„Alles ist möglich“

Schluß mit der rechtlichen und technischen Aufrüstungsspirale

Auf dem Journalistinnnen- und Journalistentag 1998 der Fachgruppe Journalismus in der IG Medien sollten aktuelle Probleme der inneren und äußeren Pressefreiheit, der Rolle der Presse im Staat – wie die Presse und wie die Politik sie sieht, sollten Themen wie Qualität (und Ausbildung dazu) und der Härtetest in der Praxis erörtert werden. Nach der Absage der Veranstaltung in Würzburg hat uns einer der Referenten, Dr. Stefan Walz, Datenschutzbeauftragter des Landes Bremen, seinen Text zur Verfügung gestellt. Er beschreibt die aktuellen juristischen und politischen Implikationen der Gefährdung der Pressefreiheit, z.B. durch Unterlaufen jeglicher Informantenschutzes.

Lehrstück „Großer Lauschangriff“

Am 14. Januar dieses Jahres gab es in Bonn eine eindrucksvolle Demonstration gesellschaftlichen Widerstandsgeistes: Vertreter von 18 Bürgerrechtsgruppen, Standesorganisationen und Datenschutzinstanzen lancierten den „Bonner Appell“ gegen den Großen Lauschangriff. Dabei waren die Anwälte, die Richter, die Humanisten, einige Datenschutzbeauftragte und last but not least die Journalisten einschließlich der IG Medien.

Zwar gelang es noch in letzter Sekunde, neben Beichtstühlen und Anwaltskanzleien auch die Redaktionen „wanzenfrei“ zu halten, ein Erfolg, der in den Medien dementsprechend auch als Erfolg gewertet wurde. Richtig ist: Der Tendenz zum „Alles ist möglich“ der Kohl-Ära, was Eingriffe in die liberal-freiheitlichen Bürgerrechte angeht, trat ein breites Bündnis von Personen und Gruppen gleichsam unter dem Motto „Jetzt ist Schluß“ entgegen. Unter „Kohl-Ära“ ist dabei nicht nur die alte Regierungskoalition zu verstehen, sondern einzubeziehen sind auch die SPD, die fast alle neuen staatlichen Kontrollbefugnisse mit verabschiedet hat, und die mehrheitlich SPD-regierten Bundesländer, die wiederholt im Bundesrat sogar Verschärfungen der Regierungsvorlagen verlangt haben.

Verlauf und Ergebnis der Auseinandersetzung um den Großen Lauschangriff sind trotz der in letzter Minute erreichten Korrekturen ein Lehrstück mit überwiegend negativem Beigeschmack: Der Widerstand kam zu spät, und er war – jedenfalls mehrheitlich – nur aus der eigenen beruflichen Betroffenheit motiviert. Zu spät war der Widerstand, weil die Änderung des Grundgesetzes längst beschlossen war und nur noch in den Ausführungsgesetzen korrigiert werden konnte. Die Motivation ausschließlich durch die Standesinteressen machte deutlich, wie wenig fast alle Bonner Appellanten – und zwar auch und gerade die große Mehrheit der Journalisten – begriffen hatten, daß der sogenannte Große Lauschangriff nicht isoliert zu sehen ist, sondern in den Gesamtkontext der Entwicklung der letzten Jahre hin zu einem „Kontrollstaat“ zu stellen ist. Leider haben auch zu viele Journalisten die Kanthersche Kriminalitätsrhetorik nicht kritisch hinterfragt und viel zu spät gemerkt, daß mit den angeblich nur betroffenen „Gangsterwohnungen“ auch Redaktionsstuben und Verteidigerpraxen gemeint sein konnten. Um es zuzuspitzen: In bezug auf diese Entwicklung haben die Medien ihr für die rechtsstaatliche Demokratie so wichtiges „Wächteramt“ nur unzureichend wahrgenommen.

Journalisten sollten mehr als bisher ihre Rolle in dem notwendigen gesellschaftlichen „Frühwarnsystem“ spielen, das für die Grund- und Bürgerrechte riskante rechtliche oder technische Entwicklungen rechtzeitig aufspürt, benennt und durch kritische Berichterstattung Aktionsgrundlagen für kritische Bürger liefert. Anders ausgedrückt: Die Öffentlichkeit gilt es zu informieren darüber, was alles möglich ist an gesetzlichen und technischen Eingriffen in die Privatsphäre und in das Persönlichkeitsrecht, und wo es Absichten und Planungen gibt, an dieser Schraube weiter zu drehen.

