Superlative und Verwehungen

Ein Blick auf Pressekonzentration, demografische Entwicklung und „strukturelle Beißhemmungen“ nach 60 Jahren

Wo immer mehr als zwei Verlagsvertreter versammelt sind, brechen sie sogleich in großes Wehklagen aus: Nie waren die Zeiten so schlecht wie heute. Gleichzeitig vermeldet Springer das „höchste Ergebnis in der Unternehmensgeschichte“; nur eine von vielen Widersprüchlichkeiten, die es derzeit erschweren, ein einheitliches Bild der Presselandschaft zu entwerfen.

Der Markt bleibt schwierig: Ein Blick auf Pressekonzentration, demografische Entwicklung, Anzeigentiefen, Gewinnsteigerungen und „strukturelle Beißhemmungen“ nach 60 Jahren Presseentwicklung in Deutschland.

Als Zeitungsverleger hat man es in diesen Tagen nicht leicht. Einerseits muss man den Angestellten erklären, warum ein Stellenabbau in Redaktion und Verlag immer noch unumgänglich ist; andererseits machen die großen Häuser, die seit Jahren mehrstellige Millionenbeträge vor allem im osteuropäischen Ausland investieren, satte Gewinne. Kürzlich erst konnte Springer-Vorstand Mathias Döpfner lauter Superlative verkünden. Sein resümierendes Fazit des zurückliegendes Geschäftsjahres: „Historischer Ergebnis-Rekord auf dem Höhepunkt einer andauernden Konjunktur- und Strukturkrise.“

Das bringt es auf den Punkt: Die Bilanzen gerade der Großverlage legen nahe, dass die Talsohle der Einnahmenverluste gerade bei Anzeigen durchschritten ist. Doch in der Öffentlichkeit lässt man sich zu allenfalls verhaltenem Optimismus hinreißen, selbst wenn sich sowohl die Vertriebserlöse wie auch das Anzeigengeschäft deutlich erholt haben. Dank einer teilweise rücksichtslosen Sanierung auf Kosten der Mitarbeiter konnten es die Verlage selbst mitten in der Krise vermeiden, rote Zahlen zu schreiben. Nur gut, dass es noch das Damokles-Schwert der demografischen Entwicklung gibt, mit dem man die Zuversicht bremsen kann: Seit Jahren nimmt die Zahl junger Zeitungsleser kontinuierlich ab. Bereits heute ist der typische Leser tendenziell ein älterer Mann. In ihrer klaren Ausrichtung auf die aussterbenden deutschen Leser ignorieren die Zeitungen zudem die einzige Bevölkerungsgruppe, die Zuwächse verzeichnet: junge, konsumkräftige Ausländer.

An Reichweite zugelegt

In der ersten Hälfte der bundesdeutschen Nachkriegszeit sahen die Zahlen noch ganz anders aus. Zwar kam es aufgrund einer Rezession Mitte bis Ende der Sechzigerjahre zu ersten Konzentrationsbewegungen im Pressewesen, doch den Zeitungen ging es vergleichsweise gut. Die massenhafte Verbreitung des Fernsehens hatte das Medium unbeschadet überstanden. Im Gegenteil: Parallel dazu konnten die Tageszeitungen an Reichweite sogar noch zulegen. Erst die Einführung des kommerziellen Fernsehens und die damit einhergehende Gründung eines Dualen Systems aus öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern führte zu einer spürbaren Veränderung in der Mediennutzung. Als die Sender RTL (damals noch mit einem „plus“) und Sat.1 nicht mehr nur übers Kabel, sondern auch terrestrisch empfangen werden konnten, nahm die Bedeutung des Fernsehens als Freizeitangebot sprunghaft zu. Das galt zwar für alle Altersgruppen, doch nur bei Jüngeren machte sich erstmals auch ein Verdrängungswettbewerb bemerkbar. Seither werden junge Leute, wie die Untersuchungen des Allensbacher Instituts für Demoskopie (IfD) belegen, immer weniger regelmäßige Leser einer Tageszeitung.

