Erfurt und Mediengewalt

1946 drehte Wolfgang Staudte seinen ersten Nachkriegsfilm „Die Mörder sind unter uns“. Sein Kunstwerk klagte an, dass die Mörder der Nazizeit mitten in der Gesellschaft, in bürgerlichen Rollen und Verhältnissen leben. Staudtes Motiv war politische Aufklärung: Die Mörder spielen Saubermänner und leugnen gewissenlos ihre Schuld.

1994 kam Oliver Stones Film „Natural Born Killers“ ins Kino. Der Film sollte, nach Meinung des Regisseurs, das Morden und die Gewaltorgien in den Medien anklagen, indem er den medialen Superkill noch grausamer in seinem Film darstellte. Der Film wirkte, aber nicht als Anklage: In den USA wurde errechnet, dass dem Film mindestens zehn Morde als Nachahmungstaten folgten. Dies bedeutet nicht, dass Stones Filmgewaltorgie die einzige Ursache für die realen Morde war, jedoch eine zentrale und auslösende.

„Ist Oliver Stone ein Mörder?“

„Ist Oliver Stone ein Mörder?“ fragte daher C. Seidl in der Süddeutschen Zeitung vom 6. / 7.7.96, denn der Schriftsteller John Grisham klagte 1996 gegen Stone, weil das Pärchen Ben Darras und Sarah Edmondson im März 1995 einen guten Bekannten von Grisham ermordeten: Aus purer Mordlust, identifiziert mit und nach dem Muster von „Natural Born Killers“. Die Argumente von Grisham waren: Ein Film ist eine Ware wie Zigaretten, Silikonpäparate oder Nahrungsmittel. „Es braucht nur ein einziges Grundsatzurteil gegen Typen wie Oliver Stone, gegen die Produktionsfirma, vielleicht auch den Autor und das Studio. Und dann ist die ganze Party vorbei.“

Mit medialen Waren werden Profite und Einschaltquoten gemacht. Bei den nichtmedialen Waren gilt: Wenn Produkte den Konsumenten schädigen und der Nachweis der Schädigung erbracht ist, haftet der Produzent. Das ist der Kern der Produkthaftung, welche die Zigarettenindustrie in den USA teuer zu stehen kam.

Nicht aber die Medienindustrie! Denn Stone und Hollywood beriefen sich auf die Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst. Stone sah sich sogar als Opfer einer Hexenjagd. Er fühlte sich vollkommen unschuldig. Also sind die Konsumenten selbst schuld, wenn sie seinen Film als Blaupause für das Morden verwenden. Manche sprechen zynisch von „Kollateralschäden“ der Massenkultur. Welcher gesunde Geist kann gewalttriefende Bilder von Serienmördern, Vergewaltigungen, Blutrausch und Hasskriminalität als Kunst definieren? Jede Kunst, die Menschen erreichen will, sollte zumindest einen Ansatz der Verarbeitung eines Problems zeigen, anstatt den Nihilismus zu verherrlichen. Es muss am Geschäft liegen, was Kunst ist.

„Kollateralschäden“ der Massenkultur

Ein Vergleich: Rund 16 Prozent der Raucher bekommen statistisch gesehen Lungenkrebs, rund 10 Prozent der Fernseh- und Videogewaltkonsumenten (ohne Video-PC-Spiele) werden gewalttätiger – und das repräsentativ durch nationale und internationale Studien belegt. In der BRD bedeutet dies bei rund neun Millionen sechs- bis dreizehnjährigen Kindern, dass davon 900 000 abgestumpft, gewaltbereiter und – tätiger werden. In Risikogruppen liegt der Prozentanteil wesentlich höher. Aus diesem Gewaltpotential, mitverursacht durch Familie, Peergroup, Schule und Milieu, entwickeln sich Mörder wie in Erfurt, Freising, Augsburg, Meißen oder Bad Reichenhall, die ihre Handlungsmuster von medialen Modellen übernahmen.

