„Das letzte Tabu“

Warum der Kölner Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister bei seiner braunen Spurensuche in der Vergangenheit des „Spiegel“ bei deutschen Redaktionen auf eine Schweigespirale stößt

Pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) hatte „das Sturmgeschütz der Demokratie“ anfang vergangenen Jahres die Verstrickungen des weltweit größten Sportverbandes mit dem NS-Regime ins Visier genommen. Im unverkennbaren „Spiegel“-Slang („Papa Gnädigs treue Enkel“) enthüllte das Hamburger Nachrichten-Magazin, dass etliche Alt-Nazis zum engsten Führungszirkel des 1949 wieder gegründeten DFB gehört hätten. Urdeutsche Karrieren eben, schließlich sei die Wiederauferstehung brauner Seilschaften ein Wesensmerkmal der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. „Dem DFB diese Personalie vorzuwerfen wäre billig“, schrieb der „Spiegel“, das Problem des Verbandes sei vielmehr der sperrige Umgang mit seiner Geschichte.

Die gleichen Probleme hat der „Spiegel“ mit seiner eigenen Vergangenheit. Und dessen Herausgeber Rudolf Augstein verhält sich nicht anders als die halsstarrigen DFB-Granden, die ihre Archive jahrzehntelang eisern für die Geschichtsforschung sperrten. „Ignoranz? Arroganz? Kleinliche Sorge um die Beschädigung des Ansehens?“, mutmaßte das Magazin über mögliche Motive für die Uneinsichtigkeit der greisen DFB-Führungscrew.


„Ja, es hat beim ‚Spiegel‘ in den Anfangsjahren auch einige ehemalige Nazisgegeben.“
Rudolf Augstein


Und bei Augstein? „Diese Vorwürfe treffen den ‚Spiegel‘ so wenig wie mich“, nuschelt der 77jährige Patriarch von der Hamburger Brandstwiete und räumt mürrisch ein, was ohnehin nicht mehr zu dementieren ist: „Ja, es hat beim ‚Spiegel‘ in den Anfangsjahren auch einige ehemalige Nazis gegeben.“ Der große Aufklärer gibt sich reichlich verschlossen, wenn es um die Gründungsjahre des weltweit erfolgreichsten Nachrichten-Magazins mit Millionenauflage geht.


„Ohne diese Personnage wäre der ‚Spiegel‘ nie so erfolgreich gewesen.“
Lutz Hachmeister


Seit nunmehr sechs Jahren publiziert der renommierte Kölner Medienforscher Lutz Hachmeister seine Recherchen über den Einfluss ehemaliger NS-Geheimdienstleute auf die redaktionelle und inhaltliche Ausrichtung des „Spiegel“ in den 50er Jahren. Weitgehend ohne publizistisches Echo. In deutschen Redaktionen stößt der Medienforscher auf eine Schweigespirale. „Es ist das letzte Tabu der deutschen Mediengeschichte“, wie Hachmeister jetzt bei einer Düsseldorfer Disputation über die „Spiegel“-Vergangenheit klagte.

„Eine Art braunes Netzwerk“

Eher zufällig ist Hachmeister bei seiner Forschungsarbeit über den SS-Brigadeführer und nationalsozialistischen Zeitungswissenschaftler Franz Alfred Six auf „eine Art braunes Netzwerk“ gestoßen, das den „Spiegel“ in den 50er Jahren maßgeblich beeinflusst habe. Die ehemaligen Six-Handlanger Horst Mahnke, ehemaliger SS-Hauptsturmführer, und sein Spezi Georg Wolff, auch ein SS-Hauptsturmführer a.D., avancierten 1952 beim Hamburger Nachrichten-Magazin zu Ressortleitern für „Internationales/Panorama“ und „Ausland“.

Mahnke und Wolff – zwei der damals fünf „Spiegel“-Ressortleiter – waren bei der SS keine unscheinbaren Schreibtischtäter. Immerhin gehörte Mahnke dem berüchtigten „Vorkommando Moskau“ an, das mindestens 46 Menschen liquidierte. Zudem kümmerte sich Mahnke im Auftrag seines Chefs um die Verteilung der vertraulichen „Informationsberichte zur Judenfrage“. Der zuletzt dem SD-Einsatzkommando für Norwegen zugeteilte Wolff wird im Personalbericht des SS-Geheimdienstes als ein Nationalsozialist „in jeder Hinsicht“ eingestuft, ihm werden Willenskraft und persönliche Härte „in ausgeprägter Form“ attestiert. Für Augstein hingegen war Wolff in erster Linie „ein großer Journalist“, der bis zuletzt an der unbestreitbaren Tatsache gelitten habe, dass er Hauptsturmführer im SD gewesen war. Augstein: „Ich hake diesen Fall ab.“