Kein Informantenschutz bei Verbindungsdaten

Zur derzeitigen Situation ein Beispiel, das speziell die Risiken für die Vertraulichkeit der Recherche und das Redaktionsgeheimnis, also für Grundpfeiler der im Grundgesetz garantierten Pressefreiheit, verdeutlicht. Die Maßnahme in diesem Beispiel ist weniger spektakulär als der Große Lauschangriff, als das Abhören von Pressekontakten oder Redaktionsräumen, dafür aber viel leichter durchzuführen.

Auch und gerade Journalisten benutzen bekanntlich gerne das Mobiltelefon. Im Dezember 1995 telefoniert eine ZDF-Journalistin mit dem „Baulöwen“ Schneider. Die den flüchtigen Bankrotteur suchende Staatsanwaltschaft läßt sich von der Telefongesellschaft die Nummern aller vom Apparat der Journalistin aus in einem bestimmten Zeitraum geführten Telefonate, die Uhrzeit der Gespräche usw. geben. Eine Bestimmung im Fernmeldeanlagengesetz sieht in der Tat vor, daß Netzbetreiber einschließlich der Mobilfunkfirmen den Strafverfolgungsbehörden Auskunft über die von einem Anschluß aus mit einem Beschuldigten geführten Telefonate geben müssen. Für diese Ermittlungsmaßnahme gibt es anders als bei der Telefonüberwachung, die die Gesprächsinhalte abhört und gegebenenfalls aufzeichnet, keinen Deliktskatalog. Anders ausgedrückt: Dieser Paragraph gilt auch für Bagatelldelikte.

Alles rechtens, befand das vom ZDF angerufene Landgericht Frankfurt, und schon gar nicht wird eine Ausnahme für die Medien wegen Artikel 5 Grundgesetz gemacht. Zitat: „Das Bild vom umfassenden Informantenschutz … wird vom Gesetz nicht gedeckt.“ (Der Fall ist vom Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden.) Die vergleichbare Fallkonstellation gab es jüngst beim Telefonat einer „Stern“-Journalistin mit dem früheren RAF-Mitglied H.J. Klein. Dessen Fluchtdomizil in Frankreich soll angeblich durch die Überprüfung der Verbindungsdaten aufgedeckt worden sein.

Die Lehre daraus: Der Journalist muß damit rechnen, daß die Ermittlungsbehörden nicht nur nach der Strafprozeßordnung Gesprächsinhalte abhören dürfen, dann aber mit richterlichem Beschluß und bei im einzelnen im Gesetz aufgeführten Delikten. Bei „Gefahr im Verzug“ können Kripo und Staatsanwaltschaft auch ohne Einschaltung des Richters und ohne Straftatenkatalog feststellen, von wo aus und wann ein Redakteur und sein Informant, gegen den ermittelt wird, telefoniert oder beide sich auch nur vergeblich angewählt haben. Anders ausgedrückt: Der Redakteur kann zwar seine Informanten schützen, wenn er als Zeuge direkt gefragt wird; insoweit greift sein Zeugnisverweigerungsrecht. Er kann sich aber nicht auf Gesetze und Gerichte verlassen, wenn er Quellenschutz bei telefonischen Recherchen reklamiert, gleich ob wie hier im Mobilfunk oder bei Telefonaten im sogenannten Festnetz.

Zu Recht will der Deutsche Presserat diese Rechtslage nicht hinnehmen und fordert, den Schutz des Zeugnisverweigerungsrechts und des Beschlagnahmeverbots in der Strafprozeßordnung auf die Überwachungsmöglichkeiten in der Telekommunikation auszudehnen. Knapper ausgedrückt: Informantenschutz muß auch für Kontakte über das Netz gelten. Die Koalitionsvereinbarung verspricht Verbesserungen beim Zeugnisverweigerungsrecht; auf die Gesetzesvorschläge darf man gespannt sein.