Schuld bedeutet Kausalität. In Zeiten, in denen die medialen Produkte – wie jetzt nach dem Massenmord in Erfurt – wieder einmal in der Kritik stehen, werden die Strategien erneut offensichtlich, um Unschuld zu beweisen. Im Zusammenhang mit dem Treffen im Bundeskanzleramt am 2.5.2002 wiesen „die Intendanten der öffentlich-rechtlichen Sender aber eine Schuld der Medien von sich. „Es gibt in diesem Fall keine Mono-Kausalitäten“, sagte H. Schättle, Chef des Senders Freies Berlin“ (SZ 3.5.02). Wer behauptet Monokausalitäten? Wieder eine der bekannten Nebelkerzen. Noch dreister drückte sich T. Rossmann, Sprecher von ProSiebenSat.1 Media AG aus: Die Instrumente für einen effektiven Jugendschutz seien vorhanden und ob ein Zusammenhang zwischen Gewalt im Fernsehen und gewalttätigen Aktionen der Zuschauer bestehe, sei ungeklärt. Weitere Strategien der medialen Beschwichtigungen sind:

Wissenschaftliche Experten, die keine sind, verkünden, es sei wissenschaftlich nichts bewiesen und außerdem gäbe es Millionen, die Egoshooter spielen und nicht gewalttätig werden. Letztlich gehe es nur um Einzelfälle und allein deren pathologische Struktur erkläre den sogenannten „Amoklauf“.

Effektiver Jugendschutz und ungeklärter Zusammenhang? „Über eBay, unterm Ladentisch und durch Freunde können wir doch alles kriegen, was verboten ist“, sagten mir viele Jugendliche und nach 23.00 Uhr fernzusehen sei für sie keinerlei Problem. Der Jugendschutz steht auf dem Papier. Jedoch die eindeutigen Ergebnisse von 50 Jahren Wirkungsforschung zu leugnen, ist ein starkes Stück. Es muss am Geschäft liegen, was wissenschaftlich „bewiesen“ ist.

Was tun?

Was tun? Die freiwillige Selbstkontrolle der privaten Sender soll den Jugendschutz verbessern – hier wird der Bock zum Gärtner gemacht und der Öffentlichkeit vorgespielt, die Politik handle effektiv. Nötig wären:

  • Eine klare und eindeutige Information der Öffentlichkeit über den Stand der Wirkungsforschung – und das in einer Sprache, die alle Schichten verstehen.
  • Ein Verbot des Vertriebs von gewaltverherrlichenden Filmen und Videospielen mit neuen, konsequenten Methoden, die nicht wie bisher Kinder und Jugendliche zum Konsum noch anreizen.
  • Ein Gesetz zur Haftung für Medienprodukte mit klaren Kriterien.
  • Änderungen des Rundfunkstaatsvertrags: Verbot der Ausstrahlung indizierter Filme sowie schärfere Maßnahmen und Strafen für den Jugendschutz.
  • Kritische Medienerziehung für Eltern, Lehrer und Schüler.

Weder die Kennzeichnung von Videospielen durch Altersangaben noch deren Indizierung, weder die Verschärfung der Waffengesetze noch schulische Medienerziehung allein können kausal die Gefahren beseitigen, die von diesen Produkten ausgehen. Warum? Was am Markt ist, wird konsumiert. Das elektronische Massenmediensystem selbst steht hier zur Diskussion: Welche gesellschaftliche Verantwortung wird von den Medienproduzenten und -managern nachweisbar übernommen? Der erste Schritt wäre das Eingeständnis der eigenen Schuld und dann die Veränderung des Angebots.

Wer ist überhaupt schuld in diesem System? Öffentlich wird diskutiert: Der Mörder, der die Tat beging, die Familie, die ihn falsch oder nicht erzog, die Schule, die statt Lerninteresse frühe Auslese und Leistungsdruck produziert, der jedoch vom Arbeitsmarkt mitverursacht wird, die Lehrer, denen es an sozialer und medialer Kompetenz fehlt, die Gesellschaft, deren Werte im Kern aus Geld, Geltung und Macht bestehen, der einzelne, der diesen Materialismus lebt, die Videospiele, nicht jedoch das „Geschäft mit der Gewalt“, das Grisham meinte und Rudolf Weiß in seinem Buch beschrieb. Die einzigen, die bisher ihre Schuld bekannten, waren die Eltern von Robert Steinhäuser. Sie sagten im „Spiegel“: „Wir haben versagt.“

Geschäft mit der Gewalt

Wie die Erfahrungen in den USA bisher zeigten, wurde das Geschäft mit der Gewalt durch Massaker in den Schulen, durch wissenschaftliche und öffentliche Kritik nicht gestoppt, denn die Macht der Medienindustrie ist politisch wie gesellschaftlich strukturell etabliert. Wollen oder haben wir amerikanische Verhältnisse? Wir befinden uns in einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der sich neue Gewaltpotentiale auftun. Die Medien liefern hierzu einen entscheidenden Beitrag.


Dr. Werner Hopf ist Autor des soeben erschienenen Buches
„Bilderfluten“, Care-Line Verlag, Neuried,
ein Praxishandbuch zur Medienerziehung.
ISBN 3-932849-62-0, 17.80 Euro

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