Interview mit Friedrich Voß, Chef von SFB 4 Multikulti
In unserer Titelgeschichte 3/99 „Angebote zur Integration?“ haben wir in dem Bericht über die muttersprachlichen Angebote der ARD die SFB 4 Multikulti-Welle nur recht kurz gestreift – zu kurz nach dem Verständnis einiger Leserinnen und Leser, die mehr über die Erfahrungen, das Selbstverständnis und das besondere Angebot dieser Welle wissen wollten. Deshalb haben wir nochmal nachgefragt: für „M“ sprach Günter Herkel mit Friedrich Voß, dem Wellenchef von SFB 4 Multikulti.
Wie lautet Ihre Zwischenbilanz nach knapp fünf Jahren SFB 4 Multikulti?
Voß: SFB Multikulti hat als Modellversuch in einer dreijährigen Try-and-error-Phase seinen Weg gefunden. Inzwischen sind wir ein normales Regelprogramm geworden und können das umsetzen, was wir in dieser Modellversuchsphase probiert haben. Nämlich ein Radio anzubieten in einer kosmopolitischen Stadt wie Berlin, in der 440000 Migranten aus 184 Nationen leben.
Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?
Wir verfolgen vor allem drei Ziele: Erstens wollen wir durch muttersprachliche Sendungen zur Sicherung und Wahrung der kulturellen Identität dieser Menschen beitragen; zweitens wollen wir als öffentlich-rechtliches Programm seriös informieren, und zwar ergänzt um die Anteile Service und Orientierungshilfe, die für die hiesigen Migrantengruppen besonders wichtig sind; drittens haben wir einen Integrationsauftrag.
Sie wagen den ungewöhnlichen Spagat zwischen einem deutschsprachigen Tagesbgleitprogramm und einem Zielgruppenprogramm …
Wir haben eine eher verrückte Radioform gewählt. In der Tagesbegleitung greifen wir in umgangssprachlichem Deutsch für alle, die deutsch sprechen, die genannten Themen auf. Dazu kommen zielgruppenspezifische Programme für Ausländer in insgesamt 18 Sprachen. Wesentliches und nicht zu unterschätzendes drittes Merkmal ist unsere spezielle Musikfarbe: die Weltmusik fungiert als Brücke zwischen den Kulturen.
Wie steht es um die Resonanz bei den Zielgruppen?
Integration ist leider keine meßbare Größe. Wir wünschen uns alle handfeste Zahlen, doch die gibt es nirgends. Aber – so stellen wir bei Diskussionen in der Stadt fest – unser Radio wird sehr gut angenommen und trägt viel dazu bei, daß die hier lebenden Migrantengruppen sich zu Hause fühlen. Das gilt nicht nur für unsere türkischsprachigen Angebote, sondern auch für die in den osteuropäischen Sprachen Russisch und Polnisch, die wir jetzt haben. Damit wird Fremdheit abgebaut und zugleich der Versuch gemacht, auf die Stärken der unterschiedlichen Kulturen hinzuweisen.
SFB 4 Multikulti hat bei der Hörermessung mit spezifischen Handikaps zu kämpfen. Da ist zum einen der absurde Umstand, daß bei Media-Analysen Ausländer gar nicht mitgezählt werden …
Das ist ein ganz großes Problem. Unserer Erfahrung nach verteilen sich unsere Hörer zu 60 Prozent auf Ausländer und zu 40 Prozent auf Deutsche. Wenn der ausländische Anteil nicht berücksichtigt wird, ergibt die MA ein völlig verzerrtes Bild. Da knacken wir schwer dran, denn wenn da nicht drauf hingewiesen wird, erscheinen wir immer als ein Sender mit marginaler Quote. Tatsächlich erreichen wir unter Einschluß der ausländischen Hörer sicherlich die Quote einer normalen öffentlich-rechtlichen Kulturwelle.
… zum anderen die unbefriedigende Frequenzsituation …
Unsere UKW-Frequenz 106,8 MHz ist zwar vor einem Jahr in der Stärke verdoppelt worden. Sie ist aber immer noch so schwach, daß sie nicht vergleichbar ist mit den starken Frequenzen in der Stadt. Wenn die Kulturwellen zusammengelegt werden, erhoffe ich mir für Multikulti im Herbst oder im nächsten Jahr eine der starken SFB-Frequenzen. Wir sind im Moment im Kabel, auf UKW, auf Mittelwelle, auf Astra und im Internet zu hören. In diesem geballten Angebot bekommt man doch sehr unterschiedliche Hörerreaktionen.
Wie geht Multikulti mit Konfliktthemen wie der Kurdenfrage oder dem Kosovo-Krieg journalistisch um?
Diese Konfliktstoffe, die ja angelegt sind in dem Nationalitätenkonflikt, haben mir, als wir die Welle geplant haben, große Bauchschmerzen bereitet, das sag ich ganz offen. Im Laufe der Jahre haben wir aber festgestellt, daß die Kurden auch in der türkischen Sendung zuhören, daß gemeinsame Sendungen gemacht werden. Auf jeden Fall herrscht dort eine wechselseitige Akzeptanz, die nicht so selbstveständlich ist. In dem Fall Öcalan war es so. Das war phantastisch: Vor der türkischen Redaktion standen Bodyguards und drei Türen weiter saß der kurdische Kollege, der auf seine Art natürlich bemüht war, diesen Konflikt in der Stadt runterzuspielen und zu helfen, diese hochgefahrene Stimmung ein wenig zu befrieden. In dieser Situation haben beide Redaktionen sehr sinnvolle integrative Arbeit geleistet.
