„Eine Gemeinschaft Einsamer“ auf der Flucht in die Online-Welt
Es gab Standing Ovations, als Zygmunt Bauman seinen Vortrag bei der diesjährigen re:publica mit einem Appell für mehr Selbstreflexion beendete. Zuvor hatte der große Soziologe den Digital Natives erklärt, warum sie alle Spione sind und welche persönlichen Ängste dabei ausgenutzt werden.
Jedes Jahr neue Teilnehmerrekorde – das ist man von der re:publica gewohnt. Dieses Jahr sollen es rund 7.000 gewesen sein. Doch dass ein fast 90-jähriger dem netzaffinen Publikum ins Gewissen redet, hatte es noch nicht gegeben. Sie hätten vergessen, warum Privatsphäre wichtig sei, kritisiert Zygmunt Bauman. Das äußere sich darin, dass mehr und mehr Menschen ihr keine Bedeutung mehr zumessen würden und „die Sprache der Privatheit“ verlernt hätten. Einst hätten die Menschen mühsam das Recht errungen, allein und ungestört zu sein. Die Bedeutung dieses Rechts werde schon darin erkennbar, dass die UN-Menschenrechtscharta in Artikel 12 den Schutz der Privatsphäre als Menschenrecht verankert hat. Aber sie ende mit dem Besitz eines iPhones.
Für den emeritierten Theoretiker der Postmoderne liegt die Ursache in den durch die Individualisierung entstandenen Ängsten. Allen voran die Furcht vor Einsamkeit. In Ruhe gelassen zu werden, habe seinen positiven Wert verloren. Bauman spricht aus eigener Erfahrung: Einst vor den Nazis aus Polen geflohen, wurde er später polnischer Geheimdienstoffizier, wechselte dann in die Wissenschaft, bevor er wegen der Unruhen 1968 nach Israel emigrierte. Seit Anfang der 1970er Jahre lehrte er Soziologie in Großbritannien.
Der heutigen Gesellschaft attestiert Bauman: „Wir sind eine Gemeinschaft Einsamer.“ Mark Zuckerberg habe dieses Phänomen erkannt und versprochen: „In Facebook sind Sie nie alleine“. Soziale Netzwerke erscheinen als Heilsbringer. „24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche ist immer irgendjemand irgendwo bereit, Ihre Nachricht zu lesen“, zitiert Bauman Zuckerberg. Dadurch werde es ganz leicht, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Aber dabei verwechsele man Netzwerk und Gemeinschaft: Während die Gemeinschaft zusammen mit Anderen gebildet wird, setzt der Einzelne sein Netzwerk selbstständig zusammen, indem er Personen hinzufügt oder löscht, auf „Freundschaft“ oder „Gefällt mir“ klickt. Bauman warnt vor der Illusion, die dem zugrunde liegt: „Sie sprechen nicht mit anderen Menschen, sie sprechen mit einem Bildschirm.“
Hinzu komme „die Angst, ausgeschlossen zu sein“. Daraus resultiere das tief im Bewusstsein verankerte Bedürfnis nach Bekanntheit und öffentlicher Wahrnehmung. Wurde Öffentlichkeit früher über Verlage oder Bühnen hergestellt, brauche man jetzt nur noch ein Telefon: „In die Öffentlichkeit zu gehen, ist heute für jeden möglich, der so ein kleines elektronisches Gerät besitzt.“ Allerdings könne statt Anerkennung auch Ablehnung zurückkommen und damit bleibe die Angst vor Ausschluss. Das Resultat sei die Flucht vor dem Unbehagen menschlicher Beziehungen in der Offline-Welt in die Online-Welt. Aber Online- und Offline-Universum sind nicht identisch, sie haben unterschiedliche Regeln. „Sie unterhalten sich online überwiegend als Fremder mit Fremden“, warnt der Soziologe.
Um den gesellschaftlichen Wandel zu erklären, hat Bauman schon vor Längerem seine Theorie von der flüchtigen Gesellschaft entwickelt. Seine These: „Wir leben in einer flüchtigen Gesellschaft, alles ist permanent im Umbruch und zwingt uns zu ständiger Veränderung.“ Dadurch führten Ängste zu einer ständigen Suche nach der eigenen Identität, welche auch mit Beschäftigungsverhältnissen verbunden ist. „Einen Platz in der Gesellschaft zu finden ist schwierig, wenn man arbeitslos ist; denn Arbeitslosigkeit wird nicht als Normalität dargestellt, sondern als etwas Ungewöhnliches.“ Dieses falsche Bild der Normalität werde uns immer wieder von Regierungen vorgetäuscht, aber: „Wir leben nicht in Zeiten, in denen Regierungen Vollbeschäftigung sichern können oder andere Versprechen halten.“
Smartphone und Social Media würden als Hilfsmittel bei der Bewältigung dieser Probleme angeboten, doch das um den Preis der Überwachung. Die werde jedoch nicht mehr als Bedrohung empfunden, weil sie als notwendiger Schutz, derzeit vor Terrorismus, verkauft werde. Der große Bruder behüte und beschütze, in dem er überwacht und aufpasst – so, wie es Orwell einst in „1984“ darstellte. Dabei verschwimme die klare Trennung von Überwachern und Überwachten. Durch die Preisgabe persönlicher Daten über sich und andere werde jeder Einzelne zum Spion: „Wir sind alle Spione, denn wir leisten freiwillig Spitzeltätigkeit“, lautet Baumans Kritik. Von dem Ausmaß dieser freiwilligen Selbstoffenbarung hätten KGB und CIA vor 50 Jahren nur träumen können. Die Mithilfe jedes Einzelnen garantiere, dass Überwachungs- und Kontrollmechanismen weiterhin funktionierten. Doch Bauman warnt vor der vermeintlichen Sicherheit, die wir dadurch zu erhalten meinen: „Wenn Sie glauben, Sie wüssten, was Sie in der Zukunft erwartet, dann irren sie.“