60 Jahre Frankfurter Rundschau

Persönliche Erinnerungsfragmente von Wolf Gunter Brügmann

Dort wo vor zehn Jahren tausende Frankfurter fröhlich das 50jährige Bestehen der Frankfurter Rundschau (FR) feierten, steht das „Rundschauhaus“ seit Mitte Juli leer und wartet, am Rande eines großen Abbruchareals, auf die Abrissbirne. Nur kurz vor ihrem 60. Geburtstag, dem 1. August, markierte die Aufgabe des vor 51 Jahren bezogenen Verlagshauses an der Stammadresse „Große Eschenheimer Straße 16 – 18“ im Herzen Frankfurts auch äußerlich das endgültige Ende der FR-Ära, die von der Gründergeneration geprägt wurde.

Den Umzug in Mietetagen des modernen Rundbaus „Collosseo“ südlich des Mains verknüpfen viele der Redakteurinnen und Redakteure mit der Hoffnung, dass sie dort nach über vier Jahren tief wirkender Niedergangsstimmung (dramatischer Personalabbau von 1.680 auf rund 750 Stellen, spürbare Einkommensminderungen, härtere Anforderungen, Arbeiten in einem zunehmend vernachlässigten Gebäude) wieder zu einer neuen Motivation und Identifikation mit der Arbeit im „alten Geist“ zusammenfinden. Was aus der Gründerzeit bleibt, ist auf jeden Fall die erste Zeile im Impressum: „Verleger bis 1973: Karl Gerold“.

Von «M» um einen Beitrag gebeten wurde ich, weil ich der letzte Redakteur auf der Gehaltsliste der FR bin, der noch von dem legendären und gefürchteten Lizenzträger, „Herausgeber, Verleger und Chefredakteur“ Karl Gerold und dem ebenfalls beeindruckenden stellvertretenden Chefredakteur Karl-Hermann Flach ganz persönlich nachhaltig geprägt worden ist. Am 1. März 1968 war mein erster Arbeitstag als freier Mitarbeiter, am 1. Januar 1969 begann ich als Volontär in der Nachrichtenredaktion, die später meine „Heimat“ wurde und die ich von 1984 bis 1994 leitete. Seit November bin ich in der „Freistellungsphase“ der Altersteilzeit.

Ein Rat fürs Leben

Es war eine Begegnung der besonderen Art, damals im Dezember 1968: Karl Gerold reißt lautstark die Tür zur Lokalredaktion auf und fragt mit beißender Stimme: wer ist „rüg“? Erschrocken ging ich hinter dem Schreibtisch in Deckung, verbarg den Kopf tief über die Schreibmaschine gebeugt und ein Kollege „rettete“ mich: „Das ist ein freier Mitarbeiter, aber der ist nicht hier.“ Gerold schon etwas ruhiger, aber doch in strengem Befehlston: „Sagt ihm, er soll gefälligst kürzere Sätze schreiben!“ Das war ein Rat fürs Leben. Es ging um meinen ersten Kommentar auf der Seite 3 mit der Überschrift „Antiautoritäre Nikoläuse“; dazu, dass, wie und für wen die studentische Arbeitsvermittlung an der Uni in der Hochzeit der Studentenbewegung Nikolausjobs vergab.

1968 waren Druckerei, Packsaal und Versand noch nicht im 15 Kilometer entfernten Neu Isenburg, sondern noch im Hinterhaus in Frankfurt, wo die FR bis 1962 auch die FAZ mitgedruckt hatte. Es war die Zeit, in der die FR den Sprung von einer regionalen zu einer überregionalen Zeitung geschafft hatte. Zum einen als Oppositionszeitung gegen die Große Koalition (1966 – 69) und mit Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) als Intimgegner, insbesondere seine mögliche Verwicklung in die „Hispano-Suiza-Panzeraffäre“. Zum anderen als Blatt der Studentenbewegung. Von allerorten berichteten Studenten mit journalistischen Ambitionen oder junge Journalisten über Demos und Teach ins; „Barfußkorrespondenten“ nannten wir sie, analog zu den „Barfußärzten“ in armen Ländern, andere sagten auch „Volkskorrespondenten“.

In einem Branchenmagazin für Journalisten, in der die Personalien zum meistgelesenen Teil gehören, mag es vertretbar sein, an einige der Namen zu erinnern, die die FR geprägt haben. Das Profil mit dem Label „links-liberal“ entwickelte der stellvertretende Chefredakteur Karl Hermann Flach, der diese Programmatik danach als Generalsekretär der FDP zu deren „Freiburger Thesen“ von 1971 als Leitbild für die sozial-liberale Koalition ausweitete. Zur ersten Generation gehörten neben Gerold und Flach in der Zentrale Werner Holzer, Hans-Herbert Gaebel, Horst Wolf, Conrad Ahlers (später Regierungssprecher der Großen Koalition und Chefredakteur der Hamburger Morgenpost), Peter Miska (Reporter), Erich Lissner (Feuilleton), in Bonn Volkmar Hoffmann, Ingeborg Jahn, Eghard Mörbitz, weiter Annemarie Doherr (Berlin), im Ausland Emigranten wie Herbert Freeden (Jerusalem), Hermann Bleich (Den Haag), Heinz Pol (Washington). Und Georg Herda, der gemeinsam mit Eugen Stotz aus dem Vorstand der IG Druck und Papier die Kampagne „Aktion Federblitz“ steuerte, die der dju den großen Wachstumschub brachte, der sie zu einem eigenständigen Faktor machte.

