Die Wahrheit stirbt lange vor dem Krieg

Jürgen Elsässers materialreiche Studie über die Lügen im Jugoslawienkrieg ist auch eine Herausforderung an die Journalisten

In den letzten Wochen und Monaten wurde die deutsche Öffentlichkeit noch einmal mit dem Krieg um das Kosovo konfrontiert. Zunächst die Diskussion über die von der Nato in Jugoslawien verschossene Uranmunition.

Dann wurden mit Verweis auf eine internationale Untersuchungskommission Zweifel laut, ob das „Massaker von Racak“ überhaupt stattgefunden hat. Das fragten auch die beiden Fernsehjournalisten Jo Angerer und Mathias Werth, die mit ihrem Mitte Februar ausgestrahlten ARD-Beitrag „Es begann mit einer Lüge“ an konkreten Beispielen zu belegen versuchten, dass deutsche Politiker zur Begründung der Beteiligung der Bundeswehr mit gezielten Falschinformationen die Debatte erst richtig angeheizt hatten. Demnach sei das angebliche Racak-Massaker ein Gefecht zwischen bewaffneten Kosovo-Albanern und der serbischen Polizei gewesen.

Eine nicht ganz unwichtige Frage. Schließlich hat der Tod von über 40 Menschen in dem kleinen Ort im Kosovo die Bereitschaft der Nato zum militärischen Eingreifen wesentlich beschleunigt. Dabei gab es schon früh Zweifel an der vom OSZE-Chef William Walker gestützte Massaker-Version. So hatten ein französisches Kamerateam und mehrere Korreespondenten Racak am Tag des angeblichen Massakers besucht und die Version heftig bestritten. Doch die Mehrheit der Medienvertreter hat solche Meldungen als serbische Propaganda abgetan und nicht weiter verfolgt. Der Kolumnist Jürgen Elsässer, seit Jahre für seine scharfzüngigen Artikel in der Monatszeitung „Konkret“, der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung“ und gelegentlich in der „Süddeutschen Zeitung“ bekannt, hat sich diesem Freund-Feind-Denken verweigert.

Vor einigen Monaten hat er im Konkret Verlag ein Buch vorgelegt, in dem er mit dem Abstand von mehr als 15 Monaten die Meldungen nachrecherchierte, die den Kriegseintritt vorbereiteten, den Krieg begleiteten und die auch nach dem Ende noch immer als Rechtfertigungsgrund dienen. Mit den damals aktuellen Stichwörtern wie die „Rampe von Srebenica“, das „Massaker von Racak“, der „Hufeisenplan“ wurde einer breiten Öffentlichkeit suggeriert, die Nato müsse in Jugoslawien ein zweites Auschwitz verhindern.

Elsässer, der für sein Buch eine Menge von Dokumenten, Expertisen und Materialien von UNO, OSZE, dem Haager Tribunal und dem Auswärtigen Amt studierte, bestätigt die Grundaussagen des ARD-Teams. So hat es den Hufeisenplan, in dem die systematische Vertreibung der albanischen Bevölkerung durch serbische Nationalisten festgelegt sein soll, nie gegeben. Für Zweifel an der offiziellen Version hätte es nach Elsässer wenig journalistischen Spürsinns bedurft.

Aber journalistische Gegenrecherche war nach Elsässers Meinung auch sonst im Jugoslawienkrieg wenig angesagt. Wenn es um serbische Gräueltaten geht, die der Autor keineswegs leugnet oder rechtfertigt, wurden die Opferzahlen immens hochgerechnet, serbische Opfer hingegen oft einfach unterschlagen. So sind in den entscheidenden Monaten vor Kriegsbeginn bis März 1999 auch mehr als 30000 Serben vor der Gewalt der UCK aus dem Kosovo geflohen.

Diese Zahlen fanden zwar Eingang in die NHCR-Berichte, nicht aber in die deutschen Massenmedien. Auch nach Ende des Natokrieges ging die Manipulation weiter, so Elsässer. Während Verteidigungsminister Rudolf Scharping noch großspurig verkündete: „Wir haben es geschafft, dass Mord, Vertreibung und Gewalt im Kosovo beendet worden sind“, wurden in Pristina Menschen gelyncht, weil sie serbisch sprachen. Nicht nur Serben, auch Juden und Roma wurden von der siegreichen UCK aus ihren Wohnungen vertrieben. Elsässers materialreiche Studie ist auch eine Aufforderung an die Journalisten, gerade in Konflikten, in denen sich die eigene Regierung eindeutig positioniert hat, um so kritischer zu recherchieren.


Jürgen Elsässer:
Kriegsverbrechen.

Die tödlichen Lügen der Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovo-Konflikt
Konkret Verlag Hamburg 2000
192 Seiten, 26,80 DM

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Für ein digitales Ökosystem

Markus Beckedahl, Journalist und Gründer des Online-Portals www.netzpolitik.org, erkennt  im System des öffentlich-rechtlichen Rundfunk den Ort, wo alternative digitale Infrastrukturen gut entwickelt werden können.
mehr »

Rechte Influencerinnen im Netz

Rechtextremismus und rechte Parolen verbinden viele Menschen automatisch mit testosterongesteuerten weißen Männern. Diese Zielgruppe füttert AfD-Politiker Maximilian Krah mit simplen Parolen wie: „Echte Männer sind rechts.“ Das kommt an bei Menschen, die im Laufe der Zeit irgendwann beim „Gestern“ stecken geblieben sind. Inzwischen verfangen solche rechten Klischees auch bei Frauen. Vor allem im Internet.
mehr »

KI macht Druck auf Suchmaschinen

Die Künstliche Intelligenz frisst den Traffic: Das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) meldet massive Einbrüche bei der Suchmaschinen-Nutzung aufgrund von Chatbots bei Google oder ChatGBT. Weil viele Nutzer*innen sich mit den Zusammenfassungen von KI zufrieden geben, klicken sie nicht mehr weiter zu den Websites, von denen die Informationen bezogen werden.
mehr »

Sicher ist sicher: Eigene Adressen sperren

Journalist*innen sind in den vergangenen Jahren vermehrt zum Ziel rechter Angriffe geworden. Die Zahl tätlicher Übergriffe erreichte 2024 einen Rekordwert, so eine aktuelle Studie des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) in Leipzig. Die Autoren benennen die extreme Rechte als strukturell größte Bedrohung für die Pressefreiheit. Einschüchterungen oder sogar körperliche Übergriffe geschehen mitunter direkt an der eigenen Haustür. Den damit verbundenen Eingriff in das Privatleben empfinden Betroffene als besonders belastend.
mehr »