Handys – bequem aber riskant

Für Journalisten gibt es noch weitere Gründe für die Warnung: Handys bringen Komfort, sind aber nicht ohne Risiko. Bei eingeschaltetem Handy lassen sich die jeweilige Funkzelle, aus der gewählt wird, und damit der Standort des Handy-Besitzers ermitteln bzw. ggf. ein Bewegungsbild herstellen: Nach der sogenannten Fernmeldeüberwachungsverordnung (FÜV) müssen diese Daten bei überwachten Anschlüssen den Strafverfolgungsbehörden mitgeteilt werden. Oder: Bei geschickter Auswahl von Leistungsmerkmalen können „liegengelassene“ Mobiltelefone als Abhörgeräte benutzt werden. Oder: Mit sogenannten IMSI-Catchern, deren Benutzung zwar im Inland verboten ist, die aber trotzdem ver- und gekauft werden dürfen, läßt sich die Verschlüsselungsfunktion ausschalten, was Mobiltelefonate mithörbar macht. Kurz: Nur ein völlig ausgeschalteter Apparat garantiert sicheren Schutz vor mißbräuchlicher Nutzung.

Die rechtliche und technische Aufrüstungsspirale

Die Beispiele belegen die Gesamtentwicklung, die der frühere Bundestagsabgeordnete der Grünen, Manuel Kiper, als „rechtliche und technische Aufrüstungsspirale“ bezeichnet hat. Der Große Lauschangriff ist ja nur das vorläufige Endglied einer langen Kette immer neuer Eingriffsbefugnisse für die Sicherheitsbehörden, eingeführt fast alle nach 1986 und legitimiert vor allem mit dem Zauberwort der Organisierten Kriminalität.

Die Kontrollmöglichkeiten betreffen ohne Anspruch auf Vollständigkeit das Gespräch in der Wohnung, das Gespräch und das Verhalten außerhalb der Wohnung, die Autofahrt, die Fahrt mit der Bahn, das Telefonat im Inland, das Ferngespräch mit dem Ausland, die Kundendaten der Telefongesellschaften, die Kommunikation per e-mail und per Fax sowie die Mitteilungen im und die Abrufe aus dem Internet.

Es wird unter anderem in Computern registriert, mit Videokameras aufgenommen, auf Abhördisketten aufgezeichnet und mit Richtmikrophonen belauscht. Überwachungsbehörden sind – auch hier wieder ohne Garantie für Vollständigkeit – Schutz- und Kriminalpolizei, Zoll (Zollkriminalinstitut), Bundesgrenzschutz, Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst.

Die Maßnahmen heißen in Stichworten u.a. Telefonüberwachung, strategische Telefonkontrolle, Schleppnetzfahndung, Rasterfahndung, Schleierfahndung, Observation, polizeiliche Beobachtung, kleiner Lauschangriff, großer Lauschangriff, verdeckter Ermittler, Zugriff auf Verbindungsdaten der Telekommunikation sowie automatisierter Abruf von Kundendaten (der Telefongesellschaften).

Technisch ermöglicht bzw. erleichtert wurde und wird der staatliche Zugriff durch die Digitalisierung des gesamten Telekommunikationsnetzes (Stichwort: ISDN), bei der Deutschland europäischer Spitzenreiter ist. Die politische Akzeptanz wurde durch eine gelungene Salamitaktik erhöht: Häufig wurde bei den einzelnen Gesetzesänderungen der Eindruck erweckt, es gehe nur um kleinere Rechtsanpassungen, die im Vergleich zu den Risiken der insbesondere organisierten Kriminalität moderat wirkten. In den Detailregelungen und Durchführungsverordnungen wurde der Überwachungsumfang dann noch erweitert.

Datenspuren im Netz – die aktuelle „Kryptokontroverse“

Von zentraler Bedeutung ist daher, sich immer folgenden Grundsatz merken: Jede Interaktion im Netz hinterläßt eine Datenspur, und jede Datenspur kann überwacht werden. Daraus folgt: Je mehr soziale und gesellschaftliche Aktivitäten über das Netz, vom Computer zu Hause oder im Büro aus, erfolgen, desto „gläserner“ wird der Netzbürger.

Entscheidend für die Frage, ob und in welchem Umfang die Menschen künftig noch unbeobachtet kommunizieren können, ist daher der Ausgang der leider auch in den Medien viel zu wenig beachteten „Kryptokontroverse“: Wird es auch künftig wie bisher uneingeschränkt zulässig bleiben, eine elektronische Nachricht so zu verschlüsseln, daß nur der Empfänger, für den die Nachricht bestimmt ist, sie entschlüsseln und lesen kann? Oder setzen sich die staatlichen Überwachungsinteressen durch, die den elektronischen „Kanther-Dietrich“ verlangen, also die Hinterlegung der Schlüssel oder die Beschränkung auf bestimmte normierte und den Strafverfolgungsbehörden bekannte Schlüssel?