„Subkutaner Antisemitismus“

Doch so einfach kann es sich der „Spiegel“-Herausgeber bei der Vergangenheitsbewältigung nicht machen. Bei seinen akribischen Recherchen hat Hachmeister inzwischen „gut ein Dutzend überzeugter Nationalsozialisten“ ausgemacht, die in den Gründungsjahren des „Spiegel“ als Ressortleiter, Redakteure, Pauschalisten und freie Mitarbeiter an großen Geschichten des Magazins mitwirkten. Beinahe bruchlos übernahmen die Alt-Nazis nach dem Befund des Kölner Medienforschers ihr antisemitisches Weltbild in die „Spiegel“-Artikel jener Jahre – etwa in einer Serie über jüdische Schmugglerbanden. Bei vielen Geschichten schimmere ein „subkutaner Antisemitismus“ durch.


„Niemand wird die Bedeutung des ‚Spiegel‘ für die Demokratie ernsthaft bestreiten, aber es bleiben Schmutzflecken auf der Weste.“
Iring Fetscher


Eine „wunderliche stilistische Linie“ hat Hachmeister bei der Lektüre der ersten „Spiegel“-Jahrgänge ausgemacht: „Das ganze ist irgendwo zwischen ‚Time‘ und Landserheften situiert.“ Er stieß beinahe durchgängig auf „einen schnoddrigen Casino-Ton“ – für den Kölner Medienforscher die unverkennbare Handschrift des Redigier-Profis Augstein. Da wird der Leiter des Reichssicherheits-Hauptamtes, Arthur Nebe, als „anständiger, ehrlicher Ausrottungshäuptling“ porträtiert und über SD-Chef Reinhard Heydrich schreibe der „Spiegel“, nichts habe ihn „so sehr gewurmt wie seine Abstammung“, denn er hatte „zwar einen nordischen Körper, aber einen schlitzäugigen vermatschten Kopf“.

Hier waren keine „kleine Chargen“ am Werk, wie der amtierende „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust heute gerne glauben machen möchte, sondern laut Hachmeister „junge aktive NS-Offiziere aus der Funktionselite“. Und die verfügten, nicht zuletzt aufgrund ihrer Tätigkeit bei der Reichskriminalpolizei, über ausgesprochen gute Drähte zu ihren alten Kameraden, die nun bei den neuen Geheimdienst- und Polizeibehörden der jungen Republik saßen. „Das waren alles keine gelernten Journalisten“, urteilt Hachmeister über die Aufbaugeneration des „Spiegel“, „aber sie waren im Besitz von Informationen und Stories.“ Die Erfolgsgeschichte des Hamburger Magazins als einzigartiges Enthüllungsblatt hat hier für Hachmeister ihren Ursprung: „Ohne diese Personage wäre der „Spiegel“ nie so erfolgreich gewesen.“

Redaktions-Odyssee seit 1996

Seine Erkenntnisse über das „braune Netzwerk“ beim „Spiegel“ hat Hachmeister erstmals im Frühjahr 1996 für die in Hamburg erscheinende „Woche“ aufgeschrieben – eine umfängliche Geschichte, die die üblichen Artikelumfänge des Wochenblattes deutlich sprengte. Dennoch habe ihm Manfred Bissinger, damals noch Chefredakteur und Herausgeber der „Woche“ in Personalunion, in einem persönlichen Gespräch versichert, dass dies „eine tolle Geschichte“ sei, für die er entsprechenden Platz schaffen werde. Was freilich dauern könne. So sei er aus Hamburg „über Wochen und Monate“ mit der ungelösten Platzproblematik hingehalten worden, beklagt Hachmeister in der Rückschau. Irgendwann sei ihm schließlich mitgeteilt worden, dass die Chefredaktion eine Veröffentlichung seines Artikels ablehnen müsse – ohne Angabe von Gründen. Später, so Hachmeister, sei ihm dann zugetragen worden, „dass Bissinger seinem Freund Aust“ das heikle Manuskript zugespielt haben soll.

Als „Unverschämtheit“ weist Bissinger die Behauptungen Hachmeisters zurück. Niemals habe er das Manuskript an Aust weitergegeben: „‚Woche‘-Manuskripte sind nicht Manuskripte des ‚Spiegel‘.“ Mit den Inhalten des Hachmeister-Artikels sei er seinerzeit „durchaus einverstanden“ gewesen. Alleine die Überlänge habe eine Veröffentlichung in der „Woche“ unmöglich gemacht. Uneinsichtig habe der Kölner Medienwissenschaftler jedoch auf dem vollen Textumfang bestanden. Bissinger: „Nach der Methode: Vogel friss oder stirb, lehnte er ab zu kürzen.“

Dies wiederum bestreitet Hachmeister ganz energisch. Mit dem „Woche“-Chef sei er sich darüber einig gewesen, dass „der sehr komplexe Text kaum gekürzt werden“ könne. Alles andere werde heute „nur vorgeschoben“. Wenn ihn Bissinger vor die Alternative gestellt hätte, Kürzen oder keine Veröffentlichung, „dann hätte ich doch selbstverständlich einer Kürzung zugestimmt“, sagt Hachmeister heute.