Das dürfte im Fall Kosovo um einiges schwieriger sein…
Die serbische Redaktion hier im Hause versucht, sehr objektiv und professionell damit umzugehen, übrigens auch Milosevic-kritisch, jedenfalls journalistisch nicht einseitig. Und in der albanischen Redaktion ist es ebenso. Es geht also nicht um Schuldzuweisungen und überzogene Kampfbeiträge, sondern es sind vor allen Dingen Beiträge, die helfen, den Krieg zu verstehen, wenn er denn zu verstehen ist. Daneben geht es auch um Service- und Orientierungshilfe für diejenigen, die in diese Stadt kommen. Als die ersten Kosovo-Albaner kamen, haben wir für sie ganz spontan jeden Abend eine viertelstündige Zusatzsendung auf Albanisch ins Programm genommen. Da informieren wir gemeinsam mit der Ausländerbeauftragten Barbara John über Aufenthaltsstatus, über Gesundheitschecks, über Moscheen und Schulprobleme. Also konkrete Hilfestellungen für die Kosovo-Flüchtlinge, die im serbischen wie im albanischen Programm laufen.
Stichwort Funkhaus Europa. Wieso war es bislang nicht möglich, ARD-weit ein solches Ausländerprogramm auf den Weg zu bringen?
Bei den fast vierjährigen Beratungen von ARD-Arbeitsgruppen über die Gründung eines bundesweiten interkulturellen Radios wurde deutlich, daß die Interessen der Anstalten sehr unterschiedlich waren. Jetzt versucht der WDR im Alleingang mit seinem Funkhaus Europa das umzusetzen, was in den Arbeitsgruppen damals nicht möglich war und was wir als Pioniere seit fast fünf Jahren bereits machen.
Es ist natürlich weiterhin unser Wunsch, ein bundesweites interkulturelles Radioprogramm anzubieten. Das stößt aber an Grenzen Wir haben festgestellt, daß zumindest in den femdsprachlichen Programmen die regionale und lokal orientierte Berichterstattung besonders wichtig ist. Deshalb machen wir zum Beispiel auch zwei unterschiedliche Russisch- und Polnisch-Sendungen: eine für die ARD, eine für unser Berliner Klientel. Es wäre nicht nachvollziehbar gewesen, wenn wir mit unserem ARD-Angebot plötzlich hier die Berliner Interessen vernachlässigt hätten. Also: ein Funkhaus Europa macht Sinn, wenn wir alle mitmachen, aber dann mit regionalen Fenstern, die auch die Interessen der jeweils sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der Migrantengruppen treffen.
Wie klappt die Kooperation zwischen SFB 4 Multikulti und den Kollegen vom WDR-„Funkhaus Europa“?
Wir sind ja mit rund zehn Stunden Programmzulieferungen am Funkhaus Europa beteiligt. Dabei handelt es sich um die Nachtschiene von 22 bis 6 Uhr, außerdem wochentäglich zwei Stunden ein Wort-Musik-Magazin „Meridian“. Samstags liefern wir das „Frühmagazin“ und am Wochenende noch ein Jugendprogramm sowie einen Weltmusik-Konzertmitschnitt. Also ich denke, auf dieser Ebene ist die Kooperation sehr weitläufig. Was mich besonders freut: wir übernehmen auch schon kleine Programmanteile des WDR in unserem Programm. Das gilt im Moment zwar nur für die Musikschiene, aber ich hoffe, daß sich das ausweiten läßt.
Multikulti hat fast fünf Jahre Pionierarbeit geleistet. Was geben Sie den WDR-Kollegen vom Funkhaus Europa mit auf den Weg? Die Kollegen im WDR bringen bereits eine Menge Erfahrungen aus fast 30 Jahren Gastarbeitersendungen mit: Was den „anderen Blick“ angeht, den Umgang mit einer bikulturellen Sozialisation, sind wie uns voraus.Für uns war es nicht leicht, gemeinsam mit fremdsprachigen und deuschen Kollegen eine Welle zu bauen. Anfangs hat man doch sehr nebeneinanderher gearbeitet. Heute ist es selbstverständlich, daß etwa der polnische Kollege im deutschen Programm nicht nur moderiert, sondern auch kommentiert. Und daß der deutsche Kollege auch in der russischen Redaktion um Rat gefragt wird.
Zweitens plädiere ich dafür, die Musik wirklich ernst zu nehmen. Die Musik sollte nicht nur als ein unumgängliches Füllsel benutzt, sondern als ein integrativer, auch inhaltlicher Bestandteil der Welle begriffen werden. Ich halte es zunehmend für außerordentlich wichtig in einem solchen Programm, wegzukommen von der Problemorientierung, wegzukommen von der Moral und ein normales Programm zu machen. Ein Programm, das sich über Zielgruppensendungen, aber auch über die Musikfarbe definiert. Wir spiegeln in unserem Programm den vorhandenen multikulturellen Alltag Berlins wider. Dazu gehören Probleme, aber auch unglaublich viele kulturelle Positiva. Das ist die Quintessenz von fast fünf Jahren Programmarbeit bei SFB 4 Multikulti.