Hans Michael Rathert aus der zweiten FR-Generation, der 1969 Nachrichtenchef wurde, entwickelte die „Kästen“ (Im Blickpunkt, Im Hintergrund, Nachrichtenfeature) und führte damit in der deutschen Presse die Form der „news analysis“ ein. Auch die tägliche Dokumentationsseite war seine Idee. In der Innenpolitik gab es drei starke Säulen: Rechtspolitik, Bildungspolitik, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, wozu auch die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern gehörten. Weitere Stärken waren innerparteiliche, innergewerkschaftliche und innerkirchliche Demokratie, in der Auslandsberichterstattung vor allem die „Dritte Welt“.

Als jüngster der ersten Welle der zweiten Generation bestritt ich zunächst mit zwei Polizeireportern die Berichterstattung über die Studentenbewegung in Frankfurt. Im Volontariat wandte ich mich auch dem Themenfeld Tarifpolitik, Gewerkschaften und Arbeitgeber zu, das fortan meine Hauptsache blieb.

Eine ganze Reihe derer aus der zweiten Generation, die zwischen Mitte der 60er- und in den 70er-Jahren dazu kamen, prägten über viele, teilweise über 30, 35 Jahre, die FR. Dazu gehören Roderich Reifenrath (Innenpolitik, Chefredakteur bis 200), Karl Heinz Krumm, Hans-Joachim Noack (Reporter), Martina I. Kischke (Frauenseite), Jutta Roitsch (Bildung, Dokumentation), Karl Grobe (Ausland), Horst Köpke, Wolfram Schütte (Feuilleton), Rolf Dietrich Schwartz (Wirtschaft, Bonn), Eckart Spoo (der auch 19 Jahre dju-Bundesvorsitzender war), Anton-Andreas Guha (Friedenspolitik), Karl-Heinz-Baum (DDR-Korrespondent), Christian M. Schöne (Nachrichten), Horst Schreitter-Schwarzenfeld (Bonn), Otto Jörg Weis (Berlin) sowie von den noch Aktiven Hans Helmut Kohl (Reporter, Chefredakteur, Paris) und Brigitte Kols (Seite 3, Europa).

Wir „aufmüpfigen“ Jüngeren der zweiten Generation mussten uns vor allem an den Älteren der ersten Generation abarbeiten, die ihre „ungebärdigen Kinder“ mit einem zwar ambivalenten, aber vor allem nicht offen gezeigten Wohlwollen gewähren ließen und dann auch Führungsverantwortung übertrugen. Später flackerte hin und wieder mal diese Spannung auf: Denen „da oben“ in der Chefetage war die FR nicht „FAZig“ genug, vielen „da unten“ nicht „tazig“ genug. Aus einem solchen von zwei Seiten genährten Unsicherheitsgefühl fanden wir spätestens im ersten Golfkrieg heraus, in dem die FR einen eigenen inhaltlichen wie gestalterischen „Auftritt“ entwickelte, mit dem sie in der Reflektion und der Präsentation komplexer und länger andauernder politischer Dramen neue Maßstäbe setzte. So erneuerten wir auch selbstbewusst unsere professionelle Redaktionsidentität.

Über den Kopf gewachsen

In der ersten ökonomischen Existenzkrise 1974 retteten der Springer-Konzern und die gewerkschaftliche Bank für Gemeinwirtschaft die FR. Springer mit einem langfristigen Druckvertrag für seine Zeitungen, die Bank für Gemeinnützigkeit mit dem dafür notwendigen Modernisierungskredit. So verfügte das FR-Verlagshaus bald über die modernste Zeitungsdruckerei in Europa. Erst hatte die FR die Druckerei über Wasser gehalten, dann die Druckerei die FR. Zeitweise wurden pro Nacht mehr als zwei Millionen Zeitungen gedruckt, nur gut zehn Prozent davon die FR. Das Unternehmen entwickelte sich von einem mittelständischen handwerklichen Betrieb mit Meister-Gesellen-Hilfsarbeiter-Struktur und großer persönlicher Nähe zwischen Redakteuren, Schriftsetzern, Korrektoren und Metteuren zu einer hochkomplexen Zeitungsfabrik, deren Dimension ebenso wie die Marktdynamik vor allem den langjährigen Geschäftsführern schließlich über den Kopf wuchs.

In der zweiten Existenzkrise seit 2000 rettete die SPD-Medienholding die FR, deren Profil nun von der dritten, teilweise schon vierten Redaktionsgeneration geprägt wird. Allen Unkenrufen zum Trotz hat sich die Redaktion ihre Unabhängigkeit gegenüber der SPD bewahrt. Ungewiss bleibt allerdings, wer in noch unbestimmter Zukunft die Geschäfts- und damit auch die Redaktionspolitik bestimmen wird. Denn nachdem die FR nun einigermaßen saniert ist, möchte sich die SPD-Medienholding, wie angekündigt, auf eine Minderheitsbeteiligung zurückziehen.

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