Damals offerierte Hachmeister sein zurückgewonnenes „Woche“-Manuskrikpt der „Zeit“. Aber auch von dort bekam er einen negativen Bescheid. Eine „ganz gewiss gute Geschichte“, ließ ihm der seinerzeitige Chefredakteur Robert Leicht über einen Mittelsmann ausrichten, „aber wenn wir das drucken, dann fängt der ‚Spiegel‘ an, über uns zu recherchieren“. Weitere Körbe holte sich Hachmeister bei überregionalen Tageszeitungen.

Nach Absagen in Serie landete er Ende 1996 mit seinem Manuskript schließlich bei der alternativen „Tageszeitung“. Die couragierten tazzler druckten den umfänglichen Artikel über die vernebelte Vergangenheit des „Spiegel“ unter der Headline: „Mein Führer, es ist ein Wunder!“ Immerhin: Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) verbreitete von dem Stück „eine saubere Nachrichtenfassung“ (Hachmeister). Doch im deutschen Blätterwald rührte sich nichts – mit Ausnahme der „Frankfurter Rundschau“. Statt dessen berichteten Zeitungen in der Schweiz, England, Spanien, Portugal und der Türkei über Hachmeisters braune Spurensuche beim „Spiegel“.

„Tendenz zum Schweigen und Schönen“

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Unter dem Titel „Mitgemacht, weitergemacht, zugemacht“ hat soeben der Dortmunder Journalistik-Professor Horst Pöttker einen Essay über das NS-Erbe der Kommunikationswissenschaft in Deutschland veröffentlicht. Pöttkers Befund: Die deutsche Publizistik tue sich schwer mit ihrer NS-Vergangenheit, „nach wie vor gibt es eine Tendenz zum Schweigen und Schönen“.

Der „Spiegel“ selbst bescheinigte sich generös in seiner Jubiläumsausgabe 1997 zum 50jährigen Bestehen „immerdar ein antifaschistisches Geschütz von Anbeginn“ gewesen zu sein. Als 1996 die ersten Forschungsergebnisse Hachmeisters publik wurden, gaben Augstein und Aust an der Hamburger Brandstwiete die Augen-zu-und-durch-Parole aus: Einfach absurd … nicht mal ignorieren. Ende der Debatte. „Die 50er Jahre waren schrecklich weit weg“, erinnert sich der ehemalige „Spiegel“-Mann Hans Leyendecker, „das spielte keine Rolle im Haus, man hat drauf geguckt wie auf ein Insekt.“

Leyendecker, inzwischen Top-Enthüller bei der „Süddeutschen Zeitung“, versteht die Vergangenheits-Verdrängung nicht. Wie andere Blätter auch habe der „Spiegel“ beim Übergang in die neue Republik mit der Übernahme von Alt-Nazis „einen blinden Flecken“ in sener Geschichte. Das eigentlich Problematische sei, dass sich das Nachrichten-Magazin bis heute hartnäckig weigere, einen Teil seiner Vergangenheit zu beschreiben. „Der ‚Spiegel‘ würde nichts von seinem Glanz verlieren“, ist Leyendecker überzeugt, „wenn er das in aller Ruhe aufarbeiten würde.“

„Schmutzflecken auf der Weste“

Es zeuge von der „Selbstüberschätzung“ eines Monopolisten auf dem Medienmarkt, kritisiert der anerkannte Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher, „mit dem Finger auf andere zu zeigen und die eigene Vergangenheit zu beschönigen“. Wie Leyendecker rät auch Fetscher zu einer unaufgeregten Geschichtsdebatte bei dem Hamburger Nachrichten-Magazin: „Niemand wird die Bedeutung des ‚Spiegel‘ für die Demokratie ernsthaft bestreiten, aber es bleiben Schmutzflecken auf der Weste“.

Medienwissenschaftler Hachmeister hat aus dem ängstlichen Umgang der deutschen Medien mit der „Spiegel“-Vergangenheit inzwischen seine Lehren gezogen: „Wenn man ein wirklich brisantes Thema hat, dann muss man sich schon an die britische Presse oder die ‚Neue Züricher Zeitung‘ wenden.“ In den deutschen Zeitungshäusern würden Geschichten zunehmend „nur noch unter strategischen und taktischen Gesichtspunkten“ veröffentlicht. Das sei längst gängige Praxis. Hachmeisters bittere Erfahrung in der Medienbranche: „Es gibt Seilschaften, die Themen zurückhalten und Themen spielen.“

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