Dieses Thema ist gerade jetzt hochaktuell. Die alte Bundesregierung hatte die Entscheidung über eine Kryptoregulierung per Kabinettsbeschluß bis zum Ende der Legislaturperiode verschoben. Gegner von Restriktionen waren vor allem die mächtigen Wirtschaftsverbände mit ihren Bedenken, daß sich ohne unknackbare Verschlüsselung bei den Banken kein Vertrauen in den elektronischen Geschäftsverkehr entwickeln kann. Doch machen derzeit wieder die amerikanische Regierung und europäische Nachbarstaaten Druck mit der Zielrichtung, das Prinzip der Schlüsselkontrolle generell durchzusetzen. Daher wittern auch die Befürworter in den deutschen Innen- und Sicherheitsbehörden wieder Morgenluft.

Verschlüsselungsfreiheit in Gefahr

Mit der Entscheidung für oder wider Verschlüsselungsfreiheit werden prinzipielle Weichen gestellt für die Frage, in welchem Umfang in der Informationsgesellschaft das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in Form unbeobachteter (Tele-)Kommunikation noch gesichert werden kann. Dieses Thema darf niemand als Materie für Computerspezialisten abtun, schon gar nicht Journalistinnen und Journalisten. Im Medienbereich geht es um nicht weniger als darum, ob Redakteure mit Politikern, Informanten und Experten, ob Medienleute mit ihren Redaktionen, ob Redaktionen untereinander Texte und Bilder über Netze kontrollfrei austauschen können. Wer sich der Konsequenzen staatlicher Kryptoeinschränkungen und -verbote auch und gerade für die Arbeit der Medien bewußt ist, wird und muß sich für die Verschlüsselungsfreiheit engagieren.

Scheinbare Plausibilität soll den Befürwortern das Argument liefern, weil man bisher das Telefon ja auch abhören konnte, müsse dies unter vergleichbaren Bedingungen auch für alle anderen Kommunikationsvorgänge über das Netz gelten. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer Verschlüsselung im Staatsinteresse einschränkt, handelt so, als ob Telefonate nur noch in für Strafverfolger verständlicher Sprache geführt oder Briefe nur noch für Ermittler und Geheimdienste lesbar verfaßt werden dürften. Genereller ausgedrückt: Was bisher offline, also außerhalb des Netzes, zulässig war – also zum Beispiel die Verwendung einer Geheimsprache oder -schrift -, muß es auch online bleiben. Die bisher gewährleistete Anonymität zahlreicher sozialer Interaktionen darf sich nicht – jedenfalls nur so wenig wie technisch unvermeidbar – dadurch verschlechtern, daß die Bürgerinnen und Bürger Telebanking machen statt persönlich die Filiale aufzusuchen, per Teleshopping bestellen statt Waren bar zu kaufen, oder statt verschlossener Briefumschläge e-mails versenden.

Allianz für die Bürgerrechte – die Rolle der Medien

Das staatliche Kontrollnetz – so die Bilanz – hat sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten dramatisch verdichtet. Auch in Zeiten einer rot-grünen Bundesregierung kann es bis zum Beweis des Gegenteils keine Entwarnung geben. Wie beim Großen Lauschangriff bewiesen, wird im Konfliktfall – wie jetzt beim Streit um die Verschlüsselung – nur eine breite Allianz von Bürgerrechtsgruppen, Standesorganisationen, liberalen Politikern und Datenschützern Grundrechte sichern helfen können. Wir brauchen eine breite Palette kritischer gesellschaftlicher Kräfte, die genau aufpassen und sich öffentlich melden, wenn wieder an der Kontrollschraube gedreht wird, die verlangen, daß Sicherheitsgesetze ständig auf ihre Wirksamkeit und Notwendigkeit evaluiert und gegebenenfalls wieder aufgehoben werden, wenn man sie nicht mehr braucht.

Diese Strategie setzt zwingend aufmerksame Medien voraus, die die Politik der inneren Sicherheit (auch) der neuen Bonner Regierung kritisch hinterfragen und die bei neuen Überwachungsgesetzen drohenden Grundrechtsverluste erkennen und in ihrer Berichterstattung benennen. Kritische Redakteurinnen und Redakteure sollten auch vermeiden, den bunten Hochglanzprospekten und euphorischen Pressemitteilungen der Technologieunternehmen auf den Leim zu gehen und dabei zu vergessen, welche Kontrollrisiken neue Netze und Programme bergen.


  • Stefan Walz ist Landesbeauftragter für den Datenschutz, Bremen
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