Das hat mehrere Gründe. In gleichem Maß, wie das Fernsehen an Attraktivität gewann, nahm das Interesse junger Menschen an den klassischen Zeitungsressorts Politik und Wirtschaft ab. Kommunikationsforscher vermuten zudem, dass sich das Mediennutzungsverhalten jüngerer Zielgruppen durch die Gewöhnung an das flüchtige Fernsehen verändert hat. Einzelne Ergebnisse der Pisa-Studie belegen, dass Schülern das Verständnis komplexer Texte immer schwerer fällt.

Derzeit trägt natürlich auch die wirtschaftliche Situation vieler Haushalte nicht gerade dazu bei, dass sich die Zahl der Zeitungs-Abonnements erhöht. Ein Großteil der Ausgaben für Kommunikation fließt mittlerweile gerade bei Menschen unter dreißig ins mobile Telefon. Da das Fernsehen, das man ja wegen der Rundfunkgebühr ohnehin bezahlen muss, sowie Anzeigenblätter, kostenlose Freizeitmagazine oder der lokale Hörfunk offenbar ein Großteil des Informationsbedürfnisses befriedigen, haben viele Haushalte die tägliche Zeitungslektüre in Frage gestellt. 32 Prozent aller Deutschen und 58 Prozent aller 16- bis 29-Jährigen haben hierzulande laut IfD heute den Eindruck, „alles, was für mich wichtig ist, kann ich auch auf andere Weise erfahren“. Vor fünfzig Jahren sah das noch ganz anders aus. Zwar hatte die noch junge Republik selbst im Zuge des Wirtschaftswunders nicht zur einstigen Zeitungsvielfalt zurückgefunden, doch der Status des Mediums bei seinen Kunden stand außer Frage: Laut einer ersten vom Bundesverband deutscher Zeitungsverleger in Auftrag gegebenen Leserumfrage wurden 78 Prozent der Bevölkerung in den Jahren 1957/58 regelmäßig von Zeitungen erreicht. Von den knapp 25 Millionen täglichen Lesern waren zwei Millionen zwischen 14 und 17 Jahren alt.

Ungebrochener Konzentrationsprozess

Daran sollte sich auch in den beiden folgenden Jahrzehnten nichts ändern. Erste Warnsignale aus Amerika wurden ignoriert: Dort wurde schon in den Siebzigern bei jungen Leuten ein deutlicher Rückgang der Zeitungslektüre festgestellt. Hier zu Lande hingegen erreichte das Medium gerade den Höhepunkt der Nachkriegszeit. Die Demoskopenfrage nach der regelmäßigen Zeitungslektüre beantworten 74 Prozent der Befragten noch 1979 mit „Ja“. Der medienpolitische „Urknall“ 1984 brachte die Wende: Hatten bis zur Einführung des Privatfernsehens noch 41 Prozent die Zeitung als wichtigste Informationsquelle bezeichnet, so sackte diese Zahl innerhalb von drei Jahren auf 28 Prozent.

Diese Entwicklung ist aus Sicht von Kommunikationswissenschaftlern weitaus dramatischer als die schrumpfende Anzahl der Titel. Deutlichster Beleg für den ungebrochenen Konzentrationsprozess des Zeitungsmarktes ist die Anzahl der Marktzugänge. Sieht man mal von Nebenausgaben sowie den Ablegern der jüngsten Zeit („20 Cent“, „Welt kompakt“) ab, gab es in den letzten Jahrzehnten mit der „tageszeitung“ (taz) und in jüngerer Zeit mit der Financial Times Deutschland (FTD) nur zwei nennenswerte Neugründungen, die sich nicht nur durchsetzen, sondern auch überleben konnten. Dem gegenüber steht eine Vielzahl von Versuchen, die gescheitert sind, darunter Alternativprojekte wie die „Zeitung zum Sonntag“ (zus) aus Freiburg, aber auch ehrgeizige Entwürfe in großem Maßstab wie „Die Woche“.

