Der Ast, auf dem sie sitzen

ARD und ZDF verhelfen nicht zum Gegenbewusstsein

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll zur Meinungsbildung beitragen und dazu erforderliches Faktenwissen vermitteln. So steht es, mit Gesetzesrang, in den Staatsverträgen über die Anstalten der ARD und das ZDF. Den Informations- und den Bildungsauftrag hat das Bundesverfassungsgericht in allen seinen Urteilen zum Rundfunkwesen zwar als konstitutiv für die Demokratie eingestuft und insoweit die Angriffe rechtskonservativer Parteien und Politiker auf die Existenz der Sender abgewehrt. Den prägenden Einfluss konservativer Kräfte auf das Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks konnte es allerdings nicht unterbinden.

Infolge dieses Einflusses scheitern die Anstalten mit ihrem Informationsauftrag. Das gilt besonders für den Diskurs über den fortschreitenden Sozialabbau und dessen vorgebliche Alternativlosigkeit. ARD und ZDF verhelfen nicht zum Gegenbewusstsein. Sie senden das demagogische Geschwätz von der Unvermeidlichkeit der „Reformen“ und befähigen nicht zum vernünftigen Urteil über den hemmungslosen Renditehunger der Konzerne. Sie bilden lediglich den Wetteifer in der Politik ab, wie die Kapitalmacht von ihren sozialen Verpflichtungen zu befreien sei.

Verhielte es sich anders, dann wäre das Wissen über die Alternativen zur Demontage des Sozialstaats Allgemeingut. Es gäbe Protest gegen die Berliner Finanzpolitik und ihre obszönen Steuergeschenke für die Reichen. Vermögens- und andere Steuern würden diskutiert, zum Beispiel die von attac und von ver.di vorgeschlagene und durchgerechnete „Solidarische Einfachsteuer“. Der Spitzensteuersatz (seit Jahresbeginn abermals drei Prozent niedriger, nur noch 42 %) und die Körperschaftssteuer (zur Freude der Konzerne von 23,5 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf jetzt weniger als 6 Milliarden Euro gesunken) wären Dauerthemen. Im Blickpunkt ständen die Reichen und ihr Geld: 8,4 Billionen Euro Privatvermögen, davon 2,6 Billionen Euro Barvermögen (ohne Immobilienwerte und Unternehmensbeteiligungen, laut Schätzung des international renommierten Finanzconsulters Merrill Lynch. Die Bundesbank berichtete Ende 2003 auf Basis älterer Daten von „nur“ 1,4 Billionen Euro).

Zunehmende Auszehrung des Staatshaushalts korrespondiert mit wachsendem privatem Reichtum. Inzwischen leben 761.000 deutsche Euro-(Multi-)Millionäre und weit über hundert deutsche Euro-Milliardäre unter uns bzw. in steuergünstigeren Nachbarländern. Knapp zehn Prozent unserer Mitbürger verfügen über gut drei Viertel des gesamten Volksvermögens. Ihr Besitz erbrächte mit wenig Verwaltungsaufwand bei einem Freibetrag von jeweils 500.000 Euro und einem Hebesatz von nur einem Prozent (ver.di-Konzept) jährlich bis zu 50 Milliarden Euro Vermögenssteuer. Nicht nur die Finanzierung der Sozialsysteme wäre gesichert. Schröder könnte nicht mehr von der „Notwendigkeit der Agenda 2010“ schwadronieren, ohne dass man ihn fragte, ob er noch bei Verstande sei.

Oft und fälschlich wird behauptet, eine Vermögenssteuer verstoße gegen die Verfassung. Karlsruhe verurteilte 1998 jedoch nur die Praxis, Immobilienvermögen geringer zu besteuern als Geldvermögen. Kanzler Kohl ließ daraufhin die Vermögenssteuer ganz aussetzen. Seither gibt es eine Große Berliner Verweigerungsfront gegen ihre Wiedereinführung und gegen Steuergerechtigkeit.

Vermögenssteuer. Angemessene Kapitalertragssteuer. Besteuerung der Betriebsverlagerung ins Ausland. Individuelle statt vom Wohnsitz abhängige Steuerpflicht. Steuerliche Gleichbehandlung von Arbeit und Kapital: Das hat alles nichts Revolutionäres. Es stellte das System nicht in Frage. Obwohl privatkapitalistische Wirtschaftsweise die Ursache für Krieg, Hunger und Elend auf der Welt ist und sie seit Jahrzehnten nicht einmal mehr in ihren Kernländern dazu taugt, allen Menschen Arbeit und Auskommen zu bieten. Zeigen die öffentlich-rechtlichen Medien, wie ethisch unvertretbar privatkapitalistisches Wirtschaften und wie irrational seine exzessive staatliche Förderung sind? Nein. Freie Marktwirtschaft, geheiligt sei Dein Name!

„Warum sind die Kopfarbeiter nicht für die Umwälzung? Sie stellen sich zu ihr nicht als Köpfe, sondern als Bäuche.“ (B. Brecht). Auch Journalisten sind solche Kopfarbeiter. Ihre Nachrichten vermitteln keinen Hauch von Umwälzungswillen. Ihre Magazine zeigen keine Alternativen, schon gar nicht die zum real existierenden Spätkapitalismus. Dessen radikale Gegner kommen in keiner Talkshow zu Wort. Nur manche Produzenten sind um die Mitwirkung „linker“ Feigenblätter bemüht und lassen Narzissen wie Gysi und Lafontaine auftreten. Das garantiert zwar den Erfolg der Show, aber keine tieferen Einsichten des Publikums. Politische Kabarettisten (Schramm, Priol, Jonas, Becker, Pispers, Rogler) dürfen das arbeitende Volk nicht beunruhigen und bekommen nur mitternächtliche TV-Sendeplätze (falls man sie nicht, wie den Kommunisten Kittner und zeitweise auch Richling, gleich gänzlich vom Programm fernhält).

Anstelle dieser geistreichen, scharfzüngigen Kabarettisten dürfen die Lobbyisten, die Rogowskis, Thumanns, Hundts, Brauns und Henkels regelmäßig zur besten Sendezeit Realsatire verströmen, applaudiert von ihren Heloten in den politischen Parteien. Ihr pastorales Gesäusel vom „Wachstum als Voraussetzung für neue Arbeitsplätze“ am „Standort Deutschland“ nennt kein TV-Journalist heuchlerisch und verlogen. Über ihre asoziale Profitgier und restaurative Machtgelüste hinter den Unternehmenspforten spricht man nicht.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist jedoch der gesamten Öffentlichkeit verpflichtet, nicht bloß einer wirtschaftlichen Elite. Wenn er sich weiter dermaßen instrumentalisieren lässt, stellt er seine Existenzberechtigung in Frage. Und seine Programmverantwortlichen sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen.

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