Big Brother Awards zum 20. Mal verliehen

Der Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner hielt die Laudatio für den Big Brother Award in der Kategorie Politik, der an die Bundesregierung ging. Screenshot: Livestream der Preisverleihung

Rollende Kameras, Gehirnstrommessung zur Konzentrationskontrolle in Schulklassen, millionenfache Autokennzeichen-Speicherung und das Ausspähen von Mitarbeiter*innen: Das sind nur vier Fälle, die Digitalcourage mit dem Big Brother Award 2020 aufspießt. Insgesamt hat Digitalcourage den Preis achtmal in sieben Kategorien vergeben, in diesem Jahr vor kleinem Publikum und online. Der Verein setzt sich seit 1987 für Grundrechte und Datenschutz ein – zum 20. Mal wurden nun die Big Brother Awards verliehen.

Tesla, Hennes & Mauritz sowie BrainCo sitzen 2020 auf der „Anklagebank“ von Digitalcourage, dazu die Bundesregierung, die Innenministerkonferenz, der Innenminister von Brandenburg sowie das Leibniz-Wissenschaftszentrum Tübingen. Diese Ausgewählten standen schon im Frühjahr fest, als die geplante Verleihung in Bielefeld samt 20-Jahr-Feier des Vereins wegen Corona auf Mitte September verlegt werden musste. Eine Preisträgerin, die Kultusministerin von Baden-Württemberg, Susanne Eisenmann, ist erst danach dazu gestoßen. Und hier kommt ein viertes Unternehmen ins Spiel, nämlich Microsoft.

Eisenmann erhält den „Sonderpreis Digitalisierung“ des Big Brother Awards, weil sie „wesentliche Dienste der Digitalen Bildungsplattform des Landes von Microsoft betreiben lassen will“. Netzphilosophin Leena Simon warnte davor, die US-Firma mit der Bildungsplattform zu betrauen, da die Privatsphäre-Einstellungen bei wesentlichen Diensten nicht nutzbar seien, der sogenannte „Privacy Shield“ in der Europäischen Union als unzureichend gelte und die Gefahr bestehe, dass Geheimdienste  mitlesen könnten. Eisenmanns Behauptung, dies könne bei „Microsoft 365“ durch einen Server in Europa verhindert werden, wies Simon als falsch zurück. Sie forderte Eisenmann auf, weiterhin Open-Source-Programme zu nutzen und die geplanten 24 Millionen Euro dafür zu verwenden. Microsoft sei eine „Zeitbombe“. Spätestens, wenn die Eltern einbezogen werden, würde sie eine Klagewelle erleben.

Auf Nachfrage von M erklärte ihre Pressestelle, Eisenmann „reagiert amüsiert auf die Verleihung des Big Brother Award 2020“, denn der baden-württembergische Datenschutzbeauftragte Stefan Brink, sei „sehr früh in den Prozess eingebunden“ gewesen. Während Eisenmann die Zusammenarbeit mit dem Datenschutzbeauftragten als Garantie im Rahmen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sieht, hatte die Laudatorin Simon die Bedenken Brinks zitiert. Gegenüber „Heise online“ hatte Brink erklärt: „Wir gehen da neutral ran und schauen, was jetzt aktuell machbar ist.“

Um Schule geht es auch in der Kategorie „Bildung“: Die US-Firma BrainCo stellt EEG-Stirnbänder „FocusEdu“ her, welche die Konzentration von Schüler*innen messen könnten. Diese würden in den USA und in China bereits in Klassen eingesetzt, erklärte Laudatorin Rena Tangens und bezeichnete das als „Dressur und digitale Gewalt“. Den zweiten Teil des Preises vergab sie an den Leibniz-Wissenschaftscampus Tübingen, „der ähnliche EEG-Stirnbänder auch in Deutschland erprobt, kombiniert mit Eye-Tracking. Das ist Dressur statt Bildung“, lautete der Vorwurf an den Wissenschaftscampus. Während BrainCo auf eine Bitte um Stellungnahme nicht antwortete, erklärte das Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) für den Ende Juni nach drei Projektjahren ausgelaufenen Wissenschaftscampus „Cognitive Interfaces“, weder eine Verbindung zur der Firma BrainCo zu haben, noch „ähnliche EEG-Stirnbänder“ für den Unterricht zu erproben, vielmehr den Einsatz solcher Bänder entschieden abzulehnen.

Negativpreis für Tesla und H&M

Den Big Brother Award in der Kategorie „Mobilität“ erhielt Tesla Germany für seine Autos als „Überwachungsanlagen auf vier Rädern“, bei der Fahrt und im Stehen. Es sei unklar, welche Daten außerhalb und innerhalb des Wagens, eingefangen von Kameras und Sensoren, an Tesla übermittelt würden und weltweit nutzbar seien. Der Käufer könne der Nutzung widersprechen, müsse dann aber mit eingeschränkten Fähigkeiten seines Gefährts rechnen. Digitalcourage sieht in all dem einen Verstoß gegen die DSGVO. Tesla antwortete M, die Datenfreigabe sei standardmäßig deaktiviert und werde bei einem sicherheitskritischen Ereignis oder auf Kundenwunsch im Ausgleich der Nutzung neuer Fahrassistenz-Funktionalitäten eingesetzt.

In der „Arbeitswelt“ ist der Textilhändler „Hennes & Mauritz (H&M) der diesjährige Empfänger des Big Brother Award. In seinem Nürnberger Callcenter sammelten leitende Mitarbeiter*innen systematisch persönliche Daten ihrer Kolleg*innen, die ihnen in Pausenplaudereien oder Welcome-Back-Gesprächen nach dem Urlaub zu Ohren gekommen waren. Erst durch einen Serverfehler erfuhren die Mitarbeiter*innen im Dezember 2019 von dieser illegalen Sammelwut. Beim Datenschutzbeauftragten in Hamburg, dem deutschen Firmensitz von H&M, ist deshalb ein Bußgeldverfahren anhängig. H&M wollte die Verleihung nicht kommentieren, da es sich um einen „laufenden Prozess“ handele.

Den Big Brother Award „Politik“ erhält in diesem Jahr die Bundesregierung wegen ihrer „rechtlichen und politischen Mitverantwortung für den völkerrechtswidrigen US-Drohnenkrieg“, der ohne die Datenübermittelung auf der deutschen Basis Ramstein nicht möglich wäre. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu lediglich, die USA hätten sich verpflichtet, auf ihren Stützpunkten in Deutschland deutsches Recht und Völkerrecht einzuhalten. Dazu stehe man in einem regelmäßigen und engen Austausch.

Der Big Brother Award in der Klasse „Behörden und Verwaltung“ gilt dem jetzigen Innenminister Brandenburgs, Michael Stübgen, und seinem Vorgänger, Karl-Heinz Schröter für die dauerhafte Speicherung von rund 40 Millionen Autokennzeichen im Erfassungssystem KESY. Dieser Datenschutz-Verstoß wurde erst durch die Berliner Polizei bei Ermittlungen in einem Mordfall bekannt. Das Innenministerium erklärte, seit Stübgens Amtsantritt im November 2019 sei das System den Ansprüchen des Datenschutzes angepasst worden: „Der Verein Digitalcourage weist auf ein Problem der vergangenen Landesregierung hin, das von der aktuellen Landesregierung behoben wurde.“

Den Preis in der Kategorie „Geschichtsvergessenheit“ überreichte padeluun, Künstler und Mitbegründer von Digitalcourage, symbolisch an die Innenministerkonferenz, weil sie beabsichtige, auf der Basis der Steueridentifikationsnummer eine lebenslang gültige Personenkennziffer einzuführen. Dies widerspreche dem Grundgesetz. Ein solche, lebenslange Personenkennziffer sei „entwürdigend für den eigentlichen Souverän, den Bürger“. Das Thüringer Innenministerium, derzeit federführend in der Innenministerkonferenz, erklärte M gegenüber: Ein registerübergreifender Basisdatensatz zu einer Person sei notwendig, um die öffentliche Verwaltung zu modernisieren und bis 2022 alle Verwaltungsdienstleistungen digital anzubieten. In zahlreichen EU-Mitgliedsstaaten gebe es bereits ein solches „Identitätsmanagement“, das in Deutschland „verfassungs- und datenschutzkonform“ in Arbeitsgruppen weiterentwickelt werde.

 

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