Auf regionaler Ebene ist der Zeitungskuchen ohnehin verteilt. Außerhalb der Ballungsräume herrschen praktisch überall monopolistische Zustände. In über 60 Prozent der Kreise und kreisfreien Städte gibt es laut Dortmunder Formatt-Institut mittlerweile nur noch eine Zeitung. Gebietskämpfe gehören weitgehend der Vergangenheit an. Lieber überlässt man ein Gebiet, in dem die Lokalausgabe nicht rentabel ist, der Konkurrenz.

Trotzdem glauben langjährige Marktbeobachter wie etwa der Dortmunder Zeitungsforscher Horst Röper (Formatt) nicht, dass es zu einer neuen Konzentrationswelle kommen werde. Das Konzentrationstempo habe seit der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre insbesondere wegen einer damaligen Novellierung des Kartellrechts deutlich nachgelassen. „Kern der Kartellrechtsbestimmungen im Pressewesen war immer die Fusionskontrolle, und die ist ja – anders als von Clement geplant – auch nicht aufgegeben worden“, so Röper. Ganz kleine Verlage können nach der jüngsten Gesetzesänderung zwar unabhängig von einer kartellrechtlichen Überprüfung miteinander fusionieren, wenn ihr gemeinsamer Jahresumsatz nicht zwei Millionen Euro überschreitet, doch für größere Verlage ist die „Aufgreifschwelle“, die im ersten Entwurf noch bei 25 Millionen Euro lag, verdoppelt worden.

Übersehen wird auch gern, dass ein Konzentrationsprozess für jeden Markt ganz natürlich ist. Im Pressewesen wird der Vorgang beargwöhnt, weil mit jedem Verlust einer eigenständigen publizistischen Einheit die Meinungsvielfalt eingeschränkt wird. In anderen Branchen sind diese Prozesse durch die Internationalisierung des Wettbewerbs ausgeglichen. Röper verweist auf die Automobilbranche: Dort seien zwar diverse deutsche Marken vom Markt verschwunden, doch die Lücken seien von Herstellern aus Frankreich, Italien oder Japan geschlossen worden. Eine ähnliche Entwicklung gab es in der Elektrogeräte-Industrie. In beiden Branchen ist der Wettbewerb sogar noch größer geworden. Auch im Bereich des Fernsehens hat sich die Internationalisierung längst vollzogen: Die deutschen Kabelnetze sind zum größten Teil in der Hand ausländischer Investorengruppen, die ProSiebenSat.1-Gruppe gehört dem Amerikaner Haim Saban, der wiederum die Interessen diverser Kapitalgeber vertritt. Den Zeitungsverlegern hingegen ist es gelungen, ihren Markt abzuschotten; hier ist Ausländern der Zugang nie gelungen. Rupert Murdoch hat zwar mehrfach versucht, Anteilseigner bei Springer zu werden, musste in Deutschland aber eine seiner wenigen Niederlagen akzeptieren. Auch das gemeinsam mit Burda gestemmte Projekt „Super“ ist gescheitert.

Keine Garantie für Vielfalt

Trotzdem beobachtet der Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren die Entwicklung ohne große Sorge. Der lokalen Berichterstattung wirft er ohnehin „Elitenorientierung“ vor. Tatsächlich haben die Sozialwissenschaftler Ralf Zoll und Thomas Ellwein schon vor über dreißig Jahren mit ihrer „Wertheim-Studie“ (so genannt nach einem Ort im Fränkischen) belegt, dass selbst mehrere Tageszeitungen insgesamt nur einen bestimmten Ausschnitt des öffentlichen Lebens abbildeten, weil lokale Berichterstattungspraxis elitendominiert sei. Röper bringt es auf den Punkt: „Eine Vielzahl miteinander konkurrierender Zeitungen ist noch keine Garantie für inhaltliche Vielfalt, aber die Voraussetzung“.

