zur Zeiterfassung wurden durchgesetzt. Über Pausenzeiten konnte man sich nicht einigen, eine Vereinbarung über Prämienzahlungen wird weiter verhandelt. Und: „Mit der Personaleinsatzplanung wäre noch ein richtig dickes Brett zu bohren“. Intelligentes Personalmanagement, so Walter, werde in der Zustellung immer notwendiger. Mehr Vorausschau, verlässliche Planung will der Betriebsrat akut erreichen, um vom dauernden Arbeiten auf Zuruf wegzukommen. Und: Es geht um besseren Arbeits- und Gesundheitsschutz. Dass die Beschäftigten in der Vorproduktion jetzt Sicherheitsschuhwerk und Arbeitshandschuhe beanspruchen können, dass es Erste-Hilfe-Kästen gibt und Vorschriften besser eingehalten werden, rechnet man sich als Erfolg an. „Regelmäßige arbeitsmedizinische Untersuchungen“ wären, so Walter, eine wirklich sinnvolle Maßnahme für die meist älteren Nachtarbeitenden, doch das ist bisher nur Wunschtraum.
Die in der Branche fast legendäre Interessenvertretung von NW Logistik in Bielefeld hat es vor zwei Jahren sogar bis zu Tarifverhandlungen geschafft. Doch wurden die vom Arbeitgeber nur zum Schein geführt. Faktisch geht es auch bei der seit 2016 im alleinigen Besitz der SPD stehenden Neuen Westfälischen um eine Verbilligung der Zeitungszustellung – mit härtesten Bandagen. Dennoch konnte der Betriebsrat gerichtlich im Februar 2015 durchsetzen, dass für das Austragen jedes Exemplars von Mein Samstag, einer redaktionell umverpackten, ehemals reinen Prospektsendung, 5,5 Cent gezahlt werden müssen. Der Arbeitgeber wollte nur den abgesenkten Mindestlohn zahlen. Das Zweieinhalbfache, ca. 16 Euro Stundenlohn, wurde durchgesetzt! Der NW-Zustellkoordination-Betriebsrat und ver.di-Aktive Dietmar Hölscher, der als Rentner immer noch austrägt, bedauert aber, dass Neue dieselbe Arbeit für 8,84 Euro plus 10 Prozent Nachtzuschlag tun müssen.
Bei NW Logistik, inzwischen durch vier neue Gesellschaften in der Verlagsgruppe aufgesplittet, hat der Arbeitgeber ein Modell auf die Spitze getrieben, das bereits bei der Süddeutschen in München und anderswo erprobt wurde: Die Gründung von Zustell-Billigtöchtern. Die einst 1.100 Zusteller in Bielefeld und Umgebung werden mit Versprechungen und „sanftem“ Druck, sowie einem Teil-, schließlich einem kompletten Betriebsübergang, aus der Muttergesellschaft getrieben. Formal ganz legal. Mit den deutlich höheren Stundenlöhnen der Altbeschäftigten, 25 Prozent Nachtzuschlag, sechs Wochen Urlaub und 40 Prozent Weihnachtsgeld soll Schluss sein, der kämpferische Betriebsrat gleich mit entsorgt werden.
Die Machenschaften in diesem „Sozialkrimi“ (Hölscher) haben die Beschäftigten mehrfach öffentlich gemacht. Auch gegenüber Kanzlerkandidat Martin Schulz auf einer SPD-Arbeitnehmerkonferenz in der Bielefelder Stadthalle. Eine Reaktion der Parteispitze auf ihren offenen Brief blieb aus. Von vielen Klagen, die der alte und ein inzwischen neu gewählter Betriebsrat mit ver.di-Mitgliedern anstrengten, „sind momentan noch eine Handvoll ruhend gestellt. Auch die Verfahren des Arbeitgebers“, so Hölscher. Was sich die NW-Verlagsgruppe den Streit mit ihren Zusteller_innen kosten lässt, zeigt, dass zu Terminen extra der als juristische „Dampframme“ bekannte, bundesweit für Zeitungsverlage agierende Anwalt Johannes Weberling aus Berlin anreist. Im August nun begannen Gespräche, ob der Konflikt außergerichtlich zu lösen ist. Betriebsratsposition: Es muss vernünftige Übergangsregelungen und Konditionen für Altbeschäftigte geben – egal ob sie als Zusteller_innen weiterarbeiten wollen oder ausscheiden.
ver.di bemüht sich um mehr Präsenz in der Zeitungszustellung, animiert zur Gründung weiterer Betriebsräte, weil auch die Interessen von einzeln Kämpfenden mit Betriebsvereinbarungen oder Haustarifverträgen besser durchzusetzen sind. Dann gelten auch Mitbestimmungsrechte über die Lohngestaltung sowie technische Systeme, etwa bei der Zeit- und Wegemessung.
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