Siegfried Weischenberg, Direktor des Instituts für Journalistik und Kommunikationswissenschaft (Universität Hamburg), sieht das ähnlich. Gerade in Monopolsituationen sieht er „eine Art Arrangement zwischen Tageszeitungen und herrschenden Parteien“. Die Zeitungsmacher selber betonen gern den Forums-Charakter ihrer Blätter, der für Jarren allerdings einen ganz anderen Hintergrund hat: „Die Verlage können es sich aus ökonomischen Gründen gar nicht mehr leisten, schwarze oder rote Positionen zu vertreten“. Der Ordinarius für Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich spricht von „Versippung“ der örtlichen Eliten. Viele Leser sehen das übrigens ähnlich: Laut Umfragen der Allensbacher Demoskopen trauen immer weniger Menschen ihrer Zeitung zu, dass sie die Öffentlichkeit über ein privates Vergehen des Bürgermeisters (zum Beispiel betrunken Auto fahren) informieren würde. Aus Sicht Jarrens verliere der Lokaljournalismus in Monopolgebieten seine Aufgabe als „Watchdog“: „Die Frühwarnfunktion der Medien wird größtenteils ausgeblendet“. Jarren nennt das die „strukturelle Beißhemmung“ und spricht von „korporatistischen Interessen“, weil die Berichterstattung weitgehend ökonomisch gesteuert sei. Der Konflikt zwischen Aldi-Süd und der Süddeutschen Zeitung, vermutet der Publizistikwissenschaftler, sei wohl nur die ausnahmsweise sichtbar gewordene Spitze des Eisbergs.

Krise als Chance erkannt

Gerade die aktuelle Krise hat die Abhängigkeit der Verlage von Einnahmen durch Anzeigen nachhaltig vor Augen geführt. Allerdings hat die Branche die Krise auch als Chance erkannt: Praktisch jeder Verlag sucht nach neuen Erlösquellen. Das in den Achtzigern begonnene Diversifikationsgeschäft hat sich hingegen als wenig rentabel erwiesen; Engagements etwa beim Ballungsraumfernsehen waren wenig berauschend. Auch bei kommerziellen Hörfunksendern führte es mitunter, so in NRW, zu ernüchternden Ergebnissen. Eine jüngste Umfrage der Unternehmensberatung KPMG („Wachstumsfelder für den Zeitungsmarkt in Deutschland“) hat ergeben, dass Zeitungsverlage in Zukunft die Hälfte ihres Umsatzes über den Vertrieb erzielen müssen. Die klassische Finanzierungsstruktur – ein Drittel Vertrieb, zwei Drittel Anzeigen – gehöre endgültig der Vergangenheit an. Viele Verlage sind längst als Postzusteller aktiv. Das Angebot kultureller Produkte und Dienstleistungen (Kunst, Bücher, Reisen) gehört fast schon zur Grundausstattung. Vor dem letzten Ausweg werden sich die Verlage so lange wie möglich drücken: Nur dank der Anzeigeneinnahmen konnte ein vergleichsweise niedrigerer Copy-Preis garantiert werden. Lassen sich keine alternativen Einnahmequellen finden, werden die Zeitungen ihren Käufern die Gretchenfrage stellen müssen: Wie viel ist dem Leser die Lektüre tatsächlich wert? Der Leser wiederum könnte entgegnen, er werde nur dann mehr zahlen, wenn brutto gleich netto sei, er also nicht mehr ganze Bücher ungelesen bei Seite legen müsse. Die Zeitung der Zukunft könnte dann so aussehen: neben der lokalen und regionalen Berichterstattung den Politikteil der taz, den Sportteil der Süddeutschen, das Feuilleton der FAZ und das tägliche plus aus der Frankfurter Rundschau. Natürlich kann man sich diese Daily Me schon jetzt Tag für Tag im Internet zusammenstellen. Aber dieses „Best of“ morgens aus dem Briefkasten zu holen: Das wird wohl ein Traum